Ströme meines Ozeans. Ole R. Börgdahl
Читать онлайн книгу.Paris, 19. August 1894
Heute früh war mir erneut sehr übel, aber ich habe mich diesmal nicht übergeben. Am Nachmittag ging es dann schon besser und wir waren spazieren. Es ist doch noch ein herrlicher Sommertag geworden. Jetzt sind wir beide recht müde. Victor wird morgen zum Dienst gehen und erst gegen Mittag die Vorladung im Ministerium ankündigen. Leverne wird selbst ein Schreiben erhalten haben, so ist sich Victor sicher. Am Freitag soll davon aber noch nichts zu spüren gewesen sein.
Paris, 22. August 1894
Es ist jetzt zwei Tage her, dass Victor im Ministerium vorstellig war. Sie suchen Offiziere für die Stützpunkte. Es gibt auf Tahiti Armee und Marine. Ein großer Stützpunkt und viele kleine auf anderen Inseln, die alle Tahiti unterstellt sind. Es sieht so aus, als seien Victors Erfahrungen in der Verwaltung und bei der militärischen Versorgung von Interesse. Soweit habe ich es verstanden und Victor begeistert sich immer mehr. Noch am selben Tag hat er Colonel Dubois ein langes und sehr teures Telegramm geschickt und über alles im Einzelnen berichtet. Wir warten jetzt auf Nachricht aus dem Ministerium. Ich muss noch erwähnen, dass Leverne die letzten Tage auf Urlaub war und so gab es keine Reaktion von ihm und auch keine Konfrontation. Victor hat Leverne zuletzt am Freitag gesehen, dennoch glaubt Victor, dass Leverne über die Angelegenheit genau Bescheid weiß.
Paris, 24. August 1894
Gestern Abend spät kam noch das Telegramm von Colonel Dubois. Der Colonel wusste es schon, Victors Verpflichtung wurde genehmigt. Es wird noch einige Tage dauern, bis alles offiziell ist. Victor und ich haben uns so gefreut und plötzlich wurde mir bewusst, auf was ich mich einlassen werde. Noch in der Nacht habe ich Mutter geschrieben, der Brief ist gleich heute Morgen zur Post gegangen. Ich schließe jetzt die Augen. Ein Abenteuer liegt vor uns, fernab von Paris, fernab von Frankreich, auf einer Insel, in einem riesigen Ozean. Übrigens habe ich dem Telegrammboten gleich noch eine Nachricht mitgegeben. Bei all der Aufregung haben wir Vaters Geburtstag vergessen, Glückwünsche sind jetzt aber unterwegs.
Paris, 29. August 1894
Victor wurde am Montag zu seinem Brigadegeneral gerufen. Im Vorzimmer ist er dann Leverne begegnet, den er an diesem Tag noch nicht gesehen hatte. Leverne hat nicht mit Victor gesprochen, kein Wort, nur eine kurze Begrüßung und dann Schweigen. Sie gingen gemeinsam zum Brigadegeneral und dort wurde Victor erklärt, dass das Ministerium ihn angefordert hätte. Also nichts von Victors Initiative. Colonel Dubois hat es geschickt angestellt, kein Anschein von einer Flucht, ganz im Gegenteil, der Brigadegeneral hat Victor gratuliert. Leverne musste sich dem anschließen. Ein Triumph. Ich bin mit meinen Gedanken schon ganz woanders. Mutter hat geschrieben. Sie ist wohl traurig, aber sie hält es für richtig, wenn ich es für richtig halte. Es macht mir Mut, denn ich will die Eltern hinter mir wissen.
Paris, 3. September 1894
Es geht jetzt alles so furchtbar schnell. Wir haben nur noch den September, denn schon im Oktober sollen wir reisen. Ich werde unser Kind auf Tahiti zur Welt bringen, über diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht nachgedacht.
Paris, 7. September 1894
Ich habe getan, was die Eltern mir geraten haben. Gestern war ich endlich in der Sprechstunde von Dr. Coulaud. Er stammt aus Vannes und ist mit Onkel Joseph zur Schule gegangen. Er ist sehr nett und ruhig, ich mag ihn. Er hat mich noch einmal untersucht. Ich hätte schon vor Wochen zu ihm gehen müssen. Es hat zum Glück nicht geschadet. Dr. Coulaud hat auch noch einmal gerechnet und bestätigt, dass das Kind im März des nächsten Jahres zur Welt kommen wird. Er konnte mir sogar ein Datum nennen, den 21. März. Dies ist jetzt mein Datum, obwohl Dr. Coulaud sagte, es sei nur geschätzt, das Kind könnte auch früher oder später geboren werden. Ich habe mit dem Doktor auch über unsere Reise gesprochen und er sagte mir, dass viele Schwangere reisen würden und dass ich ja nicht zu Fuß gehen müsste und dass Schiffsreisen nicht mehr so anstrengend wären, wie noch vor Jahrzehnten. Wenn Victor und ich um Weihnachten auf Tahiti sind, so würde es weder mir noch dem Kind schaden. Ich fühle mich jetzt recht wohl, auch ist mir seit gut einer Woche nicht mehr übel geworden. Des Kindes wegen hatte ich schon etwas Bedenken, die nach der Sprechstunde bei Dr. Coulaud verflogen sind. Ich bin wirklich glücklich.
Gayton, 10. September 1894
Wir sind für fünf Tage bei den Eltern in Gayton. Im letzten Jahr war es Vater, in diesem Jahr wird Mutter fünfzig. Natürlich werden wir morgen ordentlich feiern und es gibt ja eine Menge zu feiern. Ich habe schon ausführlich von meinem Besuch bei Dr. Coulaud berichtet und Mutter hat sich den Termin aufgeschrieben, den er errechnet hat. Ich freue mich auf die nächsten Tage. Am 14. September müssen wir aber wieder pünktlich in Paris sein, Victor hat natürlich Wochenenddienst.
Gayton, 18. September 1894
Mutter hat geschrieben. Der Fußballsport hat jetzt nicht nur Vater, sondern auch sie selbst vollends eingenommen. Vaters Verein, der Everton FC ist in der Meisterschaft zum ersten Mal auf den Liverpool FC getroffen und hat diesen mit drei gegen Null Tore besiegt. Das Spiel fand im Goodisen Park vor einigen Zehntausend Besuchern statt. Im Übrigen verdankt der Liverpool FC seine Existenz Vaters Verein, denn als die ehemalige Spielstätte des Everton FC verwaist war, wurde an selber Stelle dieser neue Fußballklub gegründet. Zum Glück steht er dem Everton FC noch deutlich nach, wie Mutter extra betont. Ich frage mich, ob auf Tahiti auch Fußball gespielt wird.
Paris, 24. September 1894
Die Aufregung hat sich nun endlich auch bei Victor gelegt. Ich merke es, weil er wieder den Humor findet, seine Sprichwörter zu zitieren. Den Ausgang der Angelegenheit zwischen ihm und diesem Leverne hat er treffend beschrieben: »Ein schöner Rückzug ist ebenso viel wert wie ein kühner Angriff.« Ein spanischer Philosoph soll dies gesagt haben. Es ist gut, dass Victor den Kampf vermieden hat, wir hätten nicht gesiegt, so haben wir jedoch auf ganzer Linie gewonnen.
Paris, 1. Oktober 1894
Victor und ich haben angestoßen, auf unsere neue Zukunft. Ich habe nur ganz wenig Champagner getrunken, nur symbolisch. Mein Wissen über Ozeanien und Tahiti wird täglich größer. Auf Tahiti gibt es eine richtige Stadt, Papeete ist eine richtige Stadt mit einem Krankenhaus, mit Kirchen, mit vielem, was es auch hier in Frankreich gibt. Wir werden natürlich nicht die einzigen Franzosen sein. Ich bin jetzt geradezu aufgeregt. Es gibt Reiseempfehlungen vom Ministerium. Ich kaufe schon einiges an Kleidern für Victor und mich und für das Kind. Ich weiß ja nicht, ob es dort Babykleidung gibt. Mutter hat mir im letzten Brief viele Ratschläge gegeben, sowohl für die nächsten Wochen und Monate vor der Geburt, als auch für die Zeit danach. Sie sammelt ihre Ratschläge, weil es ihr dann später nicht mehr so leicht sein wird, mir alles mitzuteilen. Eine Postverbindung zwischen Liverpool und Polynesien wird es sicherlich geben, es stellt sich nur die Frage, wie lange ein Brief für die einfache Strecke benötigt. Wir werden es sehen. Ich weiß jetzt schon, dass Mutters Briefe mir in der Ferne noch wichtiger sein werden, als sie es bereits sind und dass sie für lange Zeit auch einen Besuch in Gayton ersetzen müssen. Mutter schreibt noch einmal über Vaters Manchesterpläne, die er jetzt wohl aufgegeben hat. Liverpool scheint seine erste Wahl zu bleiben, zumal der neue Kanal ihm seine Kunden ohnehin nähergebracht hat. Mutters Erleichterung ist zwischen den Zeilen zu lesen.
Paris, 5. Oktober 1894
Wir müssen jetzt langsam packen, am 14. Oktober müssen wir in Marseille sein, am 15. geht das Dampfschiff. Es wird langsam knapp mit der Zeit, obwohl wir nicht viel mitnehmen werden. Zwei große Koffer sollen reichen und eine Reisetasche mit den Sachen, die wir auf dem Schiff brauchen. An Bord können die Passagiere ihre Kleidung waschen lassen, anders würde es ja auch nicht gehen, bei einer so langen Reise. Mir wurde nochmals versichert, dass Papeete eine große Stadt sei, in der es alles zu kaufen gibt. Unseren Hausstand müssen wir ohnehin