müllersches volksbad. Markus Seidel

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müllersches volksbad - Markus Seidel


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zu erzählen, ihm fehlte komplett das Gefühl für eingängige Bilder und einen anständigen Plot, seine Sprache war ohne Rhythmus, seine Dialoge waren lachhaft - kein mir bekannter Mensch sprach so wie die blassen und konturlosen Figuren seines Buches. Zugegebenermaßen war Krumbiegel eine imposante Erscheinung, groß und kräftig - ein Frauentyp, zweifellos. Vielleicht lag es daran. Die Medien rissen sich jedenfalls um ihn. Seine gepflegt nachlässig rasierte Visage, sein schiefes Grinsen mit den makellosen Zähnen sah man überall in den Zeitschriften. Ich blätterte jedes Mal weiter, wenn ich ihn irgendwo entdeckte. Ein Bursche ohne jede Überraschung, ein Stromschwimmer, medioker und unsexy bis zum Umfallen.

      Mit seinem zweiten Buch, jenem also, das ich zur Zeit las, trieb er es dann noch auf die Spitze. Spätestens jetzt, dachte ich, würde man sehen, dass er ein im Grunde vollkommen talentfreier Schreiber war – kaum eine gelungene Formulierung fand sich in diesem Buch, leblose Figuren bevölkerten die Szene, eine durch und durch fade und konstruierte Handlung. Es war lachhaft. Wahrscheinlich war es das jetzt mit Krumbiegel. Nach einem Buch hatte er sich schon ausgeschrieben. So etwas kam schließlich nicht selten vor. Es würde einen deftigen Verriss geben. Vermutlich nicht nur von mir.

      Gerade steckte ich in einem besonders missglückten Absatz, als das Telefon klingelte. Ich ließ es läuten und las weiter. Nach sechs- oder siebenmaligem Klingeln wurde endlich aufgelegt. Kurze Zeit später klingelte es erneut. Inzwischen hatte ich den Absatz fertig gelesen und nahm den Hörer ab. Der Anrufer stellte sich als Paul Sperber vor, er sei ein guter Freund von Alexander. Natürlich kannte ich ihn nicht. Strenggenommen kannte ich niemanden von Alexanders Freunden. Ich kannte bloß Ulrike. Und auch die nur schlecht.

      Ob ich wisse, wo mein Bruder sei, fragte dieser Paul mit tiefer Stimme. Alexander habe sich seit Tagen nicht mehr bei ihm gemeldet, und er mache sich allmählich ernsthaft Sorgen.

      Oben an der Zimmerdecke sah ich in diesem Moment eine Spinne ihr Netz bauen; wie in aller Welt kommen die bloß immer in meine Wohnung, dachte ich.

      Ob ich noch da sei, wollte Paul wissen. Ich nickte und sagte, jaja, schon, aber ich wüsste von nichts. Knapp zwei Wochen zuvor hatte ich das letzte Mal mit Alexander telefoniert und ihm mitgeteilt, dass ich den Urlaub bewilligt bekommen hätte und also nach München fahren könne. Wann er, Paul, das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, fragte ich.

      „Vor drei Tagen“, erwiderte Paul. Ich stutzte. Hatten die beiden etwa eine Standleitung? Wer überhaupt war dieser Paul Sperber? Wieso hatte mir Alexander nie von ihm erzählt? Anscheinend war er ja einer seiner besten Freunde. Vor drei Tagen also hatten die beiden das letzte Mal telefoniert. Wann hatte ich das letzte Mal mit meinem besten Freund gesprochen? Wer eigentlich war mein bester Freund? In der Leitung rauschte es jetzt merkwürdig, Paul Sperber räusperte sich. Er wartete auf eine Antwort. „Und da machst du dir jetzt schon Sorgen?“, fragte ich.

      „Wir wollten gemeinsam nach Florenz fahren, Alexander und ich. Ich kann ihn aber seit Tagen nicht erreichen. Er hat sich nicht einmal abgemeldet, nur sein Anrufbeantworter ist eingeschaltet! Ich habe auch schon versucht, Ulrike anzurufen, aber die ist auch verschwunden. Jedenfalls geht sie nichts ans Telefon.“

      Er hat sich nicht abgemeldet – was bitteschön sollte das jetzt wieder heißen? Hatte Alexander sich bei diesem Paul Sperber abzumelden? Was für eine Art Beziehung führten die beiden eigentlich? Paul Sperber, das klang wie ein Schauspieler, dachte ich. In den Hauptrollen: Iris Berben und Paul Sperber. Oder wie eine Figur aus einer schlechten Vorabendserie. Oder wie ein Kriminalhauptkommissar: Sperber ermittelt. Oder: Ein Fall für Sperber. So etwas.

      „Ich dachte, er wollte mit Ulrike fahren“, sagte ich. „Ulrike ist natürlich auch dabei“, meinte Paul. „Alexander und ich wollten zusammen mit ihr nach Florenz.“

      Allmählich dämmerte es mir. „Aha, so ist das also“, sagte ich. „Ihr zwei zusammen mit Ulrike.“ Es entstand eine kurze und irgendwie unangenehme Pause.

      „Wie ist was? Was meinst du?“ Dieser Paul wirkte jetzt etwas nervös. Wahrscheinlich ist er schwul, dachte ich. Verliebt in meinen Bruder. Und Alexander? Bislang waren mir eigentlich keine entsprechenden Neigungen an ihm aufgefallen. Mir fiel ein Kollege ein, Frank Busch, einer der Layouter bei der Zeitung, für die ich schrieb. Er war elf Jahre verheiratet gewesen. Nach elf Jahren Ehe hatte er sich scheiden lassen, weil er nicht mehr verheimlichen wollte, dass er eigentlich schwul war. Niemand in der Redaktion hatte davon gewusst. Hinterher hatten es alle geahnt. Aber Alexander? Ausgeschlossen!

      „Was willst du damit sagen?“, fragte dieser Paul noch einmal.

      „Na, ihr beide“, sagte ich jetzt. „Du und Alexander. Und Ulrike. Nach Florenz. Ihr drei. Zusammen...!“ Irgendwie lief ich ins Leere.

      „Worauf willst du eigentlich hinaus?“, hörte ich Paul fragen.

      „Ach, vergiss es, Paul!“ Ich versuchte schleunigst, zurück zum Thema zu kommen. „Hast du es auf seinem Handy versucht?“

      Meine Frage hatte er entweder nicht gehört oder er hielt sie für überflüssig, jedenfalls blieb sie unbeantwortet. „Wo kann er bloß stecken?“, murmelte er stattdessen. Dann ein zweites Mal: „Wo kann er bloß stecken?“ Seine Verzweiflung schien offenbar zu wachsen, je länger er mit mir sprach. Ich musste etwas unternehmen.

      „Warte noch ein paar Tage“, versuchte ich ihn zu beruhigen, „er wird sich schon noch melden!“ Schon während ich das sagte, wurde mir klar, dass das nicht wirklich einfallsreich und beruhigend war.

      „Ich würde ja auch zu ihm fahren“, meinte er, „aber ich bin zur Zeit auf Lesereise.“

      Also auch ein Schriftsteller, dachte ich. Paul Sperber? Nie gehört. Er ist also auf Lesereise? Dann kann er so unbekannt eigentlich gar nicht sein. Schließlich macht nicht jeder Vorstadtschreiber gleich eine Lesereise. Wieder einmal fiel mir auf, dass ich zu viele junge Schriftsteller einfach nicht kannte. Vielleicht sollte ich mehr Zeitung lesen und mehr fernsehen, dachte ich. Natürlich ahnte ich, was er wollte. Ich sollte fahren.

      „Ich mach dir einen Vorschlag“, sagte ich. „Wenn er sich bis übermorgen nicht gemeldet hat, fahre ich ein paar Tage früher nach München und sehe nach dem rechten. Einverstanden?“ Noch im selben Moment, als ich das sagte, bereute ich es schon wieder. Bloß weil ich es jetzt mit einem hysterischen homosexuellen Freund meines Bruders zu tun hatte, wurde ich gleich weich und machte voreilige Angebote.

      „Ja, wenn das möglich ist?!“, murmelte er. Ich bemerkte die Überraschung und Dankbarkeit in seiner Stimme. „Machs gut“, hörte ich ihn sagen. „Ich melde mich wieder.“

      „Keine Sorge. Ich kümmere mich schon drum“, sagte ich, aber da hatte Paul schon aufgelegt.

      Nach dem Gespräch fragte ich mich, wie er an meine Telefonnummer gekommen war. Ich stand nicht im Telefonbuch. Ob Alexander sie ihm gegeben hatte? Das nächste Mal würde ich Paul danach fragen.

      Ich versuchte es dann selbst bei Alexander, erst auf dem Festnetz (nur Anrufbeantworter), dann auf dem Handy (nur Mailbox). Ich hinterließ keine Nachrichten. Unsere Eltern waren seit zwei Wochen im Urlaub in den Staaten. Ich wollte sie nicht beunruhigen und würde sie also nicht informieren. Wie auch? Sie reisten mit einem gemieteten Wohnmobil kreuz und quer durch Nordamerika, ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie gegenwärtig steckten. Ein Handy besaßen sie nicht. Wahrscheinlich ist alles bloß ein einziges Missverständnis, dachte ich. Dann probierte ich es bei Ulrike, aber auch da nahm niemand ab. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein, ich hinterließ eine Nachricht mit der Bitte um Rückruf.

      3

      Mit dem Buch von Krumbiegel setzte ich mich wieder auf das Sofa. Bis zum nächsten Tag musste die Kritik geschrieben sein. Es lagen noch vier Kapitel vor mir, sechzig Seiten. Nach einem weiteren schauderhaften, kurzen Kapitel blätterte ich vor und las den Rest bloß noch flüchtig und quer, alle vier oder fünf Seiten ein paar Zeilen, gelegentlich sogar einen ganzen Absatz. Das genügte. Selbst der Schluss des Romans war dann eine witzlose Trostlosigkeit. Ich hatte es nicht anders erwartet. Fast war ich beruhigt darüber. Ich setzte


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