Zwischen Unabhängigkeit und Ordnungsfunktion. Jürgen Mietz

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Zwischen Unabhängigkeit und Ordnungsfunktion - Jürgen Mietz


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Beratung geht davon aus, dass, sofern ein geeigneter Rahmen vorhanden ist, die in der Verstehensarbeit liegenden Potenziale von Anerkennung, Einordnung, Reflexivität Verfügung über das eigene Leben und Lernen steigern kann.

      Eine steuernde Behörde mag andere Prioritäten haben. Tatsächlich waren und sind die subjektorientierten Ansätze immer wieder Kritik oder Unverständnis ausgesetzt. Das um so mehr als Schule sich an der Rationalität eines Wirtschaftbertriebs orientieren soll.

      Trotz aller Widersprüche des Schulsystems (die es teilweise seit der Gründung birgt), kommt es darauf an, dass es als legitim und gerecht erscheint. In diese Aufgabe ist Beratung verwickelt. Zum Besipiel, wenn es um Teilhabe an oder Ausschluss von begrenzten Fördermitteln geht. Die Beraterin, die frei, unabhängig und ergebnisoffen beraten möchte, tritt ihrer Klientel mit einem anderen (mehr oder weniger still lancierten Spar-) Auftrag gegenüber. Für einen Lehrer mag das nicht überraschend sein, ist er doch in der Regel ein eingeübter Akteur in

      diesem System. Psychologen könnte es anders ergehen. Sie bringen eine andere Berufssozialisation mit. Um Beratungsanlässe und -verläufe nicht im schulzweckorientierten Sinn engzuführen, bedarf es hoher Aufmerksamkeit für den „Gewinn der Differenz“. Anderenfalls könnte Beratung als Fortsetzung von Schule mit anderen (manipulativen) Mitteln empfunden werden. Das hätte schwerwiegende Folgen für die Kooperationsbeziehungen, für das Vertrauen und für die Wahrnehmung der Beratung in der (Schul-) Öffentlichkeit.

      Wenn eine Behörde ein verzweigtes Förder-Optimierungssystem einrichtet, entstehen Abgrenzungs-, Zuweisungs- und Steuerungsnotwendigkeiten. An freier, ergebnisoffener Beratung hat sie weniger Interesse. Einem Verständnis von Beratung als Steuerung stehen Psychologen und weitergebildete Beraterinnen in der Tendenz eher fern, sodass sie leicht als widerständig und subversiv erscheinen mögen. Im ungünstigen Fall könnte ein derartiger Konflikt durch eine Organisationsveränderung „aufgelöst“ werden.

      So, oder so ähnlich könnte es in Hamburg bei der Neuorganisation der Schulberatung im Jahre 2000 – in Verbindung mit anderen schulischen Problemlagen (die Verhaltensgestörtenschulen sollten aufgelöst werden, die Lehrer brauchten zum Teil einen neuen Arbeitsort, Schulpsycholog/inn/en galten als schlecht erreichbar) – gegangen sein. Seinerzeit wurden Lehrer und Sonderpädagogen durch die Neugründung einer Organisation gleichsam zu Beratern. Es blieb nicht aus, dass Berufsgruppen, wie die Schulpsychologen und professionell Beratende, die auf Grundprinzipien der Beratung bestanden, ins Abseits gerieten. Die spätere Praxis hielt mit den guten Vorsätzen und Papieren der Gründungsphase nicht mit. Von einer „(Sonder-) Pädgogisierung“ der Beratung war die Rede. Die administrativen Aufgaben nahmen zu.

      Ein Schub für Deprofessionalisierung der Beratung kann allerdings auch von „klassischen“ Berufsgruppen professioneller Beratung ausgehen. Psychologinnen und Psychologen treten nach dem Studium möglicherweise mit weniger Beratungsknow-how und weniger definiertem Beratungsinteresse ihre Arbeit an. Gemeint ist hier, was schon häufiger an Kritik zu hören ist: Die Ausbildung im Psychologiestudium sei verschult, technokratisch, testlastig, weniger auf Persönlichkeits- und Subjektentwicklung und Kenntnis ihrer Rahmenbedingungen angelegt als das in der Vergangenheit der Fall gewesen sein mag[Fußnote 4].

      Folge solcher Entwicklungen ist, dass ein Reflexionsprozess über Beratung und ihre Rahmenbedingungen in behördennahen Beratungsorganisationen schwerer wird. Die Wirkungen der Institution und der Institutionsdynamiken auf die Beratung treten kaum ins Bewusstsein – eine systematische Unterschätzung der Kontexte beratender Arbeit findet statt. Denkbar, dass das billigend in Kauf genommen wird oder gar gewollt ist. Postdemokratie und Entfesselung der Wirtschaft haben vermutlich viele Gesichter. Wie

      dem auch sei: Eine verantwortliche, reflektierte professionelle Haltung, hätte das Zusammenspiel von Institutionsdynamiken und persönlichen Dynamiken (Schüler, Eltern, Lehrerinnen, Leitungsebenen, Beraterinnen) in den Blick zu nehmen.

      Vor einer weiteren Beschreibung der Gegenwart hilft vielleicht, zurückzuschauen und zu erkennen, um was es geht.

      

      2 Beratung als Ordnungsfunktion – eine historische Skizze

      In den 1920 er Jahren stellten politische Umbrüche, revolutionäre Bewegungen und wirtschaftlich-soziale Spannungen die bürgerlich-konservative Ausrichtung der jungen Republik infrage. In der Frage, wie sie sich organisieren sollte, spielte auch das Schulwesen eine bedeutende Rolle. Es musste auf Öffnungs- und Gerechtigkeitsforderungen reagieren. Es kam in einigen Regionen Deutschlands vereinzelt zu „Bildungsoffensiven”. Die Schulpflicht war gerade eingeführt worden, in Mannheim entstand 1921 ein neues Schulsystem, das auch den ersten Schulpsychologen Deutschlands hervorbrachte. In Hamburg wurde die „Schülerkontrolle“ eingerichtet.

      An dieser Stelle ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die vollständige Schulpflicht im Jahr 1920 mit dem Reichsschulgesetz eingeführt worden war, und zwar in Gestalt des Schulzwangs. (Zuvor hatte es eine mehr oder weniger genau kontrollierte Unterrichtspflicht gegeben, der auf unterschiedlichem Weg nachgekommen werden konnte.) Dem Staat erwuchs daraus die Verpflichtung, ein schulisches Angebot vorzuhalten, in welcher Quantität und Qualität auch immer. Die Schulen und ihr Personal erhielten die Aufgabe der Kontrolle, die Eltern wurden darin eingespannt. Das heißt, sie mussten ein Stück ihrer Freiheit und ihrer Rechte am Kind aufgeben.

      Die im Schulgebäude und unter den Bedingungen des Staates zu erfüllende Schulpflicht, eine gemeinsame Schule für einige Jahrgänge und die Verpflichtung zum Schulbesuch boten sicher Lerngelegenheiten für die minderbemittelten Klassen, wie sie damals genannt wurden. Aber diese Teilhabe war auch eine Teilhabe an den Sozialisations- und Unterwerfungsprozeduren des Staates – zumal die Rechtsgrundlagen des Kaiserreichs zur Verwunderung der SPD und der DDP (Deutsche demokratische Partei) im Schulwesen fortbestanden. In wesentlichen Strukturen und schulischen Selbstverständnissen bis in die Gegenwart hinein. Bemühungen, die Schulpflicht in ein Bildungsrecht umzuwandeln oder in eine Unterrichtspflicht, wie sie in fast allen europäischen Ländern existiert, sind daher nur allzu verständlich. (Mehr dazu in Teil II)

      Hans Lämmermann, Schulpsychologe, entwickelte ein System der Zuordnung von Schülern zu gestuften Lernleistungsgruppen. Er erarbeitete mit seinen Gruppenuntersuchungen beeindruckende testdiagnostische Fortschritte. Er beförderte damit ein naturwissenschaftlich experimentalpsychologisches Denken in der Psychologie. Nicht selten wird dieses Konzept auch heute als vorbildlich angesehen und nicht selten in (falschen) Gegensatz zu verstehenden, hermeneutischen Ansätzen gebracht. So kam es, dass man Hans Lämmermann als Groß- oder Urgroßvater der Schulpsychologie und Schulberatung in Anspruch nehmen möchte[Fußnote 5]. Das Mannheimer Schulsystem vergrößerte vermutlich tatsächlich für eine Reihe von Schülerinnen die Aussicht auf Bildung im Rahmen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Was man jedoch übersah, und teilweise auch heute übersieht, war, dass Lämmermann „seine” Psychologie rein funktional im Sinne des staatlichen und wirtschaftsorientierten Interesses einsetzte; die subjektiven Interessen und Lebenswirklichkeiten der Schüler wurden als identisch mit dem Schulsystem gedacht. Der Gedankengang dürfte etwa folgender gewesen sein: Der schulische Erfolg im bestehenden Schulsystem ist die beste Voraussetzung für Lern- und wirtschaftlichen Erfolg und für die Integration in die Gesellschaft.

      Spezielle Lebenslagen, biografische Erfahrungen schienen Hans Lämmermann plausiblerweise als bedeutsam für das Lernverhalten, jedoch bezog er das nicht in seine Untersuchungen ein. Der Mensch war nicht als Autor und Mitgestalter seines Lebens vorgesehen. Von Kontrakten, Arbeitsbündnissen, Ebenbürtigkeit war nicht Rede. Was ebenfalls fehlte, war eine ethisch-normative Grundlage Lämmermanns Psychologie.

      Zu einer Psychologie und Beratung vom Subjektstandpunkt des Betroffenen aus (Kind, Eltern, Lehrer) mochte sich niemand entschließen. Tasächlich gab es solche Ansätze, unter anderem bei den Psychologen, die wenige Jahre später die Flucht aus


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