Ein Jahr ohne dich. Caroline Régnard-Mayer

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Ein Jahr ohne dich - Caroline Régnard-Mayer


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in der Stadt und in weiten Teilen des Bostoner Umlandes, nun war es geschehen. Wenige Minuten verstrichen. Ich wagte kaum zu atmen oder mich zu bewegen. Wo hielt sich Paul während dieser schrecklichen Minuten auf? Von draußen hörte man Sirenen von Krankenwagen. Menschen schienen panikartig über den Campus zu laufen, ihre Schreie drangen bis zu mir ins Zimmer. Auf unserem Gang war es jedoch beängstigend still. Auch unser Studentenwohnheim bebte und zitterte fürchterlich während des Erdbebens. Meine Fensterscheiben hatten Sprünge, waren aber zum Glück nicht zerborsten, weshalb ich unverletzt blieb. Die Zimmerdecke wies Risse auf, und Putz löste sich. Ich war von Kopf bis Fuß mit grauem Staub bedeckt, dieser rieselte noch immer auf mich herab. Nach dem ersten Schock und der Starre breitete sich nun Angst in meinem Innern aus. Ich machte mir große Sorgen um Paul. Er befand sich auf dem Weg zum Bahnhof, um unsere Tickets für die Heimreise zu kaufen. Danach wollte er zu dem Reisebüro, um die Flugzeiten für den Flug nach Frankfurt bestätigen zu lassen. Hatte er noch rechtzeitig eines der Gebäude verlassen können? Vorsichtig robbte ich zum Schreibtisch und suchte zwischen den staubigen Studiensachen nach meinem Handy. Endlich! Hier war es. Ich wählte seine Nummer, aber die Leitung war tot. Oh mein Gott, das darf doch nicht wahr sein! Panik erfasste mich. Ich rief wie von Sinnen nach Hilfe. Da erinnerte ich mich an meine Freundin Mara und all die anderen auf meinem Stockwerk.

      »Mara, wo bist du? Bist du verletzt?«, schrie ich verzweifelt.

      »In meinem Zimmer, Conny! Nein, nur total staubig und hier herrscht das absolute Chaos. Ich versuche gerade, meine Zimmertür zu öffnen, aber der Schrank liegt davor.«

      »Warte, ich komme sofort zu dir!« Vorsichtig, denn die Angst saß mir immer noch im Nacken, öffnete ich meine Tür. Auf unserem Korridor war an vielen Stellen der Putz von der Decke gebrochen und da, am Ende des letzten Raumes, klaffte ein riesiges Loch. Oh mein Gott, hoffentlich war Nick während dem Beben nicht in seinem Zimmer! Er war ein liebgewonnener Kommilitone. Ich begann zu zittern, und Tränen liefen mir über das Gesicht, währenddessen ich zu Maras Schlafraum stürzte.

      »Mara, ich stehe vor deiner Tür und stemme mich dagegen, du ziehst dann am Schrank. Okay?«, rief ich mit angsterfüllter Stimme.

      »Ja, ist gut Conny. Ich habe solche Angst!«

      »Dann zieh, damit wir so schnell wie möglich hier rauskommen!«

      Vereint befreiten wir sie in wenigen Minuten und fielen uns weinend aber glücklich, um den Hals.

      »Schnell, Mara, nix wie weg! Am Ende des Korridors klafft ein riesiges Loch. Von der Decke fällt immer wieder Putz. Gibt es nicht auch Nachbeben?«

      Panikartig eilten wir zum Treppenhaus, rannten die Treppen hinunter ins Freie und direkt in die Arme des Katastrophenschutzteams.

      »Bitte begeben sie sich sofort zum Sammelplatz an der Mensa. Wir erwarten ein Nachbeben! Haben sie noch jemanden im Innern gesehen?«

      Wir schüttelten nur unsere Köpfe, und schon waren die Männer im Gebäude verschwunden.

      Auf dem Weg zur Mensa fragte ich: »Funktioniert dein Handy, Mara? Meines ist tot.«

      »Ja, hier. Ich habe vorhin Jens vom Zimmer aus angerufen, bei ihm ist alles okay. Er war während des Bebens in der U-Bahn und rettete sich ins Freie.«

      Ungeduldig wählte ich Pauls Nummer. Immer noch tot. Ich fing bitterlich an zu weinen.

      °Conny°

      Es war an einem Donnerstag im August, der Himmel leuchtete azurblau, ab und zu zog eine kleine Wolke vorüber. Ein strahlender Sommertag. Es war der Tag, an dem ich mich erwachsen fühlte, gleichwohl ich im Juni erst neunzehn Jahre alt geworden war. Ich saß mutterseelenallein in einem Flieger in die USA und flog in ein neues Leben.

      »Conny, pass auf dich auf, mein Mädchen. Hast du alles? Pass? Geld?«

      »Mama, nerv mich doch nicht. Klar, habe ich alles. Ich bin doch bald wieder zurück.«

      Ich rollte mit den Augen und hob meinen schweren Koffer auf das Förderband am Eincheckschalter der Lufthansa Linie.

      »Wenn es möglich wäre, möchte ich bitte einen Fensterplatz«, sagte ich zur Stewardess, die gerade eine Banderole um mein Gepäck klebte.

      »A 1 ist sogar noch frei.« Die Frau schaute mich fragend an.

      »Den nehme ich. Danke.«

      Nachdem ich meine Papiere und die Boarding-Karte in meiner Handtasche verstaut hatte, drehte ich mich zu meiner Mutter um und zog sie vom Schalter weg. Ihr trauriges Gesicht sprach Bände.

      »Bald ist relativ, Kind. Ein Jahr ohne dich – noch kann ich es mir überhaupt nicht vorstellen.«

      Ihre Augen glänzten verdächtig. Oma war etwas gefasster und machte ihre Späße, wie es ihre Art war.

      »Kommt, Mama und Omi, lasst uns noch einen Kaffee trinken, damit du«, Conny kniff ihrer Mutter in die Wange, »mir nicht auf dem Heimweg einschläfst.«

      Arm in Arm schlenderten wir ins nächstbeste Café. Am Fenster, mit Blick zum Rollfeld, ließen wir uns für das letzte Gespräch vor meinem Abflug nieder.

      ***

      Nach einem tränenreichen Abschied von meiner Familie befand ich mich nun in der Economyklasse eines Fliegers der Lufthansa mit Ziel London, einem Zwischenstopp auf meiner Reise nach New York. Ich hatte gemischte Gefühle, aber wollte mir meinen großen Traum, in Amerika zwei Auslandssemester zu studieren, erfüllen. Trotzdem nagte das schlechte Gewissen an mir, hatte ich doch meine Mutter und meinen Bruder in Deutschland zurückgelassen.

      Meine Eltern waren schon lange geschieden und mein Vater verstarb vor zwei Jahren. Die endlosen Streitigkeiten bei Gericht und mit dem Ergänzungspfleger, einem unsympathischen, sich selbst gerne reden hörenden Mann, der mein Vermögen verwaltete, hatten mich zermürbt. Dann gab es die Großeltern väterlicherseits, die uns ständig unser Erbe streitig machten. Sie nutzten jede noch so kleine Gelegenheit, um an das Geld meines Vaters zu kommen, ob gerichtlich oder per Anwalt. Mittlerweile war mir diese ganze Erbschaft eh egal. Sollten sie doch alles bekommen. Hauptsache, ich hatte wieder Frieden und es würde Ruhe in das Leben meiner kleinen Familie einkehren.

      Diese war dringend notwendig, denn meine Mutter erkrankte vor vielen Jahren an der Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose und war inzwischen nervlich vollkommen am Ende. Hätte ich sie einpacken können, ich hätte sogar meine Kleider zurückgelassen. Aber selbst wenn es ihr besser gegangen wäre, hätte es nicht geklappt. Da gab es ja noch meinen jüngeren Bruder, der noch zur Schule ging und in vier Jahren sein Abitur machen wollte. Ich hatte sie alle lieb, aber auf diese Reise konnte ich sie nicht mitnehmen. Wenn ich ehrlich zu mir war, ich wollte es auch nicht. Es war mein Traum! Es war meine Reise, die ich alleine antreten musste, fern von allen Streitigkeiten und der Familie meines Vaters, auch weg von seinem Schatten und dem Schmerz in meiner Brust.

      Als ich damals durch meine Mutter die Nachricht von seinem Tod erhalten habe, erstarrte ich innerlich, und in dieser Starre befand ich mich noch immer. Mein Bruder Peter und ich hatten den psychischen und körperlichen Zerfall unseres Vaters über zehn Jahre hinweg erlebt. Die letzten Wochen waren mehr als grausam. Er lag nur noch in seinem Bett, konnte sich kaum bewegen, und seine Sprache war ihm unwiderruflich verloren gegangen. Ich konnte den Anblick kaum ertragen, aber seine Eltern versuchten, uns bei jedem Besuch in sein Zimmer zu drängen. Meine Mutter hatte mit uns geweint und uns getröstet, wann immer sie konnte. Diese Besuche hatte sie nur zweimal zuge-lassen. Wir sollten uns an die guten, besseren Zeiten mit ihm erinnern, wobei Peter ihn nur krank kannten. Zu Beginn seines Tumorleidens sahen und hörten wir nichts von seinen Symptomen, dafür waren wir einfach noch zu klein. Nachdem er verstorben war, besuchte ich mit Peter und Mama nur einmal sein Grab. Ich hatte einfach die Vorstellung nicht ertragen können, dass er nun unter der Erde lag. Am liebsten würde ich das Erlebte in meinem Kopf löschen …

      Die Stewardess riss mich aus meinen Gedanken und fragte: »Wollen Sie einen Kaffee oder Tee? Was darf ich Ihnen von den Kaltgetränken servieren?«

      »Ich


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