Humbug & Mumpitz – 'Regietheater' in der Oper. Christian Springer

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Humbug & Mumpitz – 'Regietheater' in der Oper - Christian Springer


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zitiert werden soll, ist Arrigo Boito, Komponist, Übersetzer, Literat und Verdis Librettist bei der Überarbeitung von Simon Boccanegra sowie bei Otello und Falstaff. Er war in seiner Jugend ein glühender Wagnerianer gewesen und berichtete 1893 dem offensichtlich interessierten Verdi über eine Walküre-Vorstellung an der Mailänder Scala:

      Die Mailänder Presse hat sich auf Mascheroni[33] wie auf einen tollwütigen Hund gestürzt und ihn für die unendliche Langeweile verantwortlich gemacht, die die Oper hervorgerufen hat, und das ist ungerecht.

      Der Hauptgrund, weshalb die Oper nicht gefiel, muss in der Oper selbst und in dem von Wagner angewandten System gesucht werden. Ein weiterer Grund ist die Weiträumigkeit der Bühne, die die gesamte Struktur des Dramas dürftig erscheinen lässt. Eine läppische Handlung, die langsamer als ein Personenzug vorankommt, der bei jeder Station anhält, und eine endlose Abfolge von Duetten durchfährt, während derer die Bühne kläglich leer bleibt und die Figuren stupide bewegungslos verharren. All das ist nicht geeignet, [den Zuhörer] zu erfreuen.[34]

      Warum das von den Südländern (im Gegensatz zu den überlegenen „Nordländern“) mit einiger Berechtigung so wahrgenommen wird, hat der britische Musikwissenschaftler, Dirigent und Kritiker Mosco Carner (1904-1985) in seinem Standardwerk über Puccini[35] sehr schön erklärt. Er hat das Wesen, die Funktionsweise und die Wirkung der italienischen Oper so gescheit beschrieben, dass jeder halbwegs intelligente Regisseur, der der Regietheater-Ideologie anhängt, von vornherein von seinem Tun ablassen müsste. Hier die wesentlichen Passagen zu diesem Thema:

      „‚Das oberste Gebot ist es, zu gefallen und zu rühren; alle anderen Gebote dienen nur, um dieses erste zu erfüllen.‘ Dieser Ausspruch Racines ist wahrscheinlich die knappste Formulierung der Grundregeln des dramatischen und musikalischen Theaters in den romanischen Ländern. [...]

      Von Monteverdi bis zu Verdi und Puccini [...] haben alle Komponisten in den romanischen Ländern sich immer bemüht, alle anderen Gebote diesem obersten Gebot unterzuordnen. Ein vollkommenes Gleichgewicht in diesem Sinne hat Mozart erreicht, der seiner im Grunde romanischen Grundkonzeption der Oper eine Tiefe hinzugewann, die er aus dem deutschen Element seiner übernationalen Genies einbringen konnte. [...]

      Gleichbleibendes Thema der italienischen Opernkomponisten sind die miteinander streitenden einfachen Leidenschaften des Herzens; die elementare Polarität von Freude und Schmerz sorgt sowohl bei Monteverdi wie auch bei Puccini für die dramatische Bewegung. Die traditionelle italienische Oper ist an die Grundgefühle gebunden; deren Gegensatz erzeugt ein einfaches menschliches Drama unter den Vorzeichen von Liebe und Hass, Freude und Traurigkeit, Entzücken und Verzweiflung. [...]

      Die Vielfalt dieser Konzeption führt zu Konsequenzen, die für das Verständnis der Ästhetik der italienischen Oper überaus wichtig sind sind. Sie erklären die hohe Gefühlsanspannung, den starken Stimmunggegensatz, den unfehlbaren dramatischen Zugriff und, musikalisch gesehen, die Konzentration auf die Melodie als das Element mit vitalem Zugang zu unseren Gefühlen. Die unmittelbarste Form der Melodie ist der Gesang, daher die Vormachtstellung der Singstimme in der italienischen Oper. Die menschliche Stimme ist das natürlichste Instrument und am meisten befähigt, sinnliche und emotionale Wirkungen hervorzurufen. Für den italienischen Opernkomponisten macht die Stimme fast die ganze Figur aus, und deshalb muss die Zeichnung der Figur in erster Linie durch die Gesangsstimme zustande kommen. Zudem ist die Stimme auch die klangliche Äußerung des Sexus, und als solche eine charakterisierende Kraft par excellence. Allein der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Stimme ist schon in sich dramatisch. Wenn wir die Gewalt und Sinnlichkeit der italienischen Stimme und die dramatische Kraft und erregende Eigenschaft der italienischen Sprache hinzunehmen wird verständlich, weshalb die italienische Oper jahrhundertelang Hauptwirkungen mit den Mitteln des Stimme erzielt hat. Diese Vorherrschaft der Stimme erklärt auch, weshalb die italienische Oper des 18. Jahrhunderts eine so fruchtbarer Boden für gesangliche Ausschreitungen wie die Koloratur-Arie, für den Kult der Stimmvirtuosen (Prima donna und primo uomo) und das Kastratenwesen werden konnte. In der italienischen Kantilene verbinden sich Rede, Gedanke und Empfindung zu solcher Einheit, dass man glauben könnte, die musikalische Phrase entstehe erst in dem Augenblick, in dem sie gesungen wird. Und eben dies verleiht der italienischen Opernarie ihre unwiderstehliche dramatische Wirkung.

      Monteverdi stand am Aufgang der italienischen Oper, Puccini an ihrem Untergang, beide verdeutlichen ebenso wie die lange Reihe von Opernkomponisten zwischen ihnen die vier Grundmerkmale der italienischen Opernkunst: umanità, sincerità, passione, effetto. ‚Effetto‘ bedeutet nicht bloß den augenfälligen Bühneneffekt, sondern muss auch als der Inbegriff aller dramatischer Faktoren verstanden werden. Keine wirklich italienische Oper vernachlässigt diese vier Punkte, wenngleich sie durch Zeit, Geschmack und Stil variiert werden. [...]

      In den Augen der italienischen [...] Komponisten ist das Opernhaus kein Tempel, keine moralische Anstalt, wie Schiller und Wagner wollten, sondern eine Arena, in der ein großes und vielschichtiges Publikum sich einfindet, um in angenehmer oder ergreifender Weise, oder beides zugleich, unterhalten zu werden. Verdi sagte, wenn er komponiere, sei er mit einem Auge bei der Kunst, mit dem anderen beim Publikum. Puccini forderte einen Gegenstand, der ein breites Publikum bezaubern konnte, „denn ich schreibe für Menschen jeglichen Schlages“. Die italienische Oper des 19. Jahrhunderts wendet sich an die Massen und möchte vom breiten Publikum verstanden werden. Bellini, Donizetti, Verdi und Puccini und ihre Zeitgenossen hätten ohne Zögern eine Äusserung Defoes unterschrieben: „Wenn ich nach dem vollkommenen Sprachstil gefragt würde, gäbe ich zur Antwort: der, in dem man sich fünfhundert gewöhnlichen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Idioten und Verrückte ausgenommen, gleichermaßen verständlich machen kann.“ Sie würden genau so bereitwillig Baudelaire zugestimmt haben, der in beabsichtigter Übertreibung schrieb: „Jedes Buch, das sich nicht an die Mehrzahl der Menschen wendet und zugleich Ansprüche an die Auffassungsgabe seine Leser stellt, ist ein dummes Buch.“ Die Kehrseite dieses Bemühens um ein breites Verständnis und Popularität sind Züge von Naivität und Vulgarität, die ein nichtitalienisches Publikum oftmals befremden. Gewiss verletzen manche Eigenschaften der italienischen Oper das Empfinden der strengen Puristen, der Intellektuellen, der Ästheten, der Menschen mit schrecklich verfeinertem Geschmack; aber man müsste schon dreist sein, um zu behaupten, dass kraftvolle Leidenschaftlichkeit mit rein ästhetischem Genuss unvereinbar sei, denn sie kann in der Tat ein Zeichen gesunden und unverdorbenen künstlerischen Instinktes sein. Ich zitiere noch einmal Baudelaire: ‚Die intellektuellen Autokraten, diejenigen, die Lob und Tadel austeilen, die Monopolisten in Geistesdingen, haben euch erzählt, dass ihr kein Recht habt zu fühlen und zu genießen, sie sind Pharisäer.‘“[36]

      So weit der kluge Mosco Carner. Man könnte die „intellektuellen Autokraten“ und die „Monopolisten in Geistesdingen“ durch „Regietheater-Regisseure“ ersetzen. Die Schlussfolgerung wäre dieselbe.

      Hätten die Regietheater-Regisseure, die den Großteil des heutigen Publikums mit ihren idiotischen Einfällen quälen und verärgern, all das Obgesagte gewusst und verstanden, hätten sie allen Beteiligten viel Ärger erspart.

      Ein erstes, charakteristisches Symptom, die Natur zu vergewaltigen, hatte schon Herr Wagner – auch er in dieser Hinsicht ein Vorläufer der Regietheater-Ideologie – höchstselbst erkennen lassen. Die berühmeste Gesangspädagogin ihrer Zeit, Mathilde Marchesi[37], hat ein aufschlussreiches Gespräch mit Wagner über Stimmenbehandlung festgehalten:

      Richard Wagner besuchte uns in Wien, und ich hatte über Gesang und Gesangeskunst eine eingehende Unterredung mit ihm, konnte mich jedoch über diesen Punkt nicht mit ihm einigen. Wagner behauptete nämlich, dass jede Stimme vollständig dem Willen des Componisten untergeordnet sein, ich dagegen, dass jeder Componist den Grenzen der verschiedenen Stimmgattungen streng Rechnung tragen müsse, wodurch Vortrag, Aussprache und Declamation nur gewinnen könnten. Wagner ist seiner Meinung treu geblieben, seiner Musik sind leider auch schon viele Stimmen zum Opfer gefallen und viele tüchtige Sänger und Sängerinnen der Kunst dadurch entzogen worden.[38]

      Selbstverständlich hat Frau Marchesi recht. Wagners Haltung in Sachen Stimmen ist nur mit jener eines Komponisten vergleichbar, der sich weigert, bei seiner Ausbildung das Fach Instrumentenkunde zu belegen, und später nicht das


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