Indische Reisen. Ludwig Witzani

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Indische Reisen - Ludwig Witzani


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hatte und beschloss, weder in diesem Guesthouse noch in dieser Stadt zu übernachten, sondern, wenn möglich, noch am gleichen Abend in den wärmeren Süden aufzubrechen. Da ich aber nun schon mal in Delhi war, wollte ich mir aber doch mit Hilfe einer Rikscha mal schnell die Stadt ansehen.

      Inzwischen weiß ich natürlich, dass es drei Arten von Rikschafahrern in Indien gibt. Die erste und zahlreichste Gruppe ist von der abgezockten Truppe - ein Rikschafahrer dieser Sorte versteht kein Wort, fährt einen aber als Strafe dafür, dass man ihn geweckt hat, bis zur übernächsten Ecke um dann einen unverschämt hohen Rupienbetrag zu fordern. Die Rikschafahrer aus der zweiten Gruppe verstehen zwar auch nichts, besitzen aber Anstand und Berufsehre und fahren einen immerhin so lange um den Block, bis der vereinbarte Fahrpreis ungefähr abgefahren ist. Der dritten Gruppe - Rikschafahrern, die das Ziel verstehen, den Weg kennen und nachher nicht das Doppelte fordern - bin ich nur sehr selten begegnet, und wenn, dann waren es echte Leistungsträger, die nicht nur eine Fuhre, sondern auch noch eine Vollrasur im Angebot hatten. Mein Rikschafahrer gehörte zur zweiten Gruppe, er hatte nur genickt, kein Wort verstanden und war voll guten Willens mit mir einfach über eine Brücke gefahren, und weil das so viele taten, saßen wir plötzlich fest. Es wurde gedrängt, geschoben und geschimpft, doch es ging nur noch halbmeterweise weiter, bis ich meinen Rikschafahrer entnervt bezahlte, zu Fuß wieder zurückging und dabei die gleichen Leute noch einmal von der anderen Seite begrüßen durfte.

      Aber aufgeben wollte ich noch lange nicht. Immerhin hatte ich ein Jahr vor dieser Reise mit einem Dreizylinder die Sahara durchquert, da musste es doch möglich sein, wenigstens zu Fuß die Altstadt von Delhi zu erkunden. Es stellte sich aber heraus, dass es in der Altstadt von Delhi erheblich turbulenter zugeht als in der Sahara. Ehe ich mich versah, war ich zum Teil einer gewaltigen Woge aus drängenden, stoßenden, schwitzenden Leibern geworden, die mich durch die Straßen trieb, ich war zu einem humanen Partikel regrediert, zum hilflosen Element eines menschlichen Strudels, der mich mit unüberwindbarer Kraft in Richtung auf ein Zentrum schob, von dem ich ahnte, dass es der Platz sein musste, an dem sich alle diese Menschenströme treffen würden. Dieses Zentrum war das Basarviertel Chandni Chowk, und was ich hier sah, gab mir den Rest. Wie ein Menetekel des indischen Lebens wirkte der große Geflügelmarkt, auf dem sich tagtäglich das größte öffentliche Massaker an Lebendigem ereignet, das es auf der Welt zu sehen gibt. Lachend fingerten die Geflügelhändler im Zehnsekundenrhythmus in den überfüllten Käfigen nach einem Huhn, um ihm ritsch-ratsch den Kopf abzuschneiden und den noch flatternden Lebensrest an die Schwestern zum Rupfen und Kochen weiterzugeben. Wahrlich kein gutes Land für Hühner, die noch lebend aber ohne Kopf vor meinen Augen verendeten. Heute weiß ich, dass hinter der nächsten Ecke die Jainas, die Angehörigen einer extrem pazifistischen indischen Religion, darauf warten, alle bedrohten Tiere und somit auch die wenigen Hühner, die dem Gemetzel entkommen, aufzunehmen und in ihrem großzügigen Tierhospital wieder gesund zu pflegen. Aber das ist eine andere Geschichte.

      Während das Blut der Hühner in hohem Bogen über die Straße spritzte, erhob sich über dieser Hölle der Menschen und der Tiere wie für die Ewigkeit geschaffen im Morgennebel des 24. Dezember die großartige Freitagsmoschee von Delhi, ein Gebäude wie aus den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht entsprungen. Als wäre ich unvermittelt von einem Horrorfilm in eine Kulturdoku gewechselt, durchschritt ich das gewaltige Eingangstor und erblickte die herrliche Kuppel des Hauptgebäudes, das von schlanken Minaretten an den Seiten flankiert war. Dass ich in diesem Augenblick tatsächlich glaubte, mich einfach in eine Ecke setzen und die Erhabenheit des Ortes auf mich wirken lassen zu können, zeigte nur, was für ein Greenhorn ich noch war. Denn kaum hatte ich mich in eine ruhige Ecke gesetzt, um mich ein wenig zu sammeln, überfiel mich schon die erste Schleppergruppe, die sich mit ihren Halunkengesichtern und mit wichtigtuerischem Gehabe als Mitglieder der Fremdenführergilde vorstellte, deren vornehmste Aufgabe offenbar darin bestand, an diesem heiligen Ort jeden Touristen erst einmal kräftig abzukassieren. Von der großen Freitagsmoschee, das stellte sich schnell heraus, hatten sie keine Ahnung. Sie wussten nur, dass man hier zu allen Tageszeiten allein reisende Touristen so lange nerven kann, bis sie kapitulierten und einige Rupienscheine herausrückten. Verstört und verbittert wie ich war, wollte ich aber keinen Rupienschein herausrücken, so dass ich schließlich mit einer ganzen Horde nörgelnder und schimpfender Schlepper durch die Moschee lief und meinen Verfolgern erst entkam, als ich die Moschee verließ und in einen Hindutempel eindrang.

      Hier war es aber auch nicht besser. Der Tempelpriester, der Brahmane, blickte mich strafend an und wollte erst einmal eine Spende sehen, und erst als ich ein paar Rupien abdrückte, durfte ich mich auf eine Stufe setzen und die indische Götterwelt auf mich wirken lassen. Der indische Gott, das ergab schon der erste Augenschein, war eine spektakuläre und farbenfrohe Erscheinung von ungeheurer Betriebsamkeit. Er hat eigentlich immer etwas zu tun, mal rettet er die Welt wie Vishnu, oder er tanzt wie Shiva, lacht wie Ganesha oder fletscht die Zähne wie die schreckliche Durga. In ihren irdischen Erscheinungen verfügten sie über tadellose Körper, was mir vor allem an den indischen Göttinnen auffiel, die sich in keinem Freibad zu verstecken brauchten. Auch die Zahl ihrer Arme und Köpfe war beachtlich, manche besaßen Flügel, andere benutzten Tiere als Fluguntersätze, manche schwangen Schwerter und Speere, wieder andere verhedderten sich mit ihren Gliedern derart in ihren Begleiterinnen, dass man nicht recht, wusste, wo der Gott aufhörte und die Göttin anfing.

      Natürlich sehen die Hindus gerade in dieser Vielfalt ihrer Götter einen der größten Vorzüge ihrer Religion. Die unübersehbare Schar der Göttergestalten, so habe ich es später oft von gebildeten Indern gehört, sei nichts weiter als ein Zugeständnis an die begrenzte Aufnahmefähigkeit des Menschen. In Wahrheit stehe hinter all diesen Erscheinungen immer nur der gleiche Gott. In diesem Sinne verkörpern Vishnu und Shiva die höchsten Prinzipien des Hinduismus, wobei Vishnu der Erhalter als die makellosere Göttergestalt erscheint, als eine Figur, die die Welt in seinen bisherigen neun Inkarnationen immer neu gerettet hat und sie in der abschließenden zehnten für alle Zeiten erlösen wird - während Shiva als wilder Tänzer und Zerstörer schon zahlreiche Missetaten auf dem Kerbholz hat und immer wieder neu entsühnt werden muss.

      All das wusste ich damals natürlich noch nicht, mein protestantisches Gemüt war stark befremdet, meine Nase tropfte, und mein Magen knurrte, als ich den Tempel verließ und durch die Straßen irrte. Ratten huschten durch die Hauseingänge, ein Kamel zog mit einem großen Karren voller Ziegel an mir vorüber, und auf den Fenstersimsen saßen zwei Affen und blickten versonnen auf das Menschengewühl. Rinder trotteten durch die Gassen, Krähen schrien, Hunde bellten, und langsam dämmerte mir, dass die indische Stadt eine Art Säugetierzentrum ist, in der sich ein großer Teil der Tierwelt in der unmittelbaren Nähe des Menschen niedergelassen hat. An der Spitze dieser Säugetier-Verwandtschaft befindet sich in Indien natürlich seit urarischen Zeiten die heilige Kuh, die mit ihren fünf heiligen Produkten - Butter, Milch, Joghurt, Dung und Urin - die indische Großstadt mit der Aura des dörflichen Lebens anreichert. Wohin ich auch kam, überall waren sie schon da: Kühe standen in den Toreinfahrten und blickt mich nachsichtig an, Kühe lagen mitten auf der Straße und verließen sich darauf, dass die Motorrikschas schon um sie herumkurven würden, sie knabberten an dem Gemüse, das der Garküchenkoch für seine Gäste bereithielt und durchforschten die Abfallhaufen an den Straßenrändern. Erst auf einer sehr viel späteren Indienreise sollte ich erkennen, worin das sechste Geschenk der heiligen Kuh an die indische Moderne bestand. Wo wir in unseren Breitengraden mühsam Bodenwellen als Verkehrsberuhigung errichten müssen, die nebenbei bemerkt, keinerlei Milch oder Joghurt spenden, wirkte die indische Kuh inmitten des tosenden Verkehrs wie ein segensreiches Element der Verkehrsberuhigung.

      Inzwischen war ich in der Nähe der Yamuna angekommen und erblickte zum ersten Mal in meinem Leben jene merkwürdigen Gestalten, die wie bei einem hemmungslosen Aggressionsabfuhrtraining nasse Textilien mit maximaler Wucht auf runde Steine knallten. Ohne es geplant zu haben, war ich zum ersten Mal den Dhobiwallahs begegnet, die in ihrer unnachahmlichen Technik den Dreck aus den Sachen prügeln und dafür sorgen, dass das durchschnittliche, mehrfach gewaschene indische Hemd nur über sehr wenig Knöpfe verfügt und nur ganz selten wirklich staubfrei trocken werden kann.

      In Indien aber gab es an diesem Tag für mich nicht nur viel zu staunen, ich wurde auch selbst ausgiebig bestaunt. Einen allein reisenden Tourie sieht der Normalinder nicht alle Tage, so dass sich, wohin ich mich auch bewegte,


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