Tumult der Seele. Beate Klepper

Читать онлайн книгу.

Tumult der Seele - Beate Klepper


Скачать книгу
erschien Maria als schwere Aufgabe, zumal sie fast jeden Tag die flanierenden, feinen Mamsellen auf dem Wall sah, die bei jedem Sonnenstrahl ihre Fächer und Schirmchen öffneten, unter sich tuschelten und ulkten, wenn die Studenten vorbeigingen. Sie hingen am Arm ihrer aufmerksamen Verehrer oder ihrer Brüder und Väter, den stattlichen Familienoberhäuptern, den Herren Assessoren, Professoren, Hof- und sonstigen Räten, und ließen sich von ihnen die Welt erklären oder reisten mit ihnen nach Hannover oder Hamburg. Wenn deren Mütter von Bescheidenheit sprachen, ging es wohl darum, den Perückenmacher nicht öfter als notwendig kommen zu lassen, damit die Eitelkeit gezügelt würde. Vornehmlich drüben im Westen, wo die Alleestraße auf den Wall traf, fand man die Reichen der Stadt, und es war der Platz, an dem der Verkauf der Blumen den besten Ertrag brachte. Gütige, ältere Damen streichelten Maria süßlich lächelnd über den Kopf und flöteten:

      »Wie nett!«, und »Welch hübsches Kind!«

      Maria dankte und knickste. Sie knickste auch, wenn ihr die Herren mit Daumen und Zeigefinger in die Backen zwickten, wie man es bei Kindern so tut. Bei denen, die in die hinteren Backen zwickten, schwieg sie. Rot wurde sie dabei längst nicht mehr. Ein wenig Stolz zu zeigen, hatte sich besser bewährt. Etwas erwidern durfte man bestenfalls bei den gemeineren Männern, ansonsten sollte man jedes Wort bedacht aussprechen und sich bescheiden.

      So trug Maria diese Bescheidenheit, die man von ihr forderte, auch hinüber in die Albani-Schule, in den sparsamen Unterricht des Opfermanns, des Küsters, dessen Wohnhaus als Schule diente. Nicht mehr als eine gestreckte Bibelstunde hatte er zu bieten. Das bisschen Brot für den Geist, das man den armen Kindern anbot, damit sie die rechte Kenntnis als Duldende in der Welt erhielten, war das Lernen der Psalmen, die sie nur noch herunterschnatterten. Zäh war dieses Brot, aber Maria und die anderen nahmen es hin.

      Der alte Herr Pastor hatte die Aufsicht über den Unterricht und übte seine Milde redlich. Er senkte seine Blicke vor den Unflätigkeiten, die seine Schützlinge von sich gaben, doch er nahm sich als Hirte ernst und besaß auch einen Rohrstock, mit dem er seine Schafe zurechtwies. Nicht wenig Kraft verwandte er darauf, er war ein großer Mann, und seine Hiebe trugen die Wucht einer einsamen, unzufriedenen Seele in sich. Unter Armen lebte er, die ihm mit Ehrfurcht begegneten, jedoch den Menschen nicht als Ihresgleichen ansahen. Ein Studierter war er halt, der Herr Pastor, und aus den Augen der Gemeinde starrte ihm dieselbe verwunderte Leere entgegen, die ihm auch die Schüler zeigten, wenn sie von ihren Eltern überhaupt in den Unterricht geschickt wurden.

      Glücklich waren die Tage, an denen die Schüler ihrer Langeweile nicht entkamen und sich Gähnen breit machte. Verflucht waren die Tage, an welchen sie wie vom Hafer gestochen erschienen, und es war wie verhext, wenn das Nahen der warmen Jahreszeit zu fühlen war. Da grölten sie schon auf dem Schulweg, und im Unterricht hagelte es Witze und Frechheiten. Kopflos verlor der Opfermann die Gewalt über die Herde, und er schlug auf seine Zöglinge ein, verfluchte sein Amt und seine Aufgabe. Die Geschlagenen duckten sich, und aus den anderen Bänken quoll prustendes Gelächter. Die Mädchen kicherten oder kreischten wie Gänse. Maria saß immer mit der gleichaltrigen Tochter des Briefträgers Schilling beisammen, die beim Lachen einen hochroten Kopf bekam. Quietschte die Kreide auf der Schiefertafel, kiekste ihre Stimme kurz auf wie bei einem getretenen Hündchen. Die Köpfe steckten die beiden zusammen und wisperten und kicherten, auch wenn es nichts zu kichern gab. Wenn heute ein Tag zum Lachen war, so sollte man lachen! Es gab sonst wenig zu lachen. Der Rohrstock auf der Hand war nicht zum Lachen, und trotzdem schallte wieder Gelächter aus der Kehle. Und wenn dem Opfermann vor Wut das Wasser in die Augen stieg, war das auch nicht humorig, und dessen ungeachtet konnte man noch auf dem Heimweg nach der Schule diesen Anblick furchtbar lustig finden.

      Alle rannten über den Kirchhof, die Jungen johlend, die Röcke der Mädchen wehten leicht und ausgelassen um die nackten Knie. Nichts konnte heute Marias gute Laune dämpfen, und doch, noch bevor sie den Kirchhof verlassen hatten, sah Maria Betty Vobbe von der Wendenstraße her um die Ecke biegen. In dem Korb, den Betty bei sich trug, befanden sich vermutlich Leckerbissen, die sie ihren Eltern mitbrachte. Maria durfte davon kosten, wenn ihr Bettys Laune diese Gunst gewährte, und beim Mittagessen würde sie zum Überfluss vor Marias Nase sitzen.

      »Na so was, die Betty«, riefen die Jungen und die Söhne der bettelarmen Witwe Angerstein, denen die Kleider nur noch als Fetzen vom Leib hingen und ihnen jede Würde raubten, begrüßten Betty mit Pfiffen. Der Älteste klatschte in die Hände und rief:

      »Hey, Betty, wie viele englische fucking Stuffs hast du schon gehabt? Hä?«

      Betty warf den Kopf zurück.

      »Saubande!«

      Die Mädchen bogen sich vor Lachen.

      »Meinst du, sie treibt es wirklich mit den Engländern, die bei ihr im Laden verkehren?«, fragte Christiana Schilling. Genüsslich zuckte Maria mit den Achseln. »Wer weiß?«

      Eine andere rief unüberhörbar: »Na sicher verkehrt sie mit ihnen, speziell im Lagerschuppen.«

      Schnaubend wandte sich Betty vor ihrem Elternhaus noch einmal um.

      »Ach, ihr Schandmäuler! Ihr werdet froh sein, wenn ihr überhaupt einen anständigen, sauberen Schwanz in eurem Leben kennenlernt!«

      Unter »Buhs« und »Pfuis« löste sich die Gruppe auf, und Maria folgte Betty ins Haus.

      Drinnen setzte Betty eine herablassende Miene auf, die ihre Erregung verbergen sollte. Erstaunlich wenig sprach sie heute und warf begutachtende Blicke auf Marias oberste Hemdknöpfe, die offenstanden.

      Nach der Mahlzeit holte sich Betty bei der Ziege im Garten einen Schluck Milch. Sie schob die störrischen Hinterbeine des Tieres geschickt zur Seite, und das Euter ließ die Milch reichlich in die Schale sprudeln. Ein weißes Bärtchen blieb auf Bettys Oberlippe zurück und fast bemerkte sie Maria nicht, die mit Wäsche unter dem Arm plötzlich neben der Ziege stand.

      »Na, trägst auch schon das Hemd offen?«, stichelte Betty keck und wischte sich die Milch ab.

      »Bei der Wärme, ja. Und? Sind die Engländer wirklich so sauber?« Maria legte die Wäsche in den Waschtrog.

      Bettys zunächst scharfer Blick wandelte sich in verschmitztes Grinsen.

      »Ach, Maria - wenn man wüsste, dass es einer ernst meint. Aber ich warne dich, halt bloß dein dummes Schandmaul! - Eigentlich geht dich das gar nichts an!«

      »Freilich geht‘s mich nichts an. Aber hast du keine Angst? Was, wenn dir einer ein Kind macht?«

      »Ach weißt du, die Aufmerksamkeiten, die Geschenke, die Küsse, das ist eben schön. Und wenn einer mal unter die Röcke will - was soll‘s.« Bettys Augen waren beim Lachen nur noch schmale Spalten, und ihre roten Backen stachen gegen die weiße Haube stark ab.

      Jedes Mal wenn sie zu einem ihrer nun seltenen Besuche ins Haus kam, schien sie älter, eigentlich müde, der langsamen Art ihrer Mutter immer ähnlicher. Und so leichthin sagte sie: »Was soll’s.«

      Marias Hand kraulte den Nacken der Ziege, und Betty griff nach dieser Hand.

      »Ich sag dir das nur, weil du kein Kind mehr bist. Man kann nicht früh genug Bescheid wissen. Gesund müssen die Burschen aussehen, wenn du dich mit einem einlässt. Nicht schwindsüchtig oder verhurt dürfen sie sein. Aber manche tragen die Franzosenkrankheit mit sich rum und sehen selber aus wie das blühende Leben. Elende Sauwedel! Unsere lieben Engländer, die sie uns zum Studieren schicken, sind da keine Ausnahmen. Lass bloß keinen im Glauben, du gehst gleich auf alles ein. Zier dich ruhig ein bisschen. Am besten warte so lange wie möglich damit. So, und jetzt halt bloß dein Maul! Ich hab dir nichts erzählt. Bye, Mary!« Sie erhob sich, wischte mit der Schürze die Milchschale aus und ging ins Haus.

      Eher wäre Maria die Zunge verfault, bevor sie Betty einen Dank gesagt hätte. Wo Stolz auf Stolz trifft, schlagen Blitze. Doch Maria gestand sich ein, einmal mehr von Betty beeindruckt worden zu sein. Allerdings, alles, was Betty sagte, trug einen bitteren Unterton, als verachtete sie die Männer. Verachtung lag oft in den Stimmen der Erwachsenen, und so wird Betty wohl erwachsen sein.

      In der Werkstatt setzte ein Webstuhl ein, dann der zweite, und


Скачать книгу