Jenseits von Gut und Böse. Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Jenseits von Gut und Böse - Friedrich Wilhelm Nietzsche


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es zuletzt noch, in aller Helligkeit der neueren Zeiten, mit der französischen Revolution gegangen ist, jener schauerlichen und, aus der Nähe beurteilt, überflüssigen Posse, in welche aber die edlen und schwärmerischen Zuschauer von ganz Europa aus der Ferne her so lange und so leidenschaftlich ihre eignen Empörungen und Begeisterungen hineininterpretiert haben, bis der Text unter der Interpretation verschwand: so könnte eine edle Nachwelt noch einmal die ganze Vergangenheit missverstehen und dadurch vielleicht erst ihren Anblick erträglich machen. – Oder vielmehr: ist dies nicht bereits geschehen? waren wir nicht selbst – diese »edle Nachwelt«? Und ist es nicht gerade jetzt, insofern wir dies begreifen – damit vorbei?

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      Niemand wird so leicht eine Lehre, bloß weil sie glücklich macht oder tugendhaft macht, deshalb für wahr halten: die lieblichen »Idealisten« etwa ausgenommen, welche für das Gute, Wahre, Schöne schwärmen und in ihrem Teiche alle Arten von bunten plumpen und gutmütigen Wünschbarkeiten durcheinanderschwimmen lassen. Glück und Tugend sind keine Argumente. Man vergißt aber gerne, auch auf Seiten besonnener Geister, daß Unglücklich-machen und Böse-machen ebensowenig Gegenargumente sind. Etwas dürfte wahr sein: ob es gleich im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre; ja es könnte selbst zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, daß man an seiner völligen Erkenntnis zugrunde ginge – so daß sich die Stärke eines Geistes danach bemäße, wieviel er von der »Wahrheit« gerade noch aushielte, deutlicher, bis zu welchem Grade er sie verdünnt, verhüllt, versüßt, verdumpft, verfälscht nötig hätte. Aber keinem Zweifel unterliegt es, daß für die Entdeckung gewisser Teile der Wahrheit die Bösen und Unglücklichen begünstigter sind und eine größere Wahrscheinlichkeit des Gelingens haben; nicht zu reden von den Bösen, die glücklich sind – eine Spezies, welche von den Moralisten verschwiegen wird. Vielleicht, daß Härte und List günstigere Bedingungen zur Entstehung des starken, unabhängigen Geistes und Philosophen abgeben als jene sanfte feine nachgebende Gutartigkeit und Kunst des Leichtnehmens, welche man an einem Gelehrten schätzt und mit Recht schätzt. Vorausgesetzt, was voransteht, daß man den Begriff »Philosoph« nicht auf den Philosophen einengt, der Bücher schreibt – oder gar seine Philosophie in Bücher bringt! – Einen letzten Zug zum Bilde des freigeisterischen Philosophen bringt Stendhal bei, den ich um des deutschen Geschmacks willen nicht unterlassen will zu unterstreichen – denn er geht wider den deutschen Geschmack. »Pour être bon philosophe«, sagt dieser letzte große Psycholog, »il faut être sec, clair, sans illusion. Un banquier, qui a fait fortune, a une partie du caractère requis pour faire des découvertes en philosophie, c'est-à-dire pour voir clair dans ce qui est.«

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      Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Haß auf Bild und Gleichnis. Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes einherginge? Eine fragwürdige Frage: es wäre wunderlich, wenn nicht irgendein Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte. Es gibt Vorgänge so zarter Art, daß man gut tut, sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen; es gibt Handlungen der Liebe und einer ausschweifenden Großmut, hinter denen nichts rätlicher ist, als einen Stock zu nehmen und den Augenzeugen durchzuprügeln, damit trübt man dessen Gedächtnis. Mancher versteht sich darauf, das eigne Gedächtnis zu trüben und zu mißhandeln, um wenigstens an diesem einzigen Mitwisser seine Rache zu haben – die Scham ist erfinderisch. Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich am schlimmsten schämt: es ist nicht nur Arglist hinter einer Maske – es gibt so viel Güte in der List. Ich könnte mir denken, daß ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durchs Leben rollte: die Feinheit seiner Scham will es so. Einem Menschen, der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten Entscheidungen auf Wegen, zu denen wenige je gelangen und um deren Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen: seine Lebensgefahr verbirgt sich ihren Augen und ebenso seine wiedereroberte Lebens-Sicherheit. Ein solcher Verborgner, der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mitteilung, will es und fördert es, daß eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herumwandelt; und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm eines Tages die Augen darüber aufgehen, daß es trotzdem dort eine Maske von ihm gibt – und daß es gut so ist. Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er gibt. –

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      Man muß sich selbst seine Proben geben, dafür daß man zur Unabhängigkeit und zum Befehlen bestimmt ist; und dies zur rechten Zeit. Man soll seinen Proben nicht aus dem Wege gehen, obgleich sie vielleicht das gefährlichste Spiel sind, das man spielen kann, und zuletzt nur Proben, die vor uns selber als Zeugen und vor keinem andern Richter abgelegt werden. Nicht an einer Person hängen bleiben: und sei sie die geliebteste – jede Person ist ein Gefängnis, auch ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben: und sei es das leidendste und hilfsbedürftigste – es ist schon weniger schwer, sein Herz von einem siegreichen Vaterlande loszubinden. Nicht an einem Mitleiden hängen bleiben: und gälte es höheren Menschen, in deren seltne Marter und Hilflosigkeit uns ein Zufall hat blicken lassen. Nicht an einer Wissenschaft hängen bleiben: und locke sie einen mit den kostbarsten, anscheinend gerade uns aufgesparten Funden. Nicht an seiner eignen Loslösung hängen bleiben, an jener wollüstigen Ferne und Fremde des Vogels, der immer weiter in die Höhe flieht, um immer mehr unter sich zu sehn – die Gefahr des Fliegenden. Nicht an unsern eignen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das Opfer irgendeiner Einzelheit an uns werden, zum Beispiel unsrer »Gastfreundschaft«: wie es die Gefahr der Gefahren bei hochgearteten und reichen Seelen ist, welche verschwenderisch, fast gleichgültig mit sich selbst umgehen und die Tugend der Liberalität bis zum Laster treiben. Man muß wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit.

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      Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf: ich wage es, sie auf einen nicht ungefährlichen Namen zu taufen. So wie ich sie errate, so wie sie sich erraten lassen – denn es gehört zu ihrer Art, irgendworin Rätsel bleiben zu wollen –, möchten diese Philosophen der Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Versucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.

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      Sind es neue Freunde der »Wahrheit«, diese kommenden Philosophen? Wahrscheinlich genug: denn alle Philosophen liebten bisher ihre Wahrheiten. Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muß ihnen wider den Stolz gehen, auch wider den Geschmack, wenn ihre Wahrheit gar noch eine Wahrheit für jedermann sein soll: was bisher der geheime Wunsch und Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war. »Mein Urteil ist mein Urteil: dazu hat nicht leicht auch ein andrer das Recht« – sagt vielleicht solch ein Philosoph der Zukunft. Man muß den schlechten Geschmack von sich abtun, mit vielen übereinstimmen zu wollen. »Gut« ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den Mund nimmt. Und wie könnte es gar ein »Gemeingut« geben! Das Wort widerspricht sich selbst: was gemein sein kann, hat immer nur wenig Wert. Zuletzt muß es so stehen, wie es steht und immer stand: die großen Dinge bleiben für die Großen übrig, die Abgründe für die Tiefen, die Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im ganzen und kurzen, alles Seltne für die Seltnen. –

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      Brauche ich nach alledem noch eigens zu sagen, daß auch sie freie, sehr freie Geister sein werden, diese Philosophen der Zukunft – so gewiß sie auch nicht bloß freie Geister sein werden, sondern etwas Mehreres, Höheres, Größeres und Gründlich-Anderes, das nicht verkannt und verwechselt werden will? Aber, indem ich dies sage, fühle ich fast ebensosehr gegen sie selbst, als gegen uns, die wir ihre Herolde und Vorläufer sind, wir freien Geister! – die Schuldigkeit, ein altes dummes Vorurteil und Missverständnis von uns gemeinsam fortzublasen, welches allzu lange wie ein Nebel den Begriff »freier Geist« undurchsichtig gemacht hat. In allen


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