Der Redner. Edgar Wallace

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Der Redner - Edgar Wallace


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der Szene gewesen und glaubte nun wirklich, daß ich meinen Mann umgebracht hatte. Wäre ich nicht so verwirrt gewesen, und hätte ich ruhig nachgedacht, so hätte ich einen Arzt zugezogen und ihm die Wahrheit erzählt. Man hätte ja leicht nachweisen können, daß Eustace seit Jahren Arsen nahm. Aber in jenem Augenblick war ich außer mir vor Furcht und Entsetzen. Ich gab dem Mann Geld und schickte ihm später mehr. Sie können, sich nicht vorstellen, was ich in den Tagen der Gerichtsverhandlung durchmachte. Es gelang ihm, mir aus dem Gefängnis eine Nachricht zuzusenden, daß er mich anzeigen würde, wenn ich nicht für Freisprechung sorgte. Als seine Berufung verhandelt werden sollte, trieb mich meine wahnsinnige Angst dann schließlich zu jenem schrecklichen Versuch.

      Der Redner las den Brief zweimal, durch und warf ihn dann ins Feuer.

      Die Gedankenleser

      Es gibt keine Polizei auf der Welt, die einen wirklich intelligenten Verbrecher mit Erfolg bekämpfen könnte«, schrieb Len Witlon in einem Artikel, der in den hervorragendsten Zeitungen Amerikas erschien. »Man kann ihn unmöglich fassen, wenn er seine Pläne ernst und vorsichtig vorbereitet und sie rücksichtslos zur Ausführung bringt.«

      Len Witlon beherrschte fünf Sprachen und hatte Freunde und Verbündete in wenigstens einem Dutzend europäischer Gefängnisse. Er selbst war zwar schon in Untersuchungshaft gewesen, aber noch niemals verurteilt worden.

      In Paris konnte man ihn in der American Bar des Hotels Claridge und in anderen vornehmen Lokalen treffen. Gelegentlich machte er eine Kur in Vichy oder in Baden-Baden, auch besuchte er berühmte Moorbäder in der Tschechoslowakei. Er war eitel, trat sehr elegant auf und war ängstlich darauf bedacht, seinen Ruf als Kavalier zu wahren.

      »Um Einbrüche erfolgreich durchzuführen, muß man psychologisch denken können. Es genügt nicht, die drohenden Gefahren zu kennen, man muß vor allem auch die Gedankengänge der Gegner verstehen. Das ist das wichtigste bei solchen Unternehmungen. Der Erfolg kann auf die Dauer nur einem Mann treu bleiben, der ein tüchtiger Organisator ist und seinen Verbündeten unverbrüchliche Treue hält.«

      Chefinspektor Rater las diesen interessanten Artikel so oft durch, daß er ihn beinahe auswendig wußte. Er schnitt ihn auch aus und klebte ihn in ein Buch, um sich daran zu erinnern, wenn Len Witlon eines Tages seine Tätigkeit in England aufnehmen sollte.

      »Sagen Sie Ihrem Freund«, bemerkte er eines Tages zu einem Vertrauten des großen Verbrechers, »wenn er sich hier in London sehen läßt, stecken wir ihn ohne Gnade und Barmherzigkeit ins Loch. Dann findet er vierzehn Jahre lang keine Gelegenheit mehr, sich von Zeitungsleuten interviewen zu lassen.«

      Eines schönen Tages nahm Len diese Herausforderung an ...

      Gemächlich ging Polizist Simpson auf seinem Patrouillengang über den Burford Square zur Ecke der Canford Street. Er hatte sich für elf Uhr mit seinem Kollegen Harry verabredet, der den benachbarten Bezirk überwachte, um mit ihm die unterbrochene Unterhaltung über seinen Schwager fortzusetzen. Dieser Mann war nämlich nach Kanada gegangen und hatte seine Frau mit ihren drei Kindern einfach sitzenlassen.

      Ungefähr zu gleicher Zeit kamen die beiden am Treffpunkt an, und das interessante Thema wurde sofort wieder in Angriff genommen.

      »Ich habe meiner Schwester immer gesagt, daß sie eigentlich selbst daran schuld ist, und daß ...«

      Simpson brach ab, denn plötzlich gellten furchtbare Schreie durch die Stille der Nacht. Sie kamen aus einem dunklen Haus in der Nähe.

      »Mord ... Mord!«

      Die beiden Beamten eilten zu dem Gebäude, so schnell sie konnten. Auf den Stufen zu Nr. 95 stand ein junges Mädchen. In dem schwachen Schein einer entfernten Straßenlaterne sahen sie ihr weißes Nachthemd.

      »Hilfe ...! Ach, Gott sei Dank, daß Sie kommen!«

      Sie trat vor den beiden durch die offene Tür in den dunklen Flur.

      »Ich hörte, wie sie miteinander kämpften und wie er um Hilfe rief«, berichtete sie atemlos und verstört. »Und ich versuchte, in sein Zimmer einzudringen ...«

      Sie tastete nach dem elektrischen Schalter und drehte das Licht an. Eine große Lampe an der Decke verbreitete gelbliches Licht.

      »Was ist denn los? Welches Zimmer meinen Sie denn?« fragte Simpson schnell.

      Sie zeigte mit zitternder Hand die Treppe hinauf. Ihre Züge zeigten eine auffallende Blässe, aber sie war sehr schön.

      »Häng doch der Dame einen Mantel um, Harry«, sagte Simpson und deutete auf einen Ständer in einer Nische, an dem Hüte und Kleider hingen. »Sie müssen uns das Zimmer zeigen«, wandte er sich dann an sie.

      Aber sie schüttelte den Kopf und starrte die beiden entsetzt an.

      »Nein, nein, das kann ich nicht ... Es liegt am ersten Treppenabsatz – nach vorne hinaus. Man kann von dort aus auf den Platz sehen –«

      Die Polizisten stürzten die Stufen hinauf, und als sie auf dem Podest ankamen, leuchtete die Deckenlampe auf. Wahrscheinlich befand sich der Schalter hierzu auch unten, denn oben konnten sie keinen entdecken. Sie standen vor einer Mahagonitür mit vergoldeten Schnitzereien und einem schönen Griff.

      Simpson, dessen Schwager nach Kanada durchgebrannt war, drückte die Klinke herunter. Die Tür war aber von innen verschlossen.

      »Öffnen Sie!« rief er und rüttelte heftig daran.

      Aber niemand kam der Aufforderung nach, und als er aus Versehen die Klinke wieder berührte, gab die Tür plötzlich nach.

      Sie traten in einen weiten Raum, der die volle Breite des Hauses einnahm. Ein Kristallkronleuchter brannte, und Simpson sah einen großen Mahagonischreibtisch vor sich. Dahinter zeigte sich ein kostbarer Marmorkamin, der elektrisch geheizt wurde. Als sie um den Schreibtisch herumgingen, entdeckten sie auf dem Boden einen Mann. Er war in Abendkleidung und packte mit einer Hand krampfhaft die Ecke des Kamins. Die andere war halb erhoben, als ob sie einen Schlag abwehren wollte.

      »Er ist tot – erschossen ... Sieh doch hin!«

      Harry zeigte auf den Blutfleck über dem Herzen des Mannes.

      Simpson starrte auf ihn nieder. Es war das erste schwere Verbrechen, das er im Dienst erlebte, und sofort durchzuckte ihn der Gedanke, welch große Bedeutung das für ihn und seine Karriere haben könnte. Dadurch geriet er jedoch in große Verwirrung; außerdem erinnerte er sich im Augenblick nur noch dunkel daran, wie man sich als Polizist unter solchen Umständen zu verhalten hatte.

      »Niemand darf ins Zimmer kommen«, sagte er heiser und sah sich weiter um. Die große Glastür zum Balkon stand offen. Er trat hinaus und leuchtete mit seiner Taschenlampe das Geländer ab.

      Ein Strick war um die Handleiste geschlungen und reichte bis nach unten zu den Treppenstufen vor der Haustür. Er mußte erst nach ihrem Eintritt ins Haus angebracht worden sein, sonst hätten sie direkt dagegenstoßen müssen.

      »Der Täter ist entwischt, während wir mit der Dame sprachen«, erklärte Simpson. »Komm, wir wollen wieder nach unten gehen.«

      Sie eilten wieder in den Flur hinunter, aber von der jungen Dame war nichts mehr zu sehen. Sie mußte auf ihr Zimmer gegangen sein. Das Haustor war verschlossen. Simpson drückte die Klinke herunter, aber die Tür bewegte sich nicht. Er versuchte es ein zweites Mal mit Gewalt, aber sie war mit schweren Stahlschienen beschlagen und rührte sich nicht von der Stelle.

      »Sie ist doppelt gesichert. Das muß die junge Dame getan haben. Rufe sie doch und lasse dir den Schlüssel von ihr geben.«

      Harry versuchte die nächste Tür – sie war auch verriegelt, ebenso eine zweite. Nur die dritte, die in den hinteren Teil des Hauses führte, ließ sich öffnen. Er kam in die Küche, und beim Schein seiner Taschenlampe sah er eine Tür, die nur angelehnt war. Er vermutete, daß es sich um die Garage handelte. Das große Tor zur hinteren Straße stand weit auf, und die beiden Flügel pendelten im Nachtwind.

      Harry ging zu seinem Kollegen


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