Das ERGOS-Projekt. Christian Friedrich Schultze

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Das ERGOS-Projekt - Christian Friedrich Schultze


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mit seinem Vater und hätte sich gewünscht, dass dieser bei der Geburt seines Sohnes bei ihr gewesen wäre. Stattdessen kam in Abständen von vielleicht zwanzig Minuten der diensthabende junge Stationsarzt in den großen Raum, besuchte alle durch die spanischen Wände abgeteilten Wehenboxen nacheinander und hielt den Gebärenden sogar beim Pulsmessen minutenweise die Hand.

      Merkwürdigerweise, so berichtete ihm seine Mutter einmal, als er an der Schwelle des Erwachsenwerdens stand, habe sie dieses Händchenhalten beruhigt und ihre Urängste ein wenig gemildert, obwohl der junge Assistenzarzt erstens verdächtig gut aussah, weil er Alain Delon ähnelte, andererseits aber in seinen Jeans und dem roten Blazer offenbar bereits auf dem Nachhauseweg gewesen war.

      Als der Geburtsvorgang richtig begann, war dieser junge Mann leider nicht mehr zugegen, sondern statt seiner eine ältere und ganz merkbar erfahrene Hebamme, die, als Sebastian ans Licht des Kreißsaales des Zeuthener Kreiskrankenhauses geschlüpft war, lediglich trocken bemerkte: „He, der Kleine hat ja ein bemerkenswertes Teil. Der wird mal ein guter Liebhaber.“

      Das hatte seine Mutter ziemlich schockiert, weil solche profane Art, einen neuen Menschen auf dem Erdball zu begrüßen, nicht in ihr bisheriges Weltbild passte. Außerdem kam ihr das, was sie gerade in den vergangenen Stunden geleistet hatte, entgegen allen materialistischen Weltsichten ihres Landes, als etwas Übermenschliches und Einmaliges vor. Sebastians Vater soll jene Nacht, nachdem er spätnachmittags pflichtgemäß eine Parteiversammlung absolviert hatte, auf einer privaten Tanzparty gesichtet worden sein.

      Das Kind wuchs unter der Obhut seiner werktätigen Eltern und der sozialistischen Jugendeinrichtungen, von der Kinderkrippe über den Kindergarten, zur Grundschule und zur Zeuthener erweiterten Oberschule, ohne größere Zwischenfälle heran. Schon im Kindergarten hatte sich offenbart, dass dieser Junge außergewöhnliche Begabungen in logischen Bereichen hatte. Daher konnte er auf Betreiben seiner gesellschaftlich beflissenen Eltern ein Jahr früher als normal eingeschult werden. Da er von Anfang an in den Fächern Mathematik und später auch in Physik überdurchschnittliche Leistungen zeigte, wurde er schon frühzeitig zu den Mathematikolympiaden des sozialistischen Staatenbundes gesandt.

      Nachdem er den Mittelschulabschluss mit einer glatten Eins gemacht hatte, wurde er auf Anraten seiner Lehrer, des FdJ-Aktives der Schule und weiterer Freunde und Bekannten auf die Mathematik-Spezialschule nach Berlin-Weißensee delegiert. Dies förderte seine genetisch bedingte Neugier auf Neues, Anderes, Fremdes, über seinen Ort und seinen Staat, der ihm bisher alles gegeben hatte, über die gesellschaftlich vorgegebenen Grenzen hinaus. Denn, das hatte er als überdurchschnittlich Jugendlicher seines geteilten Vaterlandes deutlich bemerkt: Es gab erheblich mehr, als die Partei- und Staatsführung des DDR-Staates ihm an Information zugestehen wollten.

      Das Abitur absolvierte Sebastian 1987 wieder mit „Sehr gut“ und es stand bereits fest, dass er, wenn er seinen Grundwehrdienst in der Nationalen Volksarmee abgeleistet hatte, an der Humboldt-Universität zu Berlin Mathematik studieren würde.

      Seine Hobbys hatten ebenfalls überwiegend mit Mathematik zu tun und er war bereits mehrfacher Jugendmeister seines Landes im Schachspiel und Mathematik-Olympiaden geworden, bis er seinen Eltern klar gemacht hatte, dass letztere auf Dauer zu langweilig für ihn seien.

      In der Oberschulzeit war er immerhin mit seinen Eltern mehrfach zu Wanderurlauben in die Tschechoslowakei und nach Rumänien mitgefahren, was ihm damals nicht besonders gefiel, später aber zu seinem Interesse an Outdoor-Aktivitäten führte, die ihm gelegentliche entspannende und erholsame reale Erlebnisse zu seiner überirdischen mathematischen Welt brachten, die ununterbrochen in seinem Kopf stattfand .

      Im Frühjahr 1988 wurde er zum Artillerieregiment Nr. 12 in Eggesin eingezogen. Im Frühjahr 1989 hörte er aus den gefilterten Informationsrinnsalen der noch bestehenden Armeeführung Gerüchte über die gefälschten Wahlen in der DDR, den merkwürdigen Fluchtsommer mit den Besetzungen der BRD-Botschaften in Ostberlin, Prag und Warschau sowie die Grenzöffnung in Ungarn. Kurz ach seiner „ehrenvollen Entlassung“ aus dem Wehrdienst erlebte er hautnah den politischen Herbst 1989 mit, der als so genannte „Wende“ in Mittel- und Osteuropa in die Geschichte eingehen sollte.

      Als er Anfang September 1989, zwei Tage vor seinem zwanzigsten Geburtstag, mit seinem Zivilköfferchen am Gartentor des bescheidenen Einfamilienhauses seiner Eltern klingelte, spürte er bereits, dass sein zukünftiges Leben nicht mehr so klar vorprogrammiert und zielorientiert ablaufen würde, wie bisher. Im Lande fanden gerade die Vorbereitungen zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR statt und der Besuch des Führers der Sowjetunion und Erfinders von Glasnost und Perestrojka in der Hauptstadt, Michail Gorbatschow, stand kurz bevor.

      In den folgenden, länger währenden, Gesprächsabenden mit seinen Eltern und deren Freunden wurde ihm das ganze Ausmaß der Umwälzungen, die diesmal von der Sowjetunion ausgingen und nicht von deren so genannten Bündnisländern wie Polen, Ungarn oder der DDR, erst richtig bewusst.

      Sein Vater sah bereits den Untergang des sozialistischen Staatenbundes voraus, weil er der Auffassung war, dass bereits kleinste Öffnungen in der Mauer, dem Schutzwall gegen den Kapitalismus, zu einem Dammbruch und zu einer Überschwemmung mit amerikanisch-westlicher Unkultur führen würden. Das hätten die Genossen um Gorbatschow mit ihrer Glasnost nicht bedacht, meinte er.

      Mutters Freundin, Sebastians Quasi-Patin, die Kernphysikerin Dr. Jutta Fauth, die den jungen Mann seit seiner Geburt miterzog, sah die Dinge positiver. Das war kein Wunder, denn sie weilte in ihrem Wissenschaftlerleben für längere Zeitspannen nicht nur in der DDR, sondern war auch in Dubna und im vorvergangenen Jahr sogar beim CERN in der Schweiz tätig gewesen. Sie meinte, dass eine Öffnung Fortschritte für Kultur, Wissenschaft und Frieden bringen und die gegenseitige atomare Bedrohung der beiden Militärbündnisse verringern könne. Letztlich würde auch der Wohlstand und die Versorgung der Bevölkerung verbessert werden, wenn mehr Offenheit und Demokratie in die sozialistischen Länder käme.

      Sebastians Mutter dagegen sah die kommenden Dinge wohl am realistischsten. Das lag vielleicht auch daran, dass sie als Ökonomieprofessorin an der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst Zugang zu Informationen über den wahren Zustand der Volkswirtschaften des Ostblocks hatte und außerdem im Austausch mit höheren DDR-Ökonomen das Innovationsdefizit des Ostens besser kannte, als die Genossen in den unteren Betriebsebenen oder die Führer um Honecker ganz oben, der erst vor kurzem begeistert der Welt einen eigenproduzierten Elektronikchip präsentiert hatte. Sie prophezeite den sowieso unabwendbaren Untergang der Binnenwirtschaften des Comecon und deren Übernahme durch das internationale Kapital, unabhängig davon, ob die Oberen eine Öffnung wollten oder nicht. Das restliche Beiwerk, also der Überbau, würde anschließend so organisiert werden, wie es in Westdeutschland bestand.

      „Ja, was soll ich aber nun machen?“, wandte Sebastian am dritten Abend frustriert ein.

      „Na, du studierst Mathematik wie geplant, das ist deine Berufung und dein Talent!“, erwiderte seine Mutter zärtlich.

      „Und wo?“

      „In Berlin natürlich, in unserer Nähe“, antwortete der Vater. „Wenn es wirklich zum Umbruch kommt, weiß niemand von uns, was aus uns werden wird, außer den gerade Studierenden“.

      Jutta Fauth fügte hinzu: „Wissenschaftler braucht jedes System; gute Wissenschaftler und gute Ingenieure. Außerdem ist die Mathematik die Mutter aller Wissenschaften. Eliminiert werden nur die mittleren Etagen und ein paar von den ganz Großen. Denk an die Nazis.“

      „Willst du uns mit den Nazis vergleichen?“, fuhr Sebastians Vater auf.

      „Natürlich nicht. Aber mit Sozialismus hatte selbst die Nachstalinära nicht viel zu tun. Da hat mal einer gesagt, ich glaube es war ein Schweizer Mathematiker: ´Jede Wissenschaft bedarf der Mathematik, die Mathematik bedarf keiner´“, erwiderte die Patentante trocken. „Übrigens wissen wir ja gerade überhaupt nicht, was aus unserer Kooperation mit Dubna wird und ob die sowjetischen Kollegen uns weiter dort haben wollen.“

      „Und ich dachte, die Theologie sei die Mutter aller Wissenschaften!“, warf Sebastians Mutter lachend in die Diskussion.

      5.


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