Sturmhöhe. Emily Bronte

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Sturmhöhe - Emily Bronte


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der Satan würde uns von dort unmittelbar in die Hölle holen. Wir warteten auf dessen Kommen, jeder in eine andere Ecke verkrochen. Aber dann nahm ich dies Buch und ein Tintenfaß vom Wandbrett und machte die Haustür auf, um etwas Licht zu haben. Zwanzig Minuten lang vertrieb ich mir die Zeit mit Schreiben. Aber mein Leidensgefährte ist ungeduldig und meint, wir sollten den Umhang der Milchfrau nehmen und so vermummt ins Moor rennen. Ein guter Gedanke – und dann wird der gräßliche Alte glauben, seine Prophezeiung habe sich erfüllt! Feuchter und kälter kann es draußen im Regen auch nicht sein.«

      Ich nehme an, Catherine hat ihren Plan ausgeführt. Denn der nächste Satz handelte von etwas ganz anderem, sie wurde wehleidig:

      »Schwerlich hätte ich es mir träumen lassen, daß der Hindley mich so zum Weinen bringen würde! Mein Kopf schmerzt derartig, daß ich auf dem Kissen nicht ruhig liegen kann. Aber ich darf nicht nachgeben. Armer Heathcliff! Hindley nennt ihn einen Landstreicher, er will ihn nicht mehr bei uns sitzen, nicht mehr mit uns essen lassen. Er sagt, wir dürften nicht mehr miteinander spielen, und droht, ihn aus dem Hause zu werfen, wenn wir nicht gehorchen. Wie durfte er unserem Vater vorwerfen, er habe H. zu großzügig behandelt! Hindley schwört, er würde ihn in die Stellung zurückweisen, die ihm gebühre –«

      Ich begann über der vergilbten Seite schläfrig zu werden; meine Blicke wanderten noch vom Geschriebenen zum Gedruckten. Ich sah den roten Titel in Zierdruck: »Siebenzig Mal Sieben und Nummer Eins vom Einundsiebenzigsten Mal. Eine Erbauliche Predigt, gehalten von Hochwürden Jabes Branderham in der Kapelle von Gimmerton Sough.« Während ich mir bei halbem Bewußtsein den Kopf zerbrach, was Jabes Branderham wohl aus seinem Thema machen würde, sank ich langsam zurück und schlief ein.

      Ach, welche schlechten Wirkungen des Tees und des Streites! Was sonst konnte daran schuld sein, daß ich eine so entsetzliche Nacht verbrachte! Seit ich fähig bin, zu leiden, kann ich mich keiner ähnlichen erinnern.

      Ich träumte schon, als ich noch immer einigermaßen wußte, wo ich mich befand. Ich glaubte, es sei Morgen, und ich hätte mich unter Josefs Führung auf den Heimweg gemacht. Ellenhoch lag der Schnee auf der Straße. Im Dahinstapfen peinigte mich mein Begleiter mit dem unaufhörlichen Vorwurf, daß ich keinen Pilgerstab mitgenommen hätte. Nie würde ich ohne ihn ins Haus gelangen, und er schwang dabei prahlerisch einen schweren Knüttel, den er als Pilgerstab ausgab. Sollte ich einer solchen Waffe bedürfen, um in meine eigene Wohnung zu gelangen? Aber dann leuchtete eine neue Erkenntnis in mir auf: Ich ging gar nicht dorthin; vielmehr, wir wollten den berühmten Jabes Branderham über den Text »Siebenzig Mal Sieben« predigen hören. Aber die »Erste Nummer vom Einundsiebenzigsten Mal« war von Josef oder von dem Prediger oder von mir verbrochen worden, und wir sollten dafür an den Schandpfahl gestellt und exkommuniziert werden.

      Und wir kamen zur Kapelle. Tatsächlich bin ich mehrmals daran vorbeispaziert. Sie liegt in einer Senkung zwischen zwei Hügeln, bei einem Sumpf, dessen feuchter Torfgehalt die darin liegenden Toten gewissermaßen einbalsamieren soll. Das Dach des Kirchleins hat bisher gehalten; aber es findet sich kein Geistlicher, da die Besoldung nur zwanzig Pfund jährlich beträgt, nebst freier Wohnung in zwei Zimmern, die bald in ein einziges zusammenstürzen werden. Seine Gemeinde ließe ihn eher verhungern, als daß sie seinen Unterhalt nur mit einem Pfennig aus ihrer Tasche verbessern würde. In meinem Traum dagegen hatte Jabes eine vollzählige und andächtige Gemeinde. Und er predigte – guter Gott! welch eine Predigt! Sie bestand aus vierhundertundneunzig Abschnitten, deren jeder einzelne einer ganzen Kanzelrede üblichen Umfangs entsprach und jedesmal eine besondere Sünde behandelte. Woher er so viele Sünden nahm, weiß ich nicht. Er hatte seine eigene Weise der Auslegung; förderlich war es für ihn ohne Zweifel, daß sein Nächster bei jeglicher Gelegenheit mehrere Sünden beging. Es waren höchst merkwürdige Vergehen darunter, von denen ich zuvor nichts geahnt hatte.

      Wie müde ich davon wurde! Wie ich mich krümmte, gähnte, einnickte und wieder auffuhr! Wie ich mich selbst kniff, mir die Augen rieb, aufstand, mich wieder hinsetzte und Josef anstieß, um zu erfahren, wann endlich Schluß sein würde. Aber ich war dazu verdammt, alles anzuhören, bis zur »Ersten Nummer vom Einundsiebenzigsten Mal«. Bei diesem Abschnitt durchdrang mich eine jähe Erleuchtung: es trieb mich, aufzustehen und Jabes Branderham als den Sünder mit der Sünde zu bezeichnen, die kein Christ verzeihen darf.

      »Herr«, rief ich, »ohne Pause sitze ich jetzt in diesen vier Wänden und ertrage und vergebe die vierhundertundneunzig Teile Ihrer Predigt. Siebenmalsiebenzigmal habe ich meinen Hut genommen, um wegzugehen, und siebenmalsiebenzigmal haben Sie mich sinnlos gezwungen, wieder Platz zu nehmen. Das vierhundertundeinundneunzigste Mal ist zu viel. Auf, ihr Leidensgenossen! Packt ihn, holt ihn herunter, reißt ihn in Stücke, damit der Ort, der ihn kennt, ihn nicht mehr wiedererkenne!«

      »Du bist der Mann!« schrie Jabes nach einer feierlichen Pause und lehnte sich über die Brüstung. »Siebenmalsiebenzigmal hast du dein Gesicht zum Gähnen verzogen, und jedesmal habe ich mit meiner Seele Rat gepflogen: siehe, dieses ist menschliche Schwäche, dieses soll vergeben sein. Nun ist die Erste Nummer vom Einundsiebenzigsten Mal gekommen. Brüder, vollstreckt an ihm das Urteil, wie geschrieben steht. So geschehe zur Ehre aller Seiner Heiligen!«

      Bei diesem Schlußwort fiel die ganze Gemeinde mit erhobenen Pilgerstäben über mich her, wie ein Mann. Vollständig umzingelt, ohne Waffe zur Verteidigung, versuchte ich, meinem nächsten und wildesten Angreifer, Josef, den Stock zu entreißen. In dem furchtbaren Gewühl gerieten die Knüppel durcheinander, auf mich gezielte Hiebe schmetterten auf fremde Köpfe herab. Die ganze Kapelle hallte und widerhallte von Schlägen und Gegenschlägen, jedermanns Hand war gegen die seines Nächsten. Branderham, seinerseits nicht müßig, trampelte eifervoll auf dem Boden der Kanzel herum. Es dröhnte so gewaltig, daß ich zu meiner unaussprechlichen Erleichterung erwachte.

      Was hatte den schrecklichen Lärm verursacht, wer hatte die Rolle des donnernden Jabes gespielt? Es war nur der Zweig eines Tannenbaums, der vom Winde gegen mein Fenster geschlagen wurde, so daß die trockenen Zapfen seltsam prasselten. Ich lauschte einen Augenblick, bis ich den Grund der Störung entdeckte, drehte mich auf die andere Seite und begann wieder zu träumen, unheimlicher als je.

      Dieses Mal war ich mir bewußt, daß ich in dem eichenen Verschlage lag. Deutlich unterschied ich den sausenden Wind, den Schneesturm draußen; ich hörte auch das peinigende Geräusch jenes Tannenzweiges. Obwohl ich wußte, es sei nur der Baum, drängte es mich, dies dauernde Kratzen abzustellen. Mir war, als stände ich auf und mühte mich, den Fensterflügel aufzuhaken. Aber der Haken war in der Krampe festgelötet. Ich hatte es im Wachen bemerkt, doch im Traum wieder vergessen. Dies Geräusch muß aufhören, sagte ich mir. Ich stieß meine Faust durch das Glas der Scheibe und streckte den Arm aus, um den Zweig zu erreichen.

      Statt dessen schlossen sich meine Finger um die Finger einer kleinen eiskalten Hand.

      Es war wie das Entsetzen eines Alpdrucks. Ich wollte meinen Arm zurückziehen, aber die Hand draußen klammerte sich daran fest. Eine todtraurige Stimme schluchzte: »Laß mich ein – laß mich ein!«

      »Wer bist du?« fragte ich und versuchte verzweifelt, mich freizumachen. »Catherine Linton«, antwortete es bebend. Warum dachte ich nur an Linton? Viel öfter als Linton hatte ich in der Bettlade Earnshaw gelesen.

      »Ich bin wieder da, bin wieder daheim, hatte mich im Moor verirrt.« Als es so sprach, nahm ich dunkel das Gesicht eines Kindes wahr, das durch das Fenster schaute.

      Das Entsetzen machte mich grausam. Da ich das Geschöpf nicht abschütteln konnte, drückte ich sein Handgelenk gegen das zerbrochene Glas. Ich rieb es hin und her, und das Blut floß herunter und befleckte die Bettücher. Immer noch klagte es:

      »Laß mich ein! Laß mich ein!« Mit zähem Griff hielt es mich fest und machte mich vor Schrecken fast wahnsinnig.

      »Wie kann ich das? Laß mich los, wenn ich dich einlassen soll!« Die Finger lockerten sich. Ich zog meinen Arm durch das Loch zurück und türmte die Bücher davor auf. Dann hielt ich mir die Ohren zu, um das jammervolle Flehen nicht zu hören.

      Eine Viertelstunde lang wartete ich so. Kaum aber horchte ich wieder hin, wimmerte und weinte es weiter. »Geh weg!« schrie ich, »ich lasse dich niemals herein und wenn du zwanzig Jahre bettelst!«


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