Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.sah Tommi an.
„Ohje ohje, Sie sehen übel aus. Am besten nehme ich gleich einen Schluck Klosterfrau Melissengeist.“
Das Gesöff grassierte damals unter den kleinen Gewerkschaftsbossen, wenn sie in den Betrieben nicht allzu offen als Alkoholiker erkannt werden wollten. Die Typen waren allesamt weiter rechts als die rechten Sozialdemokraten, die ihren Rechtsdrall mit dem aus ihrer Sicht nötigen Antikommunismus begründeten.
Und tatsächlich, er machte ein Fläschchen auf und nahm einen kräftigen Schluck. Es roch allerdings nach billigem Weinbrand.
„Also gut, Herr Lettau, wir hätten gerne gewusst, wo Sie die letzten beiden Tage gewesen sind.“
„Ich habe getrauert.“
„Getrauert? Worüber getrauert? Dass man sie nicht zum Oberamtmann befördert?“
„Beerdigung. Meine Großmutter. Einen Tag hinfahren zur Trauerfeier. Einen Tag Rückfahrt mit Nachtrauer.“
„Aber Sie haben hier nicht einmal angerufen, mein Wertester!“
„Stimmt.“
„Und ich will Ihnen mal was sagen, Lettau, und das bleibt unter uns.“
„Bitte.“
„Wenn Sie nicht anrufen, dann wissen Sie, was Sie damit ausdrücken?“
„Hm. Weiß nicht.“
„Damit sagen Sie: »Ich scheiße auf den Kollegen Beckstein und auf die Deutsche Post!« Tja!“
„Glauben Sie?“
„Und, Herr Lettau, Sie wissen auch, was das heißt?“
„Nein, was heißt das denn?“
Er beugte sich über seinen schweren Schreibtisch, wobei einige Gewerkschaftszeitungen zu Boden flatterten, und kam Tommi ganz nahe: „Das bedeutet, dass die Post auf Sie scheißen wird!“
Dann lehnte er sich genüsslich zurück und schaute Tommi an.
„Herr Schöll“, sagte Tommi zu ihm, „Sie und Ihr Herr Beckstein können mich mal.“
„Typisch linksradikal!“, sagte Schöll und erhob seine Stimme.
„Typisch rechtsradikal, und das als Gewerkschaftsfunktionär! Arbeiterverräter!“
„Werden Sie jetzt nur nicht frech, Tommi! Ich kann Ihnen das Leben hier zur Hölle machen.“
„Nennen Sie mich bitte nicht Tommi. Das ist meinen Freunden vorbehalten. Wenn Sie sich an meinen Nachnamen erinnern, den Sie vor kurzem noch wussten, dann wäre es jenes Maß an Respekt, das ich von einem Gewerkschaftskollegen erwarte. Dass Sie mich mit Genosse anreden, erwarte ich dagegen nicht im Geringsten!“
„Sie wollen, dass ich Sie respektiere, aber …“
„So ist es. Wir wissen, wo Ihr Auto steht, Herr Schöll.“
„Wir? Wer ist ‚wir‘? Soll das eine Drohung sein?“
„Die Hausbesetzer lieben mich. Ich bringe ihnen gelegentlich Essen aus meiner WG.“
„Die Hausbesetzer lieben Sie?“
„Sie würden für mich alles besetzen, wenn ich Ihnen nur den dazugehörigen Parkplatz zeige. Genau neben Ihrem Wagen, verehrter Herr Schöll, habe ich übrigens meine Freundin vor einer Woche gepimpert.“
„Schon gut, schon gut. Wir kommen vom Thema ab. Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit zurück.“
Er gab Tommi eine Bescheinigung, dass er bei ihm gewesen war und dass alles seine Ordnung hatte. Er machte sich tatsächlich Sorgen, der arme Suffkopp. Es war verständlich. Einem dieser Oberaufpasser hatte man kürzlich Sekundenkleber in die Türschlösser seines PKW gespritzt. Einem anderen hatten sie von Neckermann irgendwelche unnützen Versanddinge zuschicken lassen, und einem völlig unausstehlichen Menschenschinder hatten sie nachts eine übergezogen.
„Mensch Tommi, das hätte ich dir als bekennendem Christ nicht zugetraut“, sagte Doro, während Tommi aufs Gas drückte, denn es war schon zwei Uhr morgens.
„Auge um Glasauge, Zahn um Gebiss!“ antwortete Tommi und lachte. Eine Viertelstunde später setzte er uns in der Lützenstraße ab. Kurz darauf lag ich mit Doro in unserem kuscheligen Bett. Ich war mir sicher, dass auch er schon bald mit seiner Rosi auf ihrem Matratzenlager liegen würde. Wahrscheinlich hielten sie es wie wir mit dieser Nacht – und füllten sie mit Liebe. Denn der Herr sprach: „Liebet euch!“
Der Herr schien aber auch zu sagen: „Die Kapitalistenklasse liebt die Diktatur des Kapitals und verachtet die Liebe!“ Zu dieser Überzeugung konnte man kommen, wenn man die tat las, deren Chefredakteur noch immer Emil Carlebach war, der ehemalige Vizepräsident des Internationalen Buchenwald-Komitees.
In ihrer aktuellsten Ausgabe erschien – quasi als Ergänzung zu meinem Rückblick auf den Putsch in Chile – eine vertrauliche Studie des Frankfurter Hoechst-Konzerns, der als führendes deutsches Chemieunternehmen in Chile mehrere Niederlassungen betrieb: „Der lang erwartete Eingriff des Militärs hat endlich stattgefunden.“ Und: „Die Regierung Allende hat das Ende gefunden, das sie verdiente.“
Das waren Kernsätze, die mich wütend machten. Nicht tausende, nein zigtausend Tote, die brutale Vergewaltigung der Demokratie, die Errichtung einer Militärdiktatur, die unverschämt offene Einflussnahme einer fremden nordamerikanischen Macht auf ein freies südamerikanisches Land, der Triumph illegitimer roher Gewalt – und das auch noch im Namen von „Recht und Freiheit“ – das brachte das Fass zum Überlaufen. Was ich las, ließ auch meinen Freunden die Haare zu Berge stehen: Am 17. September, gleich nach dem Putsch, hatte der Repräsentant von Chemica Hoechst Chile in Santiago an die wirtschaftspolitische Abteilung des deutschen Vorzeige-Konzerns einen achtseitigen Bericht „Betr.: Regierungswechsel in Chile“ geschickt.
Darin wird der blutige Putsch ausdrücklich begrüßt und geschildert: „Am 13. abends stand bereits einwandfrei fest, dass der Staatsstreich mit relativ geringen Verlusten an Material und Menschenleben – wir schätzen 2.000 bis 3.000 Tote – gelungen war. Wir sind überzeugt davon, dass sich Chile unter einer energischen, autoritären, intelligenten, nicht von Politikern, die nur ihren Parteiinteressen dienen, beeinflussten Führung, sehr bald erholen wird. Die Substanz des Volkes ist eine der besten Lateinamerikas, das hat auch der wirklich heroische Widerstand der Zivilbevölkerung – und ganz besonders der chilenischen Frau – gegen das marxistische Regime bewiesen.“
Gemeint waren die Töpfe schlagenden Frauen der Oberschicht, die es sich nicht nehmen ließen, wochenlang täglich mit ihrem Kochschlagzeug durch die wichtigsten Städte zu ziehen, um auf ihren angeblichen Hunger aufmerksam zu machen. Tatsächlich versuchten die Falken im Weißen Haus, das Wirtschaftsleben Chiles unter Allende zu erdrosseln, plumper Wirtschaftskrieg. Aber wenn eine Klasse darunter litt, dann gewiss nicht die Oberschicht, die mit Schwarzhandel dem Land zusätzlichen Schaden zufügte.
„Chile wird in Zukunft ein für Hoechster Standorte und Produkte noch interessanterer Markt sein“, schloss das vertrauliche Papier.
„Geld regiert die Welt“, sagte Doro. „Und deshalb müssen wir uns über das Geldsystem schlau machen.“
Der Herbst ging mit vielen politischen Vorlesungen, ökonomischen Seminaren und philosophischen Arbeitsgruppen ins Land. Doro und ich waren in diesen Dingen eins, eine unzertrennliche Einheit. Nur ihre Germanistik-Vorlesungen und Seminare ließ ich aus, während sie sich weigerte, die langweiligen Vorlesungen meines zukünftigen Abitur-Prüfers zu besuchen. Prof. Wagner hatte ich absichtlich nicht darüber aufgeklärt, dass ich lediglich so etwas wie ein Gasthörer war, denn ich studierte lediglich mit sogenannter »Kleiner Matrikel«. Meine Studienscheine würden mir nur anerkannt werden, wenn ich mich nach bestandener Begabtenprüfung mit »Großer Matrikel« einschreiben könnte.
Ich fühlte mich gelegentlich unwohl in dieser scheinbar unehrlichen Haut. Wie ein Spion. Aber das genau war ja meine Absicht gewesen: mich auf