Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
Читать онлайн книгу.lügen oft und gern, du in Sonderheit, wie mir deine Mama erzählt hat«, worauf ich zustimmend nickte, während er allgemeiner werdend fortfuhr: »Wir stehlen, wir eignen uns also Dinge an, die einem anderen gehören. Wir verlangen nach dem Weib unseres Nächsten«, er korrigierte seinen Missgriff, »dies wohl noch nicht, aber es kommt so schnell und so sicher wie der morgige Tag, weil dieser gemeine Trieb in unserer dämonischen Natur liegt. Wir müssen daraus den Schluss ziehen, dass Natur an sich bedenklich ist. Kurzum, mit uns ist im Großen und Ganzen nicht viel los, obschon wir uns am wohlsten fühlen, wenn gar nichts mit uns los ist, haha!«
Konnte ich diese Kasuistik schon nicht verstehen, so dachte ich, wenn es so ist, wie er sagt, so wäre die Welt entschieden merkwürdig, denn was käme schließlich bei einem solchen Leben heraus? Müssten wir nicht ewig hinter uns blicken, ob uns nicht der Zuchtmeister auf den Fersen ist? Ziehe ich hier wieder Mamas Tagebuch zurate, dann auch, um bei meiner ersten Unterweisung in geistlichen Dingen ein mir neues Gefühl der Erregung zu beschreiben. Alles in mir war gespannt, ich spürte, dass ich meiner künftigen Bestimmung einen Schritt nähergekommen war. Hochwürden machte mich mit dem Ernst des Lebens bekannt, und ich nahm die Gefahr wahr, wurde instinktiv bereit, die Summe an Gewinn und Verlust aus dem System von Verboten und Beschränkungen zu ziehen.
»Warte nur«, beschied Hochwürden, der mir vielleicht die Gedanken von der Stirn ablas. Von dem, was er noch gesagt haben mag, ist mir nur der überraschende Schluss in Erinnerung geblieben, als er fragte, ob ich das weitläufige Geflecht von Erbsünde, Beichte, den Sakramenten, dem Fegefeuer, Hölle und Himmel und der Rolle der Kirche und der Geistlichkeit darin begriffen hätte. Ehrlich bestürzt antwortete ich mit einem: Nein!
»Gut, mein Kind, ich selbst verstehe es bis heute nicht ganz«, gab er zu. Endlich wurde mir deutlich, was er von mir erwartete; keine Wunder, keine übermenschlichen Anstrengungen. Nichts anderes hatte er vor, als einen Durchschnittsmenschen aus mir zu machen, der ihnen einfach nur glauben sollte. Sie wollten mich auch nicht mehr bei einem argen Frevel gegen ihre Ordnung ertappen müssen; sie wünschten bereits vorher zu wissen, ob ich sie belügen, betrügen und bestehlen wollte. Hier habt ihr die Quintessenz jeden Glaubens, auch des Parteienglaubens, ihr Knaben! Unterwerfung heißt das Gebot! Diese Forderungen zu erfüllen, fühlte ich jedoch keine Berufung.
»Nun könntest du meinen«, fuhr er fort, »es wäre leicht, Gott zu hintergehen. Du denkst, wenn ich einfach verschweige, was ich getan habe oder vorhabe zu tun, so erledigt sich die Sache von selbst, als sei sie nicht geschehen. Soll mir erst mal einer auf die Schliche kommen.« So in etwa hatte ich in der Tat gedacht, er musste Gedanken lesen können, anders war seine Kenntnis nicht zu erklären. Ich betrachtete seine Hände, behaarte Pranken mit breiten Nägeln, die wie Metall glänzten. Anscheinend war die Lektion damit beendet, und was hätte auch noch gesagt werden können, was angedroht? Jedenfalls stand er auf und nahm das Bild meines Vaters aus dem Wechselrahmen. Er tat es ganz ungeniert, betrachtete die Vorder- und Rückseite und las laut vor: Hasta la vista! War das der Argentinier? Mamas Stimme zitterte, als sie die Frage bejahte und leise hinzufügte, er wisse doch alles, er habe ihn doch gekannt, wie ihm auch die Umstände vor Augen stünden, dank der Beichte, über die er ja schweigen müsse. In der Tat wisse er es, erwiderte Hochwürden; den Mann, den Argentinier habe er allerdings nie wirklich gesehen, erinnere sich aber noch gut daran, wie er vor der Kirche gestanden und Bräutigam und Braut erwartet habe. Leider seien nur die werten Angehörigen der Braut gekommen, und am Schluss habe der Bräutigam noch immer gefehlt; einen Schnupfen habe er sich bei der Warterei geholt, das sei alles gewesen. Erneut las er die Worte auf dem Porträt meines Erzeugers: »Hasta la vista! Auf Wiedersehen. Das klingt nicht gerade verheißungsvoll, es hört sich eher an wie Auf-nimmer-Wiedersehen«
»Er hat vielleicht Abhaltungen«, sagte Mama spitz, auf deren Gesicht rote Flecken erschienen.
»Ja, die hat er ganz gewiss. Machen Sie sich nichts vor, Maria«, sagte mein geistlicher Lehrer nachlässig lachend, »der Bursche ist auf und davon, keine Tragödie, wenn ich Ihr Kind, diesen kleinen schwarzen Teufel ansehe, aber für die Schwäche Ihres Körpers sollten Sie sich doch nach einem Mann umsehen, wohlbemerkt, nach einem Ehemann, nicht diesen Windhund von Doktor.« Energisch bestritt Mama, mehr als eine vorübergehende Neigung zu Doktor Wilhelmi empfunden zu haben, wie er als ihr Beichtvater ja wohl wisse.
»Ach, halten Sie mich nicht für dumm«, sagte er, »von Ihnen wie von allen meinen anderen lieben zarten und zärtlichen Beichttöchtern kriege ich natürlich nur das zu hören, was sie selbst für passend halten.« Heiraten hätte sie längst können, aber all und jeden wolle sie nicht, sprach Mama. »Ja, ja«, sagte er begütigend und leicht abwesend.
Für mich war damals der kurze Dialog zwischen den beiden Erwachsenen so verwirrend wie aufschlussreich, erfuhr ich doch, was wirklich unter dem Bild des Argentiniers stand. Augenblicklich hasste ich meinen Erzeuger und wendete mein Herz ganz dem Priester zu. Übrigens verschwand das Foto in der Folgezeit. »Ist er eigentlich kitzlig«, fragte Hochwürden plötzlich. »Wer«, fragte Mama befremdet zurück. »Jakob natürlich; man sagt doch, dass Kinder der Liebe kitzlig sind. Ich wollte es schon immer einmal nachprüfen.« Mama nahm die Gelegenheit wahr, sich für ihre Niederlage an ihm zu rächen. Lächelnd sagte sie, es handele sich um Dinge, die er ohne Zweifel längst ergründet habe. Die Probe an den Müttern, die Kitzelprobe sozusagen, sei ihm ja nicht verwehrt. Zustimmend griente er, murmelte etwas Lateinisches, von Mama peinlich nachgeschlagen und recherchiert, nämlich: virginem virginum, ante partum, in partu et post partum, so steht es im Tagebucheintrag. Mama aber hatte ihre Fassung wiedergewonnen, sagte sie verstünde sein Latein nicht, es enthalte aber sicher eine Kritik, und sie bat ihn dringlich, sich meiner anzunehmen und einen wahren Menschen aus mir zu machen, da nun einmal starke und geheimnisvolle Kräfte in mir am Wirken seien. »Vor der Geburt, während und danach Jungfrau der Jungfrauen ...; es riecht nicht schlecht in Ihrem Hause, meine liebe Maria, hat meine verehrte Frau Tante eventuell eine Ente in der Röhre?«
Das hatte sie in der Tat. Bei Tisch wurde Herr Fabian ein lustiger Herr, der nach einem kurzen Dankgebet zulangte, als habe er acht Tage lang gefastet, der Wein wie Wasser trank und sich auch noch wacker an das Dessert hielt, einen Pudding mit Mandeln und Rosinen, wie ihn Großmutter zuzubereiten verstand. Ich bestaunte seine Fähigkeiten und gedachte gut mit ihm auszukommen. Wer solche Portionen vertilgen konnte, musste stark sein und auch wieder der Ruhe bedürfen. Nach dem Essen raffte er seine Soutane und gab sich selbst den Befehl: »Die Pflicht ruft! Ab durch die Mitte! Bis zum Mittwoch!«
3. Kapitel
Jeweils am Mittwoch erschien er nun zum Mittagessen und nutzte die Zeit bis zum Kaffee, um mich in christlicher Religion zu unterweisen. Viel erinnerlich ist mir daran nicht, allein ich sehe ihn bequem im Sessel zurückgelehnt sitzen, die Hände über dem Leib verschränkt, ein Bein vorgestreckt, während ich ihm gegenübersitze, auf einem niedrigen Hocker ohne Lehne. Seine Stimme klingt heiser, aber nicht unangenehm, untermischt mit dem Latein, in dem er für gewöhnlich dachte. Ich kann nicht sagen, dass ich in dieser Zeit viel oder etwas Besonderes bei ihm gelernt hätte, nicht in diesen ersten Jahren, aber nach und nach kamen wir beide in ein freundschaftliches Verhältnis miteinander. Er pflegte mir mit seiner behaarten Tatze den Kopf zu streicheln; offenbar hatte ich sein Herz berührt. Vertrauensvoll lehnte ich meinen dürren Leib an seinen mächtigen Schenkel und genoss die körperliche Wärme, die er ausstrahlte. Es ist wohl möglich, dass ihm, dem Kinder im eigenen Hause versagt waren, bei meinem Anblick schmerzlich bewusst wurde, worauf er verzichtet hatte. Blindlings vertraute ich ihm, nahm jedes seiner Worte auf wie das Evangelium, und es war ja auch das Evangelium, das er mich lehrte. Aber ich war klug genug, mich vor seinem Zorn zu hüten. Obschon ich den Begriff des Sanguinikers nicht kannte, sah ich wohl, dass er sanft sein konnte wie ein Lamm und rasend wie ein Löwe. Wutanfälle dauerten bei ihm nicht lange, seine Stirn glättete sich, er lachte über sich, schlug wohl auch ein rasches Kreuzeszeichen, gleichsam, um sich bei seiner obersten Behörde für das Vergehen zu entschuldigen, und war wieder der alte. Der Ausdruck Wahlvater, den ich damals von ihm hörte, ist insofern irreführend, als nicht ich es war, der einen Vater gewählt hatte. Zutreffender könnte ich mich als seinen Wahlsohn bezeichnen. Aber aufs Ganze betrachtet, hatte ich Glück; denn bald bekannte ich mich vorbehaltlos zu diesem Mann, respektierte