Die kleine Posaune der Freiheit. Ludwig Witzani
Читать онлайн книгу.Aber was hatte all das mit der lettischen Geschichte zu tun? Die deutschen Herren des Livländischen Ordens, die russischen Soldaten, die schwedischen Invasoren, ihre Burgen und Festungen waren Teil der deutschen, russischen oder schwedischen Geschichte und gingen Lettland im Kern nichts an. Nun aber waren endlich nach den Deutschen und Schweden auch die Russen verschwunden, und jene Freiheit hatte Einzug gehalten, an der man sich wie an einem kalter Wind leicht verkühlen konnte. Die Mehrzahl der Letten war weit davon entfernt, die solange entbehrte Freiheit gering zu schätzen, doch sie mussten schnell erkennen, dass die Freiheit wie überall, wo die Marktwirtschaft den Kommunismus beerbt, als erstes eine geradezu schamlose Ungleichheit hervorbrachte. Eines von vielen Kennzeichen dieser neuen Ungleichheit waren die prachtvollen Sommerhäuser, die in den letzten Jahren am Strand von Jürmala entstanden waren, regelrechte Paläste in umschatteten Alleen, von Zäunen und Wächtern umgeben, während sich am kilometerlangen Sandstrand das einfache Volk zusammen drängte.
Als wir am letzten Tag unseres Aufenthaltes in Lettland den Strand von Jürmala entlang schlenderten, stießen wir auf eine Gruppe Punks, die sich am Rand einer Düne niedergelassen hatte. Nach einer Musikveranstaltung in Riga saßen sie nun erschöpft und zugekifft im Sand, jeder für sich ein Unikat und ein Beweis dafür, dass die grenzenlose Individualität nun auch an baltischen Stränden triumphierte. Glatzköpfe, auf denen rötliche Haarbüschel wie die Reste eines halb ausgerissenen Teppichs klebten, kleine Ringe, durch Lippen, Wangen und Kinn gezogen, rot gefärbte Irokesenschnitte und trotz der vom Himmel knallenden Sonne alle unisono in schwarzer Gothic-Kluft drapiert, boten sie einen Anblick, der den lettischen Familien in der unmittelbaren Nachbarschaft erkennbar das Erschrecken in die Augen trieb. Die Gesichter der Jugendlichen waren so leer, als wären ihre Schädel nichts weiter als Fassadenflächen zur möglichst flächendeckenden Bepiercung. Die Freiheit der Selbstinszenierung war wohl zu schnell über diese Jugend gekommen, ihre Ausdrucksformen wirkten wie die unfreiwillige Karikatur ihrer selbst.
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