Alltagsleben nach 1945 in Mecklenburg. Horst Lederer
Читать онлайн книгу.Reihe von Vorurteilen gegenüber den Polen, die sie grundsätzlich für unordentlich, schlechte Landwirte und vor allem katholisch hielten. Wer katholisch war, musste Pole, also herabwürdigend gesagt, „Polak“ sein. Um sich schon rein äußerlich von den „Polaken“ abzugrenzen, war man bewusst evangelisch, was nicht in jedem Falle ein Ausdruck besonderer Frömmigkeit war.
Kriegsende bei Klütz Anfang Mai 1945
Kriegsende bei Klütz Anfang Mai 1945
Wie der Ort Arpshagen für uns bedeutsam wurde
Am 2. oder 3. Mai 1945 erreichten wir mit drei Treckwagen den Ortseingang von Klütz in Mecklenburg, nachdem wir uns am Vortag in der Wohlenberger Wieck von unseren Ebenauer Landsleuten Siebert, Förster, Stark und Löhrke getrennt hatten. Sie hatten sich zur Weiterfahrt für den anscheinend sichereren Weg über Hohenkirchen entschieden.
Aber hier in Klütz auf der Höhe des ersten Hauses in der Wismarschen Straße wurde unsere kleine Wagenkolonne von Männern in Zivil mit weißer Armbinde gestoppt: „Ihr könnt nicht weiterfahren! Verlasst sofort diese Straße!
Amerikanische Panzerspitzen haben Grundshagen erreicht. Sie werden hier eintreffen, um sofort nach Wismar vorzudringen und die Stadt vor den Russen zu besetzen.“
Als nächste erkennbare Abfahrt bot sich für uns der Oberklützer Weg an. Wir fuhren einen schmalen Hohlweg hinauf und erreichten nach etwa 2,5 km das winzige Dorf Oberklütz, das aus ganzen 4 Bauerngehöften bestand (Schümann, Wieschendorf, Langermann, Pott), heute aber längst zur Wüstung geworden ist.
Der Besitzer des ersten Gehöftes, Hans Schümann, gestattete, dass unser Fluchtwagen in seiner Scheune untergestellt wurde und die Pferde in den leer stehenden Kuhstall kamen. Die Fahrzeuge von Tante Else Lederer und Onkel Erich Krause standen an der Hofauffahrt zum Grundstück von Bauer Wieschendorf neben dessen Koppel. So hatte hier in Oberklütz unsere Flucht ihr Ende gefunden.
Der Kreis Schönberg war bis zum 23. Mai 1945 amerikanisch besetztes Territorium.
Hier brachte meine Mutter am 11. Mai 1945 unter dramatischen Umständen dank intensiver Hilfe eines amerikanischen Militärarztes bei der sehr komplizierten Geburt ihr drittes Kind, den Sohn Klaus, zur Welt.
Nach dem Abzug der Amerikaner wurden vom 24.Mai bis 30. Juni 1945 britische Truppen Besatzungsmacht dieser Region.
Die drei Familien führten, wie meine Tante Else es wiederholt formulierte, „ein Zigeunerleben“, das sich weitestgehend unter freiem Himmel abspielte und das sich für uns Kinder als äußerst abenteuerlich gestaltete. Täglich trafen die Mädchen und Jungen der Flüchtlinge und Einheimischen im Unterdorf zu fröhlichem Spiel zusammen. Die in der Mehrzahl anwesenden Mädchen bevorzugten Vater-Mutter-Kinder-Spiele, die sämtlich der Erwachsenenwelt nachempfunden waren. Als ältester beteiligter Junge hatte ich immer die Rolle des Vaters zu übernehmen, Helga Schümann war das älteste Mädchen und spielte die Mutter. Wenn wir „unsere Kinder“ nach gemeinsamem „Frühstück“ „zur Schule“ geschickt hatten, konnten wir uns für einige Minuten anderen Dingen zuwenden. So schauten wir vom Feld hinter Schümanns Haus ins Tal hinunter. Und dort gewahrte ich im Südwesten einen Ort, der aus lauter reetgedeckten Gebäuden zu bestehen schien, die alle wie aus einem Spielzeugkasten in gerader Linie aufgestellt worden waren. „Helga, was ist das da unten?“ – „Das ist das Gut Arpshagen. Aber wir können von hier nicht alle Gebäude sehen. Nicht alle haben so ein Reetdach.“ Damit war mein Interesse erst einmal befriedigt. Ich hatte den Namen eines weiteren Ortes in dieser Region kennen gelernt und ihn mir gleich eingeprägt. Ich kannte ja schon Klütz, Tarnewitz, Christinenfeld, Wohlenberg, durch die Familie Schlieske auch Boltenhagen und von unserem Spielkameraden Hugo Wieschendorf auch Redewisch.
Nach einigen Tagen besuchte uns der Bürgermeister Holst aus Tarnewitzerhagen, der auch für Oberklütz zuständig war. Er traf auf einem Fahrrad im blauen Anzug und weißem Hemd ein und überbrachte unseren drei Familien Lebensmittelkarten und eine geringe Geldsumme, damit wir das Lebensnotwendige in Klütz dafür einkaufen konnten. Er suchte uns später noch einmal auf.
Am Pfingstmontag, dem 3. Juni, taufte Pastor Wömpner in der Klützer Kirche meinen kleinen Bruder auf den Namen Klaus Eberhard Siegfried. Am Nachmittag wurde bei wunderschönem Frühlingswetter das Tauffest von der ganzen Großfamilie gefeiert. Wir saßen auf langen Holzkrippen, die zum Tränken für das Vieh vorgesehen waren, neben der Kuhkoppel von Wieschendorf und genossen bei „Blümchenkaffee“ Streuselkuchen und teilten uns sogar eine Torte, die jemand bei Bäcker Westphal aufgetrieben hatte.
Unsere Spielkameraden erscheinen als Zaungäste bei dieser Tauffeier, bewunderten den kleinen Täufling, und jeder bekam auch noch ein Stück Streuselkuchen ab.
Im Juli 1945 erkrankte unser Onkel Erich Krause an schmerzhafter Gürtelrose. Keiner der Klützer Ärzte, die er aufsuchte, konnte ihm Linderung verschaffen. Da riet ihm die Bäuerin Christa Schümann: „Herr Krause, wenn Sie Ihre Gürtelrose loswerden wollen, müssen Sie sich besprechen oder „bepüstern“ lassen. Ich kenne eine alte Frau, die das kann. Das ist Frau Gramkow in Arpshagen, die dort in der „Burg“ wohnt. Ich gebe Ihnen ein paar Eier mit. Dafür und für ein Stück Schinken wird Sie Frau Gramkow gern als Patienten übernehmen. Geld nimmt sie nicht an. Aber bleiben Sie immer ernst, und lassen Sie niemals erkennen, dass Sie Frau Gramkows „Zauberformeln“ albern finden. Onkel Erich lieh sich Schümanns Kutschwagen aus, und als er uns Kinder fragte, wer von uns mitfahren und auf das Pferd aufpassen wollte, meldete ich mich spontan. Nachdem wir die Breitscheidstraße in Klütz passiert hatten, schloss sich am Ortsausgang sofort das Gutsdorf Arpshagen an. Aber zu meiner Enttäuschung sah ich kein einziges reetgedecktes Gebäude, sondern wir fuhren an vier lang gestreckten Gutsarbeiterkaten vorbei und fanden nach einem Mal Fragen sofort die „Burg“, die sich aber als gar keine richtige erwies, sondern als ein gewöhnliches Wohnhaus, das auf einem Begrenzungswall neben dem Graben einer ehemaligen Wasserburg errichtet worden war. Während der langen „Behandlungszeit“ Onkel Erichs verspürte ich nicht wenig Lust, von der Kutsche abzusteigen und nach den reetgedeckten Gebäuden zu suchen. Aber hohe, dicht belaubte Kastanienbäume Versperrten mir die Sicht in Richtung Westen. Außerdem befürchtete ich, dass das Pferd seinen Standort verlassen würde. Nun war ich also selbst in Arpshagen gewesen.
Am 1. Juli 1945 lösten die sowjetischen die britischen Soldaten ab und wurden Besatzungsmacht im Kreis Schönberg. Am Vortag, dem 30. Juni, hätte für uns alle noch die Möglichkeit bestanden, über die mecklenburgische Landesgrenze nach Schleswig-Holstein hinüberzuwechseln, wie es uns der auf unserem Hof in Ebenau tätig gewesene Pole Frantisek Grzduk vorschlug, der in Tarnewitz interniert gewesen war. Aber meine Mutter, die sich nach der Geburt von Klaus noch zu schwach fühlte, war nicht bereit, die Strapazen einer weiteren Flucht ins Ungewisse auf sich zu nehmen. Auch Familie Krause, Tante Else Lederer und Großmutter Alwine Diethert entschieden sich, in Oberklütz zu bleiben.
Dass in diesem Bereich nun die damals von den Deutschen als Russen benannten Sowjetsoldaten das Sagen hatten, bemerkten wir bald an der völlig veränderten politischen Atmosphäre. Zwar durften sich wieder politische Parteien bilden, aber die Besatzungsmacht legte deren Zielrichtung selbst fest, und die zielte in Richtung des sozialistischen Systems nach sowjetischem Muster. Der Kommandant in Schönberg erteilte Weisungen, die mit harter Hand durchgesetzt wurden. Andererseits marodierten in Klütz und Umgebung Soldaten der Roten Armee, die sich vornehmlich nachts von ihrer Truppe entfernten und auf Beutezüge gingen, es aber auch auf deutsche Mädchen und Frauen abgesehen hatten.
Landwirtschaftliche Siedler in Arpshagen bei Klütz ab 1946
Landwirtschaftliche Siedler in Arpshagen bei Klütz ab 1946
Im landwirtschaftlich geprägten Kreis Schönberg kursierten