Der Tommyknockers–Komplex. Andrej Poleev

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Der Tommyknockers–Komplex - Andrej Poleev


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      Der Sündenfall

      Im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorstellungen und offiziellen Geschichtsschreibungen der Gegenwart, wird das 20. Jahrhundert von künftigen Historikern als Kulmination der Finsternis angesehen, als Epoche unvergleichlicher Katastrophen und die Zeit des humanitären Absturzes, dessen Hauptmotiv die Selbstentmenschlichung war. Je mehr Abstand von dieser Epoche die Urteilenden nehmen werden, desto deutlicher wird dieses Urteil formuliert.

      Keine Frage, das 20. Jahrhundert war innovativ, aber seine Innovationen gingen größtenteils an seinen Schöpfer vorbei, so daß technischen Neuerungen keine adaptiven Verhaltensänderungen folgten. So z.B. gesteigerte Produktionseffizienz und –Kraft führte nicht zur Verlagerung der produktiven Energien in die sozialen Strukturen, um die Gesellschaft zu reorganisieren und die Produktion den Bedürfnissen der Produzenten anzupassen. Stattdessen setzte industrielle Überproduktion, u.a. die Waffenherstellung, zerstörerische Kräfte frei, und die Folge davon waren Revolutionen und Kriege mit nie davor bekannten Ausmaßen. Erst die Technik der Massenproduktion machte die Massengesellschaft und den Massenkonsum möglich, mehrte gleichermaßen Anthropoiden, Nutztiere und Pflanzen sowie brachte Methoden zur Massenvernichtung hervor.

      Dieser kollektive Sündenfall war das Ergebnis einer langen Vorbereitungszeit. Die europäischen Völker haben schon immer über die Leichen gegangen, ihren Lehrer und Gelehrten sowie unbeugsamen Bürger ihre Köpfe abgetrennt: Das nannten sie Fortschritt. Für sie war das "Fortschritt", für viele Anderen der Untergang. Im Verlauf ihres hemmungslosen Wachstums haben europäische Völker die Kulturen, Landschaften, Naturoasen systematisch beseitigt und unwiederbringlich ausgelöscht. Die Erben europäischer Expansion hatten später zur Aufgabe, das zu erledigen, was ihre Vorfahren mit ihren damaligen Werkzeugen und Strategien nicht zu Ende brachten. Die Karawanen der Blumenkinder leiteten das Ende des friedlichen und harmonischen Lebens in Abgeschiedenheit und Genügsamkeit ein. Die Invasion der Barbaren erfasste schließlich den ganzen Planet, im 20. Jahrhundert ist das Ausmaß der Zerstörung so groß geworden, daß sie mit der unmittelbaren Gefahr konfrontiert wurden, in ihrem eigenen Müll unterzugehen und an dem Luftmangel zu ersticken. Die Erdoberfläche wurde überbevölkert, aus dieser Enge entflammen unlösbare Konflikte: Man kämpft um jeden Erdenfleck und Meeresgrund, und seien sie noch so wüstenhaft und schwer zugänglich. Das Ende dieser Kämpfe ist nicht in Sicht: Bald beginnen sie, einander wie Wild zu jagen und das Menschenfleisch zu verspeisen. Die Verrücktheit der verwilderten Massen können nicht einmal die Atomwaffen ausheilen. Für kulturelle Einflüsse unzugänglich, für die Gefahren unempfindlich, zeigen sie weder Angst noch Reue, gehen gemeinsam in den Tod... Nichts und niemand können diese im Gleichschritt marschierenden Massen aufhalten. Obwohl bunt bekleidet, bleiben die Vertreter der Gattung Homo geistig uniformiert, mental eng verschnürt. Sie sind steinzeitliche Ungeheuer geblieben, die sich genauso verhalten wie vor Jahrtausenden, weil sie ihre Vorgeschichte, die Zeit noch vor der Entstehung ihrer Rasse, in und mit sich tragen. Ihr Bewußtsein und ihre Phantasiewelt bevölkern fabelhafte Kreaturen und urzeitliche Monster, sie selbst sind immer noch auf der Jagd und als Sammler unterwegs, ohne zu merken, daß die Welt ganz anders geworden ist, als in der Urzeit, genau gesagt, sie übersehen ihre eigene Kulturgeschichte, ignorieren Chancen der Entwicklung zum Mensch werden. Die Wahrscheinlichkeit einer friedlichen Koexistenz von Anthropoiden und Humanoiden erscheint fragwürdig, und die Aufgabe, die Anthropoiden zu humanisieren, erweist sich als schwer realisierbar, was erforderlich macht, über die Gründe dieser Schwierigkeiten nachzudenken.

      Austritt aus Harmonie.

      Den Affen hat die gnädige Natur alles zum Leben gegeben: In sicherem Lebensraum der Baumkronen, in dem Abgetrenntsein von dem irdischen Geschehen, fanden sie Nahrung, Unterhaltung und Frieden. Der Sündenfall ereignete sich, nachdem die Affen anfingen, mit ihren Füßen die Erdoberfläche zu fassen und sich von den Bäumen zu entfernen. Der Raum, den sie bestiegen, war alles andere als sicher: Sie mussten sich vor den Raubtieren hüten und in die Verstecke fliehen, um dort die Gefahren, die überall lauerten, zu überdauern. Das aufgezwungene Versteckspiel zwang sie zuerst in die Hohlen. Die ungebetene Gäste: Raubtiere, Geister, Kälte u.a., wurden mit Feuer, Hindernissen und Pfeilen auf Distanz gehalten. Das verlassene Paradies der Baumkronen war für immer verloren, ein neues musste gefunden werden. Auf ihrem Eroberungszug fingen die Anthropoiden an, anderen Lebewesen ihre Existenzgrundlagen zu stehlen. Vielleicht wurde dieses Verhalten von den Raubtieren, die affenähnliche Hohlenmenschen jagten, übernommen und ihnen "geraubt": Indem man anfing, die Raubtiere zu (ver)jagen, verwandelte man sich in die Raubtiere. Im Übergang von dem Hohlenmensch zu dem Hirt und Landwirt domestizierte man die Beute und die Apfelbäume (bzw. sie die Anthropoiden domestizierten); das Jagen und Sammeln verwandelte sich in die Landverteidigung und -Bewirtung. Dieser geschichtliche Abschnitt wurde zum Bestandteil des anthropoiden Verhaltens und in ihre genetische Struktur aufgenommen. Bis in die Gegenwart, obwohl die Anthropoiden das Flachland bevölkerten und die Raubtiere aus ihren Paradiesen verdrängten, behält man das raubtierische Verhalten ohne zwingende Notwendigkeit: Man kämpft gegeneinander um das Land, und grenzt sich voneinander ab. Diese Abgrenzung wird von metaphysischen Vorstellungen über die "böse" Natur begründet, obwohl die Boshaftigkeit in der Natur nur als retrograde menschliche Projektion, als Erinnerung an ihr früheres Leben, "existiert". Die Natur wird in die böse und gute Natur unterteilt, die "böse" Natur wird bekämpft und die "gute" gefördert. Die künstliche Umgebung menschlicher Zivilisation entspringt der Flucht von dem Bösen, von der "schlechten" Natur. Diese Aufteilung der Natur reflektiert die Bewußtseinsspaltung, welche die menschliche Existenz im Abgetrenntsein von seinen Ursprüngen widerspiegelt. Mit der Natur eins sein, die synthetische Denkweise zu fördern, sind die Herausforderungen von Erziehung und Wissensvermittlung in einer Gesellschaft, welche das Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Fakten und Artefakten herstellen muß. Menschen phantasieren aus purer Lebenslust; man soll der Phantasie ihre Räume überlassen und, falls notwendig, zuweisen, in denen sie sich entfalten kann, ohne die Grenzen des Unzulässigen zu überschreiten, wo sie beginnt, sich mit der Realität und Umwelt auf eine verhängnisvolle Weise zu vermischen.

      Wenn die Seele auf die essbare Substanz reduziert wird und man sie nicht zur Essenz des Körpers erhebt, dann ist eine solche Reduktion die Folge des Verhaltens, das sich auf das Essbare und "Nützliche" konzentriert, und die übrigen Zusammenhänge übersieht. Die Jäger und Sammler sind zu Sklaven ihres Verhaltens und ihrer Werkzeuge geworden, sie scheinen die Barriere nicht überwunden zu haben, die sie selbst errichteten, um sich von der Umgebung abzusondern, die zur Projektionsfläche ihrer kollektiven Ängste geworden ist. Sie rauben das Land aus und werfen die verbrauchten Körper und zerbrochene Formen über den Zaun, ohne sich Sorgen darüber zu machen, ob mißgestaltete Natur das noch länger duldet und erträgt. In dem Überlebenskampf zerstören sie und treten mit den Füßen ihre eigene Umgebung. Seitdem die Affen sichere Räume des Waldes verließen, nimmt diese (Not?)Landung immer destruktivere und sinnlosere Formen und Ausmaße an. Man richtete auf dem neu gewonnenen Lebensraum Blutbad, Fressorgie und Brandstiftung aus. Die schützende Kraft des Waldes und natürlicher Umgebung scheint für immer verloren zu sein, sie wurde durch technische Machbarkeitsphantasien und wissenschaftliche Fiktionen überdeckt.

      Der Erfüllungsort.

      Die Notwendigkeit des Opferbringens und empfundene Schuld formten prototypische Moralvorstellungen. Während die Grenze zwischen Selbstverteidigung und Jagd verschwand und man sich die Seele der Raubtiere aneignete, änderten sich die Rituale. Man stellte fest: Indem man sich satt macht, füllt man nicht nur den Magen aus sondern auch erfährt Sättigung, Glückseligkeit, Zufriedenheit, als ob man beim Verzehr der Körper die Seelen anderer Lebewesen übernimmt, die Seelenwanderung vollzieht, bei der die Schuld und die Anstrengung des Tötens in die Befriedigung übergeht. Bei der kultischen Erweiterung des Freßrituals nutzte man nicht nur die Tiere sondern auch die Menschen aus, um sich ihrer Lebenskraft zu bemächtigen, sowie über die Unterstehenden die Übermacht zu erlangen. Das Opferfest wurde zum Ritual der Machtergreifung und Machtfestigung. Spätere Ausformungen dieses Verhaltens, wofür katholische Feste um das Kruzifix beispielhaft sind, rekapitulieren psychogenetische Entwicklung in Ersatzhandlungen, die allerdings, im Gegensatz zu früheren Opferritualen, ohne Totschlag und Blutvergießen auskommen. Dabei wird jemand, der sagenhafte Kräfte besitzt, rituell übermächtigt und seine Körper-Seele zwischen "Trauergästen" verteilt, um


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