Propellerheim. Thomas Noll
Читать онлайн книгу.am Koch, ob er daraus etwas Angenehmes zaubert oder resigniert nur etwas heiß macht… ich habe beides erlebt. Extrem fleischlastig sind aber alle, da ja Fleisch leider eines der billigsten Lebensmittel ist. Der fernöstliche Ansatz, dass Essen als Medizin angesehen wird, findet hier keine Beachtung.
Etwas Bemerkenswertes zu diesem Thema ist mir noch in Erinnerung: meine 2. Klinik bezeichnete sich als Spezialisten für Ess-Störungen. Das wird ja auch dann im Hochglanzprospekt werbetechnisch hochwertig dargestellt. An meinem ersten Tag gab es abends am offenen Buffet Pfälzer Schlachtplatte, das heißt Blut- und Leberwurst satt, Saumagen und saure Gurken. Die Anorexistinnen waren schon beim Anblick grün im Gesicht, und die Adiposisten hauten rein, dass sich die Balken bogen. Ich vermag da wenig Klinik-Spezialisierung zu sehen.
Das Thema „Essen“ sähe also in einer ayurvedischen Klinik deutlich anders aus als in unseren Reha-Kliniken!
Am Anfang war das Wort
Mein Tipp an dieser Stelle für direkt Betroffene: beantwortet die Fragen „Warum sind Sie hier, was sind Ihre aktuellen Beschwerden, wann traten diese auf, welche Maßnahmen haben Sie selbst schon ergriffen, was erwarten Sie von der Reha?“ gewissenhaft, recherchiert und rekonstruiert Daten; druckt sie aus, speichert sie als pdf im PC, Laptop, tablet-PC, USB-Stick und im Handy – ihr werdet sie durchgehend brauchen!!!
„Am Anfang war das Wort“, heißt es schon in der Bibel. So ist es auch in einer Reha. Nicht, dass man, bis man in der Reha ankommt, seine Lebens- und Leidensgeschichte bereits gefühlte 33 mal angegeben hätte. Beim Hausarzt, beim Psychologen, beim Neurologen, beim Reha-Antrag, nach der obligatorischen Ablehnung (angeblich macht dies der Azubi im ersten Lehrjahr ohne Durchsicht des Antrags), beim Einspruch gegen die Ablehnung.
Nach der Genehmigung durch die Krankenkasse, meist aber durch die Rentenversicherung kommen dann Unterlagen von der Klinik, die auszufüllen sind. „Warum möchten Sie in die Reha, was sind Ihre aktuellen Beschwerden, wann traten diese auf, welche Maßnahmen haben Sie selbst schon ergriffen, was erwarten Sie von der Reha?“ Erst-Rehaianer und Rehaianerinnen wundern sich schon hier, wieso die Informationen nicht von der Rentenversicherung an die Klinik weitergegeben wurden, schließlich beauftragt ja die Rentenversicherung die Klinik mit meiner Gesundung, sucht die Klinik nach Behandlungsschwerpunkten und freien Plätzen aus… Nein, die Klinik weiß nichts über meine Krankheit, hat keine Informationen! Gut, ich fülle alles aus und schicke es der Klinik zu.
Was liegt in meinem Zimmer, als ich dort ankomme? Genau: ein zentimeterdicker Fragebogen zum Ausfüllen: „Warum möchten Sie in die Reha, was sind Ihre aktuellen Beschwerden, wann traten diese auf, welche Maßnahmen haben Sie selbst schon ergriffen, was erwarten Sie von der Reha?“ Als Sahnehäubchen noch die Frage „Warum jetzt eine Reha?“, welche man nur als bitteren Sarkasmus auffassen kann, da praktisch alle Patienten einen monatelangen Leidensweg durch die ablehnenden deutschen Institutionen hinter sich haben und den Zeitpunkt ihres Aufenthaltes gewiss nicht selbst bestimmen können. Man hat den tiefen Eindruck, man ist nicht da um zu Gesunden, sondern um Aktenschränke zu füllen. Wohlgemerkt mit datenverarbeitungstechnisch schwer zu verarbeitendem Papier handschriftlich ausgefüllt. Aus Bosheit und zum Test gebe ich das Anfangs ausgefüllte Formular nicht wie befohlen am nächsten Tag ab, sondern warte, wie lange es dauert, bis es vermisst wird, wie lange sie mich behandeln, ohne das gelesen zu haben, was mich krank macht. – Kurz vor der Entlassung wird es bemerkt, man brauche das für den Abschlussbericht! Ob ich das aus Versehen nicht abgegeben habe. „Ach!“ sage ich unschuldig, „ich schaue mal im Zimmer nach, ob ich das vergessen habe!“ Und siehe da, da lag´s! Der zum x-ten Mal ausgefüllte Papier-Wust.
Das erklärt auch ein bisschen, wieso niemand der Klinikangestellten meine Vorgeschichte kennt. Wenn die Akten im Schrank vor sich hin schimmeln.
Erster echter Termin ist der Arzt, Dr. med., und dessen Begrüßungsfrage ist: „Was sind Ihre aktuellen Beschwerden, wann traten diese auf, welche Maßnahmen haben Sie selbst schon ergriffen, was erwarten Sie von der Reha?“
Der erste Therapeuten-Termin ist erst am nächsten Tag. Er hat ein leeres Krankenblatt in der Hand und fragt mich: „Warum möchten Sie in die Reha, was sind Ihre aktuellen Beschwerden, wann traten diese auf, welche Maßnahmen haben Sie selbst schon ergriffen, was erwarten Sie von der Reha?“ Besonderer Wert wird hier auf die Vergangenheit gelegt. „Wann war die erste Panikattacke? Im Juni oder August 1991?“
Ich bin extrem genervt. Kleine Männchen in meinem Kopf hauen mit der Spitzhacke auf meine offenen Nervenenden ein.
Diese Fragen habe ich wirklich exakt am Computer rekonstruiert und detailliert in das Formular geschrieben, dass ich vor der Reha an die Klinik geschickt habe! Pdf-weise habe ich meine Infos, Empfindungen und Vorgeschichten geschickt – wo sind die jetzt??? Der Therapeut zuckt mit den Schultern. Tja, aus dem Kopf weiß ich nicht mehr, was 1991 war!!!
Dass nicht mit dem PC gearbeitet wird, sondern grundsätzlich mit Papierchen zieht sich über den gesamten Aufenthalt. Bei allem Erzählen wird mitgekritzelt, aber meist wird bei der nächsten Sitzung nicht mehr gewusst, wo wir das letzte Mal waren.
Naja, Papier ist ja unbegrenzt da. Wer braucht schon Bäume und Wälder?
Aber sind das nicht dieselben staatlichen Institutionen (die Rentenkasse im weiteren Sinne), die uns zwingen, vom Teebeutel den Inhalt in den Biomüll, das Heftklämmerchen auf den Schrottplatz, den Beutel in den Restmüll und das Papierfähnchen zum Altpapier zu bringen, weil ihnen doch die Umwelt so am Herzen liegt? Eigenartige Widersprüchlichkeiten. Mir fallen sie auf und sie stören mich ungemein. So etwas macht mich krank! Mir fehlt die Fähigkeit, bei Widersprüchlichkeiten einfach die Schulter zu zucken und sie abzulegen, wo sie niemand mehr finden kann.
Während meiner Zeit war mein Therapeut einmal krank. Es übernahm eine Vertretung, was mich aufgrund der Gesamt-Situation in Panik versetzte. Über diese Gegebenheit wird noch ausführlich berichtet… „Eine Vertretung seie kein Problem!“ wurde mir gesagt.
Ich trat ein, sie hatte eine leere Krankenakte in der Hand und fragte mich: „Warum sind Sie hier, was sind Ihre aktuellen Beschwerden, wann traten diese auf, welche Maßnahmen haben Sie selbst schon ergriffen, was erwarten Sie von der Reha?“
Doch zurück zur Anfangszeit. Nachdem ich jedem berichtet hatte, wieso ich denn ´hier sei´ wurde die Nachricht kund, der Supervisor wolle mich sehen. Ausgerechnet mich? Nein, das sei obligatorisch, er wolle jeden seiner Patienten kennenlernen und nach dem Stand der Dinge fragen. Das kam mir gerade recht! Das ist ein Teamleiter der Klinik! Dem werde ich als ehemaliger Beauftragter für Prozesse und Qualität ein paar Vorschläge machen, wie zum Beispiel diesen revolutionär neuen Computer zu benutzen, damit jeder Klinikangestellte gleich über jeden Patienten im Bilde ist – innerhalb der datenschutzrechtlichen Bestimmungen natürlich -, und dass sich Patienten nicht ernst genommen fühlen, wenn sie 35mal dasselbe erzählen müssen, und das ja gerade oft das Kernproblem für psychische Störungen ist… in einem chirurgischen Krankenhaus weiß ja schließlich auch jeder nach kurzer Akteneinsicht, dass der Patient mit dem Magendurchschuss keinen scharfen Ingwer-Tee bekommt!
Ich bereitete mich gut vor, ich hatte nur 15 Minuten Sprechzeit. Ich trat ein, er ließ mich setzen, und ich begann: „Sie wissen ja, warum ich hier bin! Also, ich möchte etwas loswerden…“ „Moment!“ unterbrach er mich, „ich habe nur Ihren Namen! Bungert, nicht?“ „Nein, Noll ist mein Name…“ „Ah! Dann haben die das doch geändert!“ meinte er, und tauschte zwei leere Krankenakten in seinen Händen aus. „Dann erzählen Sie mal Herr Noll, warum sind Sie hier, was sind Ihre aktuellen Beschwerden, wann traten diese auf, welche Maßnahmen haben Sie selbst schon ergriffen, was erwarten Sie von der Reha?“ Ich sacke leicht vornüber. Erzähle meine Geschichte zum 36. Mal. Während er nickt, sehe ich hinter seinem Kopf an der Wand das Motto „Ihre Gesundheit ist unser Anspruch“ und kann dabei ein Lachen kaum unterdrücken. Meine Lippen zucken, ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Der Supervisor denkt aber, dass ich weine und wird immer tröstender in seinem Kopfnicken, was den Spruch aber ständig wieder aufleuchten lässt. Ich könnte trampeln vor Lachen und er hält´s für