Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig

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Crazy Zeiten - 1975 etc. - Stefan Koenig


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Meinung nicht weniger potentieller Leser gestoßen bin, die sagten: „Ach, die Sechziger! Ach, die Siebziger – sehr schön, aber das war nicht meine Zeit. Ich bin ein Kind der Achtziger Jahre.“

      „Ach“, antworte ich dann, „Sie lesen also auch nur Krimis, wo Sie beim Mord und der Aufklärung persönlich dabei waren?“ Viele verstehen diese Anspielung, lachen und geben mir Recht: „Ja, die Zeit davor könnte mich schon interessieren.“

      Einige aber verstehen meine Anspielung nicht, selbst wenn ich sie bis zum Grund des San Andreas Graben vertiefte. Immerhin ist der 30 bis 45 Kilometer tief. Sie wollen auf Teufel komm‘ raus nur über „ihre“ Zeit lesen. Am liebsten wäre es ihnen, sie kämen persönlich darin vor. Aber das kann ich dann doch nicht bieten.

      Dann gibt es da noch meine Spezies, Freunde und enge Bekannte aus den frühen Jahren, die müde abwinken, wenn ich von meinem Buch erzähle. „Ach, Stefan“, sagen sie, „alter Kram, kenn ich doch alles, brauch ich nicht nochmal.“

      Wenn sie dann doch irgendwann zu dem Roman gegriffen und ein paar Seiten gelesen haben, können sie nicht mehr aufhören, und zum Schluss rufen sie mich an und sagen: „Mensch Meier, da ist ja wieder alles vor mir auferstanden aus dem trüben Schleier des Vergessens und Verdrängens. Mann, wie viel hat sich doch verändert! Und trotzdem – verdammt viele Knackpunkte sind immer noch die gleichen wie damals!“

      „Und jetzt“, so frage ich sie dann, „was machst du jetzt damit?“

      „Ich gebe es meinen Enkeln, die haben doch keinen blassen Schimmer von diesen Zeiten.“

      „Sehr gut“, sage ich zu meinen Oldies, „gut so.“

      Und an diesen Abenden kann ich irgendwie sehr beruhigt einschlafen. Man gibt es an die Enkel zum Lesen. Sie müssen die Geschichte wissen.

      Und wir müssen die Geschichte erzählen.

      Wer, wenn nicht wir?

      Unter

      dem

      Pflaster

      liegt

      der

      Strand

      Für Boris, Kai und Jo

      1974 - Zurück nach Berlin & Geld regiert die Welt

      Ich war erschöpft. Das plötzliche Verschwinden von Svea hatte mich geschafft. Normalerweise säße sie jetzt hier, um mit uns nach Berlin zu fliegen. Dort wartete eine Suchttherapie auf sie. Wir, ihre vier Freunde, hatten alles mühsam vorbereitet. Aber dann war sie in letzter Minute ausgebüxt. Und nun hatte sich auch noch unsere Abflugzeit verschoben. Pünktlich um 12:45 Uhr sollte unsere Maschine nach Berlin abfliegen. Morgen könnten wir meinen 24. Geburtstag im Berliner »Zwiebelfisch« feiern. Das war der Plan.

      Wie jetzt die Anzeigetafel und die Ansage in der Halle des Flughafens von Marrakesch verkündeten, würde Lufthansa-Flug 3342 erst in den späten Abendstunden fliegen. Uhrzeit ungewiss. Abflug nach Ansage. Wir waren schon eingecheckt und konnten nicht zurück in die Stadt, um uns dort die Zeit zu vertreiben oder um Stella und ihren beiden Liebhabern bei der Suche nach Svea behilflich zu sein. Unsere ganze Hoffnung lag bei Stella, der blonden Schwedin, und bei den beiden Dänen Jan-Stellan und Leif. Vielleicht würden sie Svea finden und in den nächsten Flieger setzen. Es ging um Leben oder Tod. Svea spritzte sich Heroin. Ich hatte sie dabei ertappt.

      Jetzt saßen wir hier bei brütender Hitze fest.

      Heute vor einem Jahr, am 11. September 1973, hatte die CIA mithilfe von vierzehn chilenischen Generälen den Präsidenten und die Demokratie dieses Landes ermordet. Ich hatte hierzu noch einen Rückblick für »die tat«, eine Zeitschrift der Verfolgten des Naziregimes, zu schreiben. Daran musste ich jetzt denken. Ich würde das in Berlin ruckzuck erledigen. Erstmal nachhause kommen.

      Meine Liebste hatte bei Reisen immer ein Kartenspiel bei sich. „Doro“, sagte ich, „lass uns Doppelkopf spielen.“ Ich schaute zu Quiny und Wolle, und beide nickten zustimmend.

      So saßen wir vier Freunde stundenlang auf dem Boden auf einem schattigen Plätzchen, neben uns immer ein Glas marokkanischen Tees. Eigentlich hasse ich Doppelkopf, Schafkopf und Skat, doch in der größten Not, wenn kein Buch zur Verfügung steht, lasse ich mich auch darauf ein.

      Im Schatten des Betongebäudes ließ es sich aushalten. Aber in der Nähe der benachbarten Fenster, wo die Sitzreihen für die Fluggäste standen, brannten sich die einfallenden Sonnenstrahlen durch die Haut und versuchten Grillfleisch aus den Wartenden zu machen. Mein Körper schrie nach eisgekühltem Cola oder Wasser.

      „Die Marokkaner trinken alle warmen Tee und selten kalte Cola bei dieser Affenhitze“, sagte Doro. „Das wird schon seinen Grund haben.“

      Es war ein äußerst quälender Nachmittag. Dem folgte ein äußerst quälender Abend. Wolle kam am späten Abend als Erster auf die Idee, jetzt endlich ein kühles Bier zu bestellen. Quiny und Doro stimmten freudig zu, und selbst ich, der ich in jenen Jahren dem Bier noch nichts abgewinnen konnte, lechzte förmlich nach einem kühlen Blonden. Vielleicht lag das, was jetzt kam, genau daran.

      Um 21:15 Uhr ertönte endlich die erlösende Durchsage. Unser Flug würde um 0:10 Uhr starten. Die Wartezeit war nun absehbar. Wir könnten beim Abflug mit einer Dose Bordbier auf meinen Geburtstag anstoßen, meinte Doro.

      Eine viertel Stunde vor Mitternacht machte ich es mir auf Fensterplatz Nr. 7A von Lufthansa-Flug 3342, Marrakesch – Berlin, bequem. In der Dreier-Reihe neben mir saßen Doro und Quiny, und genau im Gang vor mir saß Wolle.

      Ich gähnte. Ein leichter Anflug von Kopfschmerz kletterte, bewaffnet mit Steigeisen und Pickel, meinen Nacken empor. Ich hatte so gut wie nie Kopfschmerzen. Ich erinnerte mich an diesen ziehenden Schmerz nur in Verbindung mit frühen Kindheitszeiten, als ich nach der Schule gelegentlich mit den Hausaufgaben nicht zurechtkam. Migräne kannte ich bis dahin nicht einmal vom Hörensagen.

      Genau jetzt, als die nervliche Anstrengung nachließ, kam etwas angekrochen, was mir unbekannt war. Ich befürchtete, wenn ich nicht bald einschliefe, sauste es wie ein Schmiedehammer auf mich herab. Ich erinnerte mich an Quinys Worte von vorhin, als unser Gepäck zur Verladung kam. „Wenn ich heute bei dieser Hitze und der Anstrengung keine Migräne bekomme, wäre das ein Wunder.“

      „Rede es nicht herbei“, hatte Wolle geraten.

      Aber Quiny hatte entrüstet geantwortet: „Das hat nichts mit herbeireden zu tun. Es kommt bei nervlicher und körperlicher Anspannung manchmal über mich wie ein Schmiedehammer! Da kann ich nichts dagegen tun!“

      Jetzt also traf vielleicht mich der Schmiedehammer. „Wahrscheinlich mache ich heute Bekanntschaft mit Madame Migraine“, sagte ich halblaut und betonte das französische „Migraine“, wie es mein Vater betont hätte, womit er gelegentlich an unsere hugenottische Abstammung erinnerte.

      Meine Augen fielen zu.

      In zwanzig Minuten würde die Boeing 757-300 abheben. Ich wollte mich entspannen. Wolle beugte sich jetzt über die Sessellehne nach hinten, um mich nach meinem Wohlbefinden zu fragen.

      „Kara?“

       Nett, dass du mich bei meinem alten Spitznamen nennst. Aber: Verdammte Kacke, lass mich in Frieden! Nicht mehr reden, bitte!

      „Ach, du schlummerst schon ein wenig?“

      „Hm, hm.“ Bleib bloß still! Kein weiteres Wort!

      „Möchtest du mein Kissen?“ fragte er mit kuscheligen Worten.

      Ich schüttelte den Kopf. „Mhm, mhm.“ Lass mich einfach in Ruhe, du musst doch sehen, dass ich an der Grenze bin, dachte ich und stöhnte noch einmal. „Mhm, mhm.“

      „Wenn es dir nicht gut geht, sag es mir, ich besorge eine Migräne-Tablette bei der Stewardess.“


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