Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt
Читать онлайн книгу.ein wenig auf den Zahn. Eine verständliche Vorsichtsmaßnahme, aber kaum mehr als Routine. Er durfte nicht den Eindruck haben, man wollte ihm etwas vorenthalten.
»Keine Atmosphäre der Geheimniskrämerei!, hatte F. gefordert. »Das wäre ein grober Fehler. Sie wissen ja:
Wo Geheimnisse sind, da versucht man ihnen auf die Spur zu kommen.«
Dass wir so viele Jahre unter den Augen der Ostdeutschen ungestört hatten arbeiten können, war unserer guten Tarnung zu verdanken. Es gab keinen Anlass für einen Verdacht, weder durch Nachbarn noch durch den Osten. Die Wände waren isoliert, die Wohnung angeblich verlassen, das Fenster undurchsichtig, und der Ausgang mündete im Nachbarhaus.
»Misstrauen ist ein beherrschender Zug der menschlichen Natur«, pflegte F. zu sagen. »Ich will sogar zugeben: ein sinnvoller. Die Evolution konnte nicht darauf verzichten.
Beobachten Sie nur die Tiere in der freien Natur: alles Fremde beäugen sie misstrauisch, fliehen oder versuchen sein Geheimnis zu ergründen. Und hat sich erst einmal der Keim eines Verdachtes festgesetzt, ist er durch keine Beteuerungen mehr aus der Welt zu schaffen. Der Mensch ist da noch konsequenter als das Tier.«
F. hätte seine eigene Krankheit kaum treffender beschreiben können. Denn Misstrauen – und der Preis, den man dafür bezahlte – war seine Berufskrankheit. Es war das, was blieb, wenn alle anderen Gefühle, die des Hasses, der Liebe, der Zärtlichkeit, des Humors längst verkümmert waren. Misstrauen und die Angst vor Fehlern.
Ein Arzt ist umsichtig, ein Seiltänzer vorsichtig, ein Buchhalter genau – aber jemand in unserer Position?
Es waren das Misstrauen und die Angst, die uns mit spöttischem, versteinert über die Zähne hochgeblecktem Grinsen, dünnlippig und fieberäugig, wie Orwells Großer Bruder über die Schultern sahen. Jede Angst ganz persönlich; und doch immer die gleiche. Wegen eines Fehlers hatte ich meinen Job als Staatsanwalt verloren. Ich war der jüngste Staatsanwalt der Republik gewesen, und ich war in der Gosse gelandet, ehe ich diesen merkwürdigen Posten übernommen hatte, der in keinem Berufskalender verzeichnet ist.
Ich wusste nicht, welcher Art F.s Ängste waren. Doch ich hegte keinen Zweifel daran, dass man sie mit hoher Wahrscheinlichkeit erriet, wenn man auf die üblichen Gründe tippte.
Ängste sind selten extravagant: Angst vor Degradierung, Lächerlichkeit, Gerede der Kollegen und Konkurrenten, Verlust von Privilegien, die man in seiner Position genoss, Angst vor der Presse, vor dem Eingeständnis der persönlichen Unfähigkeit, vor dem Entzug des Vertrauens durch Vorgesetzte, vor der Schelte der eigenen Frau (oder der Verachtung der Geliebten – ich hatte keine Ahnung, ob F. verheiratet war; er sprach nie über persönliche Dinge) …
All dies, so schien mir, waren bei Leo Kofler unbegründete Sorgen, denn er war ein leicht zu durchschauender Fall.
3
Ich sah aus dem Fenster, während Kruschinsky Kofler das Abendbrot servierte.
Es gab in eigenem Olivenöl geröstete Dosensardinen, Weißbrot, hartgekochte Eier und Tomaten.
Die Mauer war nicht mehr als dreißig Meter entfernt. Wenn ich das Nachtglas nahm, das neben dem L.D.A. stand, konnte ich in der Dunkelheit – von den hellen Bogenlampen strahlte immer einiges Licht herauf – das Gesicht des Mannes auf dem Wachturm sehen: ein deutsches Gesicht.
Er hätte damit ebenso gut auf dieser Seite der Mauer Versicherungspolicen verkaufen oder die Straße fegen können.
Das einzige, was mich daran immer wieder verblüffte, war die Leere, die es ausstrahlte. Acht Stunden lang Leere!
Über acht Stunden eine nahezu unbewegte Mimik – dieses Phänomen, das den Südländer am Nordländer so maßlos überrascht, wenn es ihm zum ersten Mal bewusst wird, dass sein Gesicht eine weitgehend unbewegte Masse ist. Kein Ausdruck des Erstaunens oder auch nur des Befremdens, der dem Mann auf dem Wachturm abverlangt wurde, wenn er hinuntersah in das gleißende Licht des Todesstreifens mit seinem Stacheldraht, den spanischen Reitern, den Betonhindernissen, die selbst jetzt noch, so viele Jahre nach dem vorgeblich geplanten Einmarsch des Westens in den Ostsektor, nach Süden ausgerichtet waren, als würde der Feind jeden Augenblick seinen NATO-Helm über die Mauer schieben …
Diese Grenze ist ein Eckpfeiler der Entspannung, stand auf einem weit entfernten Transparent am oberen Drittel einer Backsteinmauer, hinter der ein Betrieb für die Verarbeitung von Natursteinen lag.
Daneben ragte ein graues Gemäuer auf – ein Flachdach mit Turm und zwei Reihen schmaler Fensterchen wie Schießscharten – dessen Zweck ich nie hatte erfahren können. Es war ein verfallener Bau mit staubigen Scheiben, aber keine von ihnen zerworfen, wie das bei alten Häusern im Westen zu sein pflegt.
Hinter einem der Fenster hatte ich einmal eine Gestalt mit einem Fernglas herüberblicken sehen. Auch der Mann auf dem Wachturm sah manchmal zu uns herüber. Aber an der Art seiner Bewegungen – wie sein Fernglas über die Häuser des Westsektors streifte – erkannte ich, dass es reine Routine war.
Der Posten auf dem Wachturm wurde um Mitternacht abgelöst, zur selben Zeit, wenn die letzten Tagesbesucher aus dem Westsektor den Übergang Heinrich-Heine-Straße passierten. Selten sah man jemanden verspätet dort eintreffen, auch Familien mit Kindern bemühten sich, pünktlich zur vorgeschriebenen Zeit die Grenzstelle zu passieren – eine nun schon fast eingeborene Furcht vor der Macht und Willkür der Grenzpolizei.
Dabei waren es ganz verständige Burschen! Durch die Scheiben der Grenzbaracken konnte ich manchmal beobachten, wieder eine dem anderen den konfiszierten Westkaffee wegtrank oder wie sie in Magazinen blätterten, die auch bei uns bis vor wenigen Jahren noch unter dem Ladentisch gehandelt worden waren.
Nur wenig rechts vom Grenzübergang, ein paar hundert Meter neben dem unbebauten Feld, lag das Haus an der Roßstraße, in dem sich das Gegenstück zu unserem L.D.A. befand.
Anfangs war es mir unvorstellbar erschienen, dass die Anlage mit direktem Sichtkontakt arbeitete. Aber gewöhnlicher Funkverkehr ließ sich Orten, dieses System nicht. F. hatte sich die Mühe gemacht, mir auseinanderzusetzen, dass der Lichtstrahl nur ein vierhundert- oder sechshundertstel Millimeter dick war und seine Dauer jenseits der schnellsten Kameraverschlüsse lag (die genauen Daten sind mir entfallen, ich bin technisch nicht besonders versiert) und damit für das menschliche Auge ebenso wie für technische Geräte unsichtbar blieb.
»Sobald man an den technischen Innereien der Anlage herumschraubt, um an ihr Konstruktionsprinzip zu gelangen«, hatte er warnend erklärt, »explodiert das Ding. Und nicht bloß mit Silvesterknall, das können Sie mir glauben. Der Explosionsmechanismus ist mindestens so neu wie das Übertragungsprinzip.«
In all den Monaten hatte ich nie jemanden in dem Dachfenster gegenüber entdecken können.
Der Mann drüben sollte ein ehemaliger Dorfschullehrer sein. Sie hatten die gleiche Doppelscheibe mit der künstlich eingespiegelten Wohnzimmergardine installiert. Abends wurde das Bild einer Wohnzimmerlampe hinzuprojiziert; ihr beigefarbener geblümter Schirm – mit Fransen und Messingstange darunter – verbreitete anheimelndes Licht.
Kruschinsky kam mit einem Tablett auf Koflers Zimmer. »Schreibt an seinem Buch«, murmelte er schräg über die Schulter. »Das Westfernsehen sei genauso schlecht wie ihres drüben. Wissen Sie, was er verlangt hat – ernsthaft?«
Ich schüttelte den Kopf
»Laurel & Hardy-Filme! Er will sie sich über die Video-Anlage ansehen. Ich dachte zuerst, er mache Scherze. Darauf sagte er ziemlich ungehalten: Dick und Doof, falls Ihnen das eher ein Begriff ist – ein Kerl mit seiner Bildung!«
»Besorgen Sie ihm zwei oder drei Kassetten«, nickte ich. »Morgen früh. Er soll seinen Spaß haben.«
Kruschinsky ging an den Datenaustauscher, an dem zwei flackernde rote Leuchtdioden anzeigten, dass er in Betrieb war, setzte das Tablett ab und zog den Papierstreifen aus dem Drucker.
»Lesen Sie das«, meinte er. »Ich