Entfremdung und Heimkehr. Werner Boesen
Читать онлайн книгу.seine Welt, die Vorgesetzten, die Untergebenen, die Sozialarbeiter, die Erzieher. Wo bleiben die Kinder? Diese werden von den untersten Instanzen, den Erziehern, versorgt. Sie treffen auf Kinder, die superaktiv sind, zudem spontan, gefühlsbetont, egoistisch, unangepasst, wild, laut usw., Eigenschaften, die vielen Erwachsenen fremd geworden sind, bestenfalls mit Chaos vergleichbar. In diesem kindlichen Chaos müssen nun Erzieher Ordnung schaffen. Dies ist scheinbar nur möglich nach dem militärischen Grundsatz: Befehl und Gehorsam. Befehlen tun die Erzieher, zu gehorchen haben die Kinder. Und sind die Kinder nicht willig, wird Gewalt angewendet. Es hört ja niemand. Schließlich haben wir nicht umsonst hohe Mauern um uns herum. Und von Zeit zu Zeit überzeugen sich ja unsere Leitungsstellen, wenn auch nach Voranmeldung, von unseren „fröhlichen“ Kindern, die lustig singen und den Eindruck erwecken, als liebten sie die Ordnung über alles:
„Es ist … als ob wir mit Wissen und Willen Menschen werden sollten, die ‚Ordnung‘ brauchen und nichts als Ordnung, die nervös und feige werden, wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen Angepasstheit an diese Ordnung herausgerissen werden. Das die Welt nichts weiter als solche Ordnungsmenschen kennt - in dieser Entwicklung sind wir ohnedies begriffen, und die zentrale Frage ist also nicht, wie wir das noch weiter fördern und beschleunigen, sondern was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums frei zu halten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale“
(Weber 1924 S. 414).
Das schrieb der bekannte deutsche Soziologe Max Weber im Jahre 1924. Lang ist es her. Geschlossene Einrichtungen fördern den Ordnungsmenschen. Das hat sich schon mancher Staatspräsident zu Nutze gemacht. Kinder, denen nichts mehr bleibt, als auf das Belohnungspotential des Staates zu reagieren, da dieser der einzige ist, der noch in Aussicht stellt, in materieller „Wohlordnung“ zu leben. Kinder in geschlossenen Einrichtungen zu halten bedeutet Kinder in Käfigen zu halten. Ab und zu öffnet sich das Türchen: zum Kirchgang, zum Schulbesuch, zum Arztbesuch, zu den Eltern - sofern vorhanden -. Dann irgendwann die große Freiheit, mit der man zunächst kaum etwas anzufangen weiß. Es begegnen uns vielerlei Symptome oder Syndrome, Erlebnisse, die das ehemalige Heimkind zwangsweise an die frühere Käfighaltung erinnern. Viele sehnen sich unbewusst an die frühere Käfighaltung zurück, müssen dafür kriminell werden, um in den Erwachsenenkäfig zu kommen. Für manche ist dies eine heilsame Lehre, denn der Erwachsenenkäfig bietet doch nicht das, was der Kinderkäfig bot. Und was ist jedoch, wenn sich der Erwachsenenkäfig als der „bessere“ darstellt? Da haben wir ihn dann wieder: den Teufelskreis.
Geschlossene Einrichtungen für Kinder gehören verboten.
Welche Alternativen - außer Pflegeeltern - es gibt, habe ich in meinem Erstlingswerk festgehalten, das jedoch nicht mehr verlegt wurde (Bösen 1990 S. 243). Inzwischen gibt es genügend andere Fachliteratur, die sich mit alternativen Erziehungsoptionen beschäftigen.
4.3. Die politische Verantwortungskette
Meine Forderung nach einem Verbot geschlossener Einrichtungen für Kinder nährte Hoffnungen in mir, als im Jahre 2008 die Bundestagskommission „Runder Tisch Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“ ins Leben gerufen wurde. Doch meine Hoffnungen zerfielen als ich den Abschlussbericht dieser Bundestagskommission zu lesen bekam. Denn es wurde keineswegs thematisiert, dass Kinderheime abzuschaffen sind, sondern die durch die Heimerziehung bedingten Fehler zu bekämpfen sind. Kraft getroffener Feststellungen über begangenes Unrecht blieb den betreffenden verantwortlichen Trägern von Heimeinrichtungen, vornehmlich den Nachfolgeeinrichtungen, das Anerkenntnis der Schuld ihrer Vorgänger mit der Bitte um Vergebung.
Während sich die staatlich geführten Heime auf das gesetzliche Verjährungsrecht beriefen, gab es dazu im christlichen Sinne keine biblische Grundlage, da die Bibel für Christi Lehre keine Verjährung kennt, sondern nur die Vergebung nach Bekundung von Reue. Der Runde Tisch, politisch um Schadensbegrenzung bemüht, legte dennoch ein finanzielles Hilfsprogramm auf. Es kam für mich nicht in Frage, denn ich brauchte es nicht mehr. Es blieb in mir der seelische Schaden, der durch Geld von Täterorganisationen nicht wieder gut zu machen ist. Nachdem ich dann zur Kenntnis nahm, dass die Schuldfrage nicht zentral klärbar ist und auf das Verantwortungsprinzip abgestellt wurde mit vielen Verantwortlichkeiten, wurde mir persönlich klar, dass ich meine seelische Heilung nur mit meinen eigenen Mitteln und der Liebe meiner Nächsten voranbringen kann.
Es bleibt in der Politik im Schadensfalle eine Zielsetzung quasi als ungeschriebenes Gesetz bestehen, und zwar Verantwortung auf viele Schultern zu verteilen, um letztlich niemanden mehr persönlich haftbar zu machen.
Im Abschlussbericht der Bundestagskommission finden sich die folgenden Verantwortlichkeiten, auch als Verantwortungskette bezeichnet (RTH2010 S. 29/30):
Eltern, …
Vormünder und Pfleger, …
Jugendämter, …
Landesjugendämter, …
Vormundschaftsgerichte,…
Träger der Einrichtungen, …
Heimleitung und Heimpersonal, …
Verantwortliche für Rechtsetzung und –anwendung, …
die Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik Deutschland…
Verwandte, Nachbarn, Lehrer und andere, die über Anzeigen beim Jugendamt die Heimerziehung anregten …
gesamtgesellschaftliche Verantwortung …
Abbildung 3: Die Verantwortungskette, die Verteilung der Verantwortung auf viele Schultern
Es ist ganz offensichtlich, dass kein Interesse seitens politischer Vertreter besteht, jemanden persönlich in die Verantwortung zu nehmen. Die Ereignisse liegen zeitlich zu lange zurück, sind juristisch verjährt. Zudem sind die meisten Erzieher/innen aus den 1950er und 1960er Jahren inzwischen verstorben oder selbst zu altersschwach, um zur Verantwortung gezogen zu werden. Es bleibt damit nur noch die finanzielle Möglichkeit und bei fortbestehender seelischer Erkrankung die Nutzung des gesellschaftlichen Gesundheitssystems, begrenzt auf die kassenärztlichen Leistungen folgend der Schulmedizin sowie mögliche Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung auf Kurmaßnahmen zwecks Erhaltung der Arbeitskraft. Letzteres wirkte für mich sehr positiv, da Träger von Rentenversicherungsmaßnahmen auch losgelöst von der Schulmedizin Leistungen anbieten, je nach Freiheitsgrad der verantwortenden Mediziner und Psychotherapeuten.
Die Begrenzung der Aufarbeitung auf die 1950er und 1960er Jahre hatte zudem für die politischen Instanzen den Vorteil, das System der Kinderheime nicht in Frage stellen zu müssen, denn die zeitliche Begrenzung auf die beiden Jahrzehnte suggeriert den Eindruck, dass die nachfolgenden Jahrzehnte keine Missstände mehr verursachten. Veröffentlichungen in der Presse bezeugten jedoch das Gegenteil und weiteten die Vorwürfe aus auf Internatseinrichtungen wie die Odenwaldschule und kirchlich geführte Internate. Für die Täter ist nun noch höhere Vorsicht geboten, die Bevölkerung ist offensichtlich sensibilisiert. Die Täter können auf Verjährung hoffen. Die o.a. Verantwortungskette bleibt intakt.
Doch die Verantwortungskette ist unvollständig, denn neben dem Heimkind selbst fehlt die Wissenschaft mit ihren besten Vertretern. Warum das Heimkind letztlich sich selbst verantwortlich ist, wird in den nachfolgenden Kapiteln erörtert.
Warum fehlen Wissenschaftler der einschlägigen Fachrichtungen wie der Heimpädagogik. Haben die Wissenschaftler nicht rechtzeitig auf die kindesverachtenden Erziehungsmethoden hingewiesen? Sind Wissenschaftler Menschen, die nur nach vorne schauen, die Zukunft zu deuten versuchen? Sind Wissenschaftler bezahlte und von der Politik eingekaufte Herrschaftsverbündete?
Viele dieser Fragen beschäftigten mich bereits als Heimkind und nun diese Feststellung zur Verantwortungskette. Wissenschaft bleibt außen vor und wird nur dann gerufen, wenn die Not geboren und für die „Herrscher“ unerträglich ist. Natürlich ist dies nicht so, doch es braucht die Interessensvertreter im wissenschaftlichen Kontext. Im folgenden Kapitel beschäftige ich mich