Unter Barbaren. Ralph Ardnassak

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Unter Barbaren - Ralph Ardnassak


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entließ; abgerissene Sozialhilfeempfänger, zahnlos, zittrig, den Bauch voller Wut und Bier; Studenten, die keine Arbeit finden; mutlose Künstler; gewesene Geschäftsleute, deren Firmen in Konkurs gingen, die an Eides statt ihre Mittellosigkeit beschworen; verarmte Handwerker; politisch nicht mehr tragbare Lehrer; Wolgadeutsche, aber auch erfolgreiche Jungunternehmer.

      Sie kommen, auch zu Klatt in das Büro. Und sie sitzen ihm gegenüber, an dem Tisch mit der von Kaffeeflecken verunzierten Decke. Sie sitzen hier, kneten die Hände und schildern Klatt ihr Leben. Sie sitzen und sehen den Silberstreif am Horizont, der Einkommen heißt. Einkommen für ein Jahr oder für anderthalb Jahre. Sie schildern Klatt ihr Leben, denn sie wissen, es ist so einfach, sich in einen Raum zu setzen und zuzuhören. Ein Einkommen, für den Mut zur Selbständigkeit, für das Zuhören! Ein leichtverdientes Einkommen! Zu leicht verdient, schimpft die Verkäuferin im „Kaufland“, die eine Vierzig-Stunden-Woche hat und dafür achthundert Mark netto nach Hause bringt. Das deckt die Miete und die Nebenkosten, Wasser, Heizung und so weiter!

      Klatt kennt die Debatte. Er kennt die Vorbehalte. Aber er weiß, ohne die Gelder würde sich kaum jemand in den Dschungel der Selbständigkeit wagen. Und er weiß: er hat ein Einkommen, so lange die Gelder aus Brüssel und aus Magdeburg fließen! Und sie fließen und fließen, Millionen fließen. Sie fließen in den kleinen Friseurladen in der Altstadt, in den Second-Hand-Shop des dicken Herrn unweit der Stadt, in den Laden des jungen Mannes, der mit Militaria handelt, und der Klatt anbot, alles besorgen zu können: die SS-Uniform nebst Zubehör; die besondere Rarität der Uniform eines Offiziers aus Rommels Wüstenkorps; den Ehrendegen, den Himmler an ein handverlesenes Klientel SS-Offiziere verlieh; die komplette Uniform eines NVA-Generals. Sie fließen und fließen, die Gelder aus Brüssel und Magdeburg, ohne die der Gründerboom in Sachsen-Anhalt nicht stattfinden würde, ohne die die Arbeitslosigkeit um ein Vielfaches höher wäre und die Hoffnungslosigkeit größer und die Wut im Bauch. Sie fließen, die Gelder, ohne die auch Klatt ohne Arbeit wäre und verachtet, ein Parasit am Leib seiner Familie!

      Sie fließen, die Gelder, noch zwei, vielleicht noch drei Jahre lang! Was danach kommt, weiß niemand! Die Beiden wissen es nicht, Klatt weiß es nicht!

      Klatt muss ihnen also Grundkenntnisse vermitteln. Grundkenntnisse der Volks- und Betriebswirtschaftslehre, des Vertriebes, des Handels- und Vertragsrechtes. Seit beinahe zwei Jahren tut Klatt diese Arbeit. Er bemüht sich, sie gut zu machen. Man muss vieles lesen. Man muss informiert sein über dies und jenes. Man muss mit den Menschen reden auf der Straße, um zu wissen, was sie erwarten von dem Produkt im Laden. Mit den Menschen auf der Straße muss man reden und mit den Entscheidungsträgern in den Rathäusern und den Gewerbeämtern. Aber dazu ist keine Zeit! Es ist keine Zeit zum Lesen und zum Reden, denn Klatt muss seine Seminare halten, je mehr, desto besser! Desto besser für das Institut, das sich finanzieren muss! Desto besser für Klatt, der sein Gehalt einspielen muss, damit er bezahlt werden kann! Damit er sein Einkommen behält!

      Also bleibt keine Zeit zum Lesen, keine Zeit zum Reden!

      Man spult seinen Stoff herunter, wie eine dicke Rolle Garn. Man spult und spult und spult! Und irgendwann einmal ist die Rolle leer gewickelt. Dann ist man am Ende mit seinem Stoff! Dann hat man nichts mehr zu sagen, außer ein paar Plattheiten vielleicht! So sind die Ängste von Klatt beschaffen!

      Aber Klatt müht sich redlich. Er hat seinen Stoff aufbereitet, mit Beispielen und Aufgaben und Grafiken, denn es heißt, der Mensch behält nur zwanzig Prozent vom Gehörten, fünfzig Prozent vom Gesehenen, aber beinahe fünfundsiebzig Prozent von dem, was er handelnd nachvollzieht.

      Klatt müht sich redlich. Er hat seinen Stoff aufbereitet, auf unzähligen Folien. Er hat ihn im Kopf, seinen Stoff. Hunderte Male hat er ihn entwickelt vor einem Seminar, hat ihn an die Tafel geschrieben, hat ihn vordeklamiert, auf und ab gehend vor dem Seminar, wie es seine Art ist, zu unterrichten.

      Klatt weiß, dass die Theorie stimmt. Hier kann er glänzen. Aber es fehlen die praktischen Beispiele, die Erfahrungen. Das macht ihn unsicher. Er weiß, dass der Stoff oft zu theoretisch ist, zu kopflastig für die Ansprüche des kleinen Ladeninhabers, den die großen Theorien aus den Lehrbüchern wenig kümmern. Den kleinen Ladeninhaber langweilen die komplizierten Formeln, die Kurven, die Zitate, die Thesen, die für Großunternehmen gemachten Beispiele. Und dann liest er ungeniert in der Bild-Zeitung oder er macht sein Kreuzworträtsel im Seminar, schwatzt laut mit dem Nachbarn, lacht oder schließt ganz einfach die Augen. Dann kann man zynisch werden oder laut, wie Herr Zeckert es tut, und man kann die Leute darauf hinweisen, dass sie Geld dafür bekommen, hier zuzuhören, viel Geld. Mehr Geld, als mancher draußen verdient. Auch das sagt Herr Zeckert, in den wenigen Seminaren, die er noch hält. Er sagt es den Leuten auf den Kopf zu, als wären es kleine Kinder und nicht erwachsene Leute. Er sagt zu ihnen: „Wenn es Ihnen nicht passt, dann gehen Sie bitte! Wir halten Sie nicht!“ So sagt es Herr Zeckert, wenn die Seminarteilnehmer nicht zuhören wollen oder Zeitung lesen oder Schwatzen. „Meine Damen und Herren!“, so sagt er es, „Gehen Sie doch bitte nach Hause, wenn Sie meine Ausführungen nicht interessieren!“ Desinteresse ist unhöflich, meint Herr Zeckert. Desinteresse kränkt ihn. Deshalb sagt er solche Worte. Aber damit kränkt er die Leute im Seminar. Sie schimpfen: „Der Zeckert kriegt ein festes Gehalt jeden Monat! Den Zeckert interessieren wir gar nicht! Der Zeckert hat längst vergessen, dass er unserer Anwesenheit sein Einkommen verdankt! Wenn wir wegbleiben, kann der Zeckert dichtmachen!“ So sagen sie. Klatt hört ihnen geduldig zu. Er weiß, sie haben in vielem Recht. Klatt kränkt es auch, wenn niemand zuhört, wenn geschwatzt und gelesen wird. Es untergräbt sein Selbstvertrauen. Er wird unsicher. Aber er braucht diese Leute. Und längst schon spult Klatt nicht mehr stur seinen Stoff herunter. Er achtet auf die Leute im Seminar. Er weiß, er muss mit ihnen ins Gespräch kommen. Sie sind keine Schulkinder und keine Studenten! Nein, es sind erwachsene Menschen mit Sorgen und Nöten. Es sind aus der beruflichen Bahn Geworfene, die ein bisschen Betreuung und Hilfe suchen – und natürlich zuallererst ein Einkommen! Das ist der Modus vivendi, den Klatt gefunden hat. Zuhören, wie schwer es auch fallen mag und auf die Leute eingehen. Dafür sind sie dankbar. Sie mögen Klatt, so hofft er.

      Man könnte es besser machen, weiß Klatt, viel besser. Aber niemand scheint ein Interesse daran zu haben. Alle sind zufrieden. Die Seminarteilnehmer sind zufrieden, wenn ihr Geld auf dem Konto ist und man sie in Ruhe lässt. Die Dozenten sind zufrieden, wenn ihr Gehalt auf dem Konto ist und die Seminarteilnehmer sie in Ruhe lassen. Keine Seite tut der anderen etwas zuleide! So arrangiert man sich scheinbar miteinander! Die Beiden haben das längst erkannt. Sie verschanzen sich in ihrem Büro hinter einem Berg von Verwaltungsarbeit. Es ist, als fürchten sie die Seminare, die Fragen, das Desinteresse. Sie gehen den Menschen aus dem Wege. Nie haben sie Zeit, immer sind sie beschäftigt hinter den Bildschirmen ihrer Computer. Die Neue, noch in der Probezeit und besorgt um ihr Einkommen, schirmt sie gegen alles ab.

      Klatt hat die Hauptlast der Seminare zu tragen. Wieder und wieder muss er einspringen, Unterrichtstage übernehmen. Tag um Tag steht er vor den Teilnehmern. Seine Wissensbestände sind ausgequetscht wie ein trockener Schwamm. Die Beiden, in ihrem Büro, haben längst den Kontakt zu den Leuten im Seminarraum verloren. Klatt, bemüht, sich um jeden Einzelnen zu kümmern, wird verheizt. Groll darüber sammelt sich in ihm. Aber er schweigt. Er weiß, dass es gefährlich sein kann, zu reden, deshalb schweigt er. Zu schnell wäre Ersatz zur Stelle. Die Beiden wissen, dass er das weiß. So herrscht Schweigen. Und Klatt, verunsichert, überlastet, versucht, seine Arbeit zu tun, so gut, als eben möglich. Uli wusste um diese Dinge. Aber Uli ist jetzt weit weg und sehr erfolgreich. Uli hat ihn vergessen. Und er hat nun niemanden mehr, der ihn versteht. Nein, er muss schweigen und es geschehen lassen. Auch hier, im Institut muss er schweigen und es geschehen lassen, ebenso, wie daheim. Klatt ist schwach. Ganz besonders, seit Uli nicht mehr da ist! Er ist schwach und wehrlos! Ein Mensch, der irgendwann einmal auf der Strecke bleiben muss, weil es naturgesetzlich eben einmal so ist, dass Menschen wie er auf der Strecke bleiben. Leute wie Uli hätten es vielleicht nicht aufhalten können, aber doch ein wenig hinauszögern können. Jetzt aber, würde alles viel schneller gehen.

      „Es hilft ja alles nichts!“, sagt Klatt in das Schwatzen und Rauchen und Kaffeetrinken hinein: „Ein Bisschen müssen wir machen!“ Es klingt beinahe entschuldigend, so, als tut es Klatt leid, dass er so wenig für die Seminarteilnehmer tun kann. Und so ist es gemeint. So fühlt sich Klatt!


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