Das Törtchen-Team. Honora Holler
Читать онлайн книгу.Sophie aus ihrem Schlaf. Am liebsten hätte sie sich nochmals umgedreht. Obwohl sie sich so in den letzten Wochen angestrengt hatte, hatte es nicht gereicht, in Englisch würde eine Vier im Zwischenzeugnis stehen. Im zweiten Halbjahr musste ein Wunder her oder das Stipendium war wirklich außer Reichweite. Sie musste einfach den Schülerwettbewerb gewinnen, dachte sie bei sich, gähnte laut und machte danach ein ernstes Gesicht. Mit einem Seufzer zog sie sich an. Bisher hatte sie noch keine wirklich überzeugende Idee, wie sie den Wissenschaftswettbewerb in der Schule gewinnen sollte. Physik, Chemie oder Biologie waren die Fächer, in denen sie antreten durfte, und in zwei Wochen war die Anmeldefrist abgelaufen. Ach, es war zum Verzweifeln, fand Sophie und eilte zur Bushaltestelle.
„Aus aktuellen Anlass weichen wir heute mal von unserem Lehrplan ab“, verkündete Frau Hasenstolz in der Geografiestunde. „Wie ihr heute Morgen sicherlich gehört habt, hat ein Tsunami Japans Küste getroffen.“ Sophie reckte sich, es schien doch noch ein interessanter Tag zu werden, trotz der Zwischenzeugnisse.
Zwei Stunden später brummte Sophie der Kopf vor lauter Informationen: Scherwellen, Korteweg-de-Vries-Gleichung, Schutzmaßnahmen und der Erkenntnis, dass auch im Mittelmeerraum Tsunamis entstehen können. Der Pausengong ertönte. Große Pause, ausspannen und durchatmen, bevor die Stunde der Wahrheit kommt, dachte Sophie und knirschte so laut mit den Zähnen, dass Dominique sie erschrocken anschaute.
Wieder im Klassenraum war die Stimmung gedämpft. Sebastian und Timo versuchten Witze zu reißen, um die Anspannung zu überdecken. Lulu zog ihren Lippen nach. Für eine Dreizehnjährige eine lächerliche Gestik überlegte Sophie, auch wenn sie mit der ganzen Schminke mehr wie eine fünfzehnjährige aussah. Sie seufzte und blickte zur Tür, durch die gerade ihre Klassenlehrerin Frau Richter eintrat, unter ihrem Arm die blauen Zeugnishefter. Sophies Magen krampfte sich zusammen. „Ich verteile jetzt die Zwischenzeugnisse. Vergesst bitte nicht, sie unterschrieben wieder mitzubringen“, verkündete Frau Richter und wedelte mit den Zeugnissen.
Während sie durch die Klasse ging und jedem sein Zeugnisordner überreichte, erinnerte sich Sophie an ein Gespräch, dass sie vor drei Jahren mit ihrer Mutter geführt hatte.
„Warum willst du ausgerechnet auf die Friedrich-Stein-Schule?“, hatte sie damals gefragt. Sophie hatte sich schon auf diese Frage, seit sie die Werbebroschüre mit der Ausschreibung erhalten hatte, vorbereitet. „Weil ich dort die einmalige Möglichkeit habe, mit den besten Lehrern zu lernen und zu experimentieren. Anders als an staatlichen Schule habe ich dort viel mehr Möglichkeiten meine persönlichen Fähigkeiten auszubauen und auszuloten“, sie merkte selbst, dass ihre Begründung sich sehr gestelzt - wie der Text in der Broschüre - anhörte. Aber ihre Augen wurden feucht, als sie an das alte Gemäuer der Friedich-Stein-Schule dachte, eingebettet in einen Park mit Schulgarten, hellen Klassenräumen, Sprachlabor, modernen Experimentierräumen und Laboren. Die lachende Schülerschar auf dem Titelbild, den vielen Auszeichnungen, welche die Schule schon erhalten hatte. Vier Schwerpunkte zeichneten die Stein-Schule aus: Sprache, Wissenschaft, Kunst und Sport. Wer wollte, konnte ab der Mittelstufe Chinesisch, Russisch, Japanisch oder Spanisch zu Englisch und Französisch hinzuwählen. Im Bereich Wissenschaft wurde man übergreifend in Mathematik, Physik, Chemie und Biowissenschaften unterrichtet. Es gab Zeit zum Knobeln und Experimentieren, kein starrer Frontalunterricht. Der Kunstunterricht erstreckte sich von der Malerei, Bildhauerei über den Musikunterricht bis hin zur Theaterwissenschaft. Und im Schulsport konnte man neben den Pflichtsportprogramm Kendo, Triathlon, Turmspringen, Fechten, Bogenschießen oder Schach belegen. Sophie tendierte mehr zu Schach, in ihren Überlegungen als zu körperlich anstrengenden Sportarten. In ihren Träumen war sie bereits eine berühmte Wissenschaftlerin, die den Nobelpreis im zarten Alter von dreißig gewinnen würde. Ja, genauso. „Hast du dir auch überlegt wie ich das bezahlen soll?“, riss sie ihre Mutter aus ihrem Tagtraum. Auch auf diese Frage hatte sich Sophie vorbereitet. „Wenn ich das Grundschulstipendium gewinne, musst du keine Schulgebühr mehr bezahlen bis zur Mittelstufe. Gewinne ich danach das Mittelstufen- und das Oberstufenstipendium dann entfallen alle Schulgebühren", hatte Sophie wie aus der Pistole geschossen geantwortet. „Und wenn nicht?“, kam die Rückfrage mit zweifelndem Blick. „Dann brauche ich einen Notendurchschnitt von Eins Komma fünf, dann beträgt die Schulgebühr nur noch ein Drittel. Dafür kann ich ja das Geld von Oma verwenden, das sie angelegt hat“, erwiderte Sophie und schaute ihre Mutter mit bittenden Augen an. Frau Morgenbesser konnte ihrer Tochter nur wenig abschlagen und so nickte sie und sagte schweren Herzens: „Na gut, dann gewinn das Grundschülerstipendium, dann sehen wir weiter.“ Und Sophie strengte sich an und gewann das Grundschülerstipendium.
Das war nun drei Jahre her, ihre Magenschmerzen nahmen zu. Frau Richter war nun bei Lulu, zwei Tische von ihr entfernt. Ihre Hände zitterten leicht, als sie ihren Zeugnishefter erhielt. „So eine Gemeinheit“, tönte Lulu von der Seite. „Was ist?“, fragte Irene anteilsvoll und versuchte gleichzeitig einen Blick in Lulus Zeugnis zu werfen. Sophie wandte sich wieder ab und sah sich ihreNoten an. Ein kleine Überraschungen: In Englisch hatte sie eine Drei Komma fünf und in Sport eine Drei. Na ja immerhin, doch nicht ganz schlimm und verzog das Gesicht. Momentan habe ich einen Schnitt von Eins Komma acht. Also ich brauche eine Zwei in Sport und eine Zwei in Englisch, rechnete sie sich aus und seufzte. Von beidem war sie meilenweit entfernt. Also doch den Wettbewerb gewinnen! Und sie hatte ernst zu nehmende Mitstreiter in ihrer Klasse waren da Tobias, Arne und Dominique. In der Parallelklasse würden wohl Natascha, Simone, Kurt und Michael antreten. Bis auf drei, alles Schüler die auch das Grundschulstipendium gewonnen hatten. Schwierig, schwierig.
In Gedanken versunken öffnete Sophie die Wohnungstür und ließ ihre Schulsachen in der Diele liegen. Nur das Zeugnis klaubte sie aus der Tasche und legte es auf den Küchentisch. Die Zeitung von heute Morgen lag noch achtlos zusammengelegt da und harrte ihrer Entsorgung. Sophie stutzte, setzte sich und faltete die Zeitung auf, sodass sie den vollständigen Text lesen konnte. Die Schlagzeile „Zucker schlimmer als Kokain“, hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Sie las den Artikel mehrmals, der Zucker in all seinen Varianten als moderne Geisel der Menschheit brandmarkte. Sophie dachte nach und eine Idee nahm Form an: Wie wäre es in einem wissenschaftliches Projekt den Einfluss von Zucker, billigem Industriezucker und Zuckerersatzstoffen auf soziale Lebewesen zu untersuchen. Gedankenverloren ging sie in ihr Zimmer. Suchte in den hintersten Winkeln und kramte schließlich unter dem Schrank ein kleines Terrarium hervor. „Ja, so müsste es gehen“, murmelte sie vor sich hin, als sie den Plexiglaskasten vor sich auf ihren Schreibtisch stellte.
Vorsicht Laster!
Die Sonne blendete Sophie als sie aus dem Bus ausstieg. Statt sich abzuwenden, streckte sie ihr Gesicht in die Märzsonne und genoss die angenehme Wärme, die sie durchströmte. Selbst die Luft war angenehm warm – Frühlingsluft eben. Auch die anderen Menschen schienen froh zu sei, über die Sonnenstrahlen. Man sah keine Winterjacken mehr auf den Straßen, die Frau neben ihr, an der Ampel hatte sogar keine Strümpfe mehr an, sondern war barfuß in ihren Slippern. Für Mitte März, ganz schön mutig, fand Sophie und lief los, als die Ampel auf Grün umgeschaltet hatte.
Gut gelaunt machte sie sich auf den Weg zum Zuckerstückchen. Frau Allington, ihre Englischlehrerin war krank und würde es bis auf weiteres auch bleiben. Bandscheibenvorfall! Nicht, dass das Sophie besonders freute, sie war nicht schadenfreudig, doch seit Herrn Cunningham sie unterrichtete, hatte sie in Englisch einfach mehr Erfolgserlebnisse. Letzte Woche hatte sie sogar in der Klassenarbeit eine Zwei minus geschrieben. Ein weiterer Grund war, dass sie für ihr wissenschaftliches Projekt grünes Licht bekommen hatte und die Schule einen Raum zur Verfügung stellte. Diesen musste sie zwar mit Dominique teilen, doch das war nicht so schlimm: Dominiques Zebrafische waren leise und belegten auch nur drei Aquarien.
Leichtfüßig sprang sie die Treppen der Einkaufspassage hoch. Was für ein Gewusel an Menschen. Sie überquerte den Marktplatz mit seinen vielen bunten Ständen. Rechts von ihr bellte ein Hund, ein Kind schrie, weil es sein Eis fallen gelassen hatte, eine Blaskapelle spielte lautstark auf ihren Instrumenten am Brunnen. Nur noch schnell über die Straße, dann war sie schon im ruhigeren Altstadtviertel. Ein Lastkraftwagen bog um die Ecke. Vor ihr sah sie eine junge Frau am Straßenrand.
Sah sie denn den Lastkraftwagen nicht? Sophie beschleunigte ihre Schritte.