Der Hafen meiner Träume. Eberhard Schiel
Читать онлайн книгу.aus der untersten Schublade, primitiver geht es nun wirklich nicht. Der Mann hat in seinem unverschlossenen Schrank seine Dienstwaffe deponiert. Die beiden Jungens spielen damit, bedrohen meinen Bruder, der erstattet Anzeige. Im angetrunkenen Zustand will Ehlers Rache schwören, wird beinahe tätlich, aber unser familieneigene Schutzmann der BSG Lokomotive, Sparte Boxen, hat ihn sofort im Griff, und die Anzeige greift auch nach Ehlers. Er wird abgelöst. Wir trauern ihm keine Träne nach.
Ein neuer Mieter zieht in seine Wohnung. Man schickt uns als Nachbarn nun gleich den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Stralsund, den Genossen Berg. Man ahnt nichts Gutes. Mutti sagt, jetzt werden wir wohl noch alle in die Partei gehen müssen. Na ja, sagte ich, die nehmen doch keine Minderjährigen, und Papa war ja bei den Braunen, und dann müßten sie dich ja auch erst umerziehen, weil Papa dich vielleicht politisch beeinflußt haben könnte. Den einzigen von uns, den sie sich schnappen werden, wird unser Großer sein, weil der studieren will. Als Mann vom Rundfunk muß er sowieso. Das ist da Pflicht bei dem Verein. Er kann schließlich nicht reden wie ein Bürgerlicher im öffentlichen Sender. Dein Sohn, Mutti, braucht zunächst politisches Rüstzeug, bevor er auf die Leute losgelassen wird. Dafür haben sie ja auch ein Rüsthaus. Bezirksparteischule heißt das, glaub` ich. Aber beim Studium verabreichen sie ihm auch schon jede Menge Politik. Mutti winkt ab. Ich soll endliche Ruhe geben. Du machst mich noch ganz verrückt mit deinen Redensarten, sagt sie. Wenn Du groß bist, kannst Du so mit mir reden, nicht jetzt. Ich ziehe mich zurück. Mit Luise, Auguste, Otilie zu streiten hat wenig Sinn. Die Partei hat immer recht, die Mütter auch. Ich habe solche Angst, daß die meine noch eine Politische wird. Sie hätte dann das Privileg, auf ein doppeltes Recht zu pochen, was kaum noch zu ertragen wäre. Inge ist fein raus, sie wohnt nicht mehr bei uns. Und wir leben hautnah mit dem obersten Hirten der SED-Kreisleitung zusammen. Ständig höre ich Schritte an der Tür. Ich höre es Klopfen. Die Partei ruft nach Mutti. Wir liegen in Bereitschaft, denken uns Dinge zur Abwehr der Werbung aus. Wir werden den Genossen Berg vertrösten, sagen, er möchte später noch mal wiederkommen, Frau Schiel wäre noch nicht so weit. Dann pocht es eines Tages tatsächlich an unserer Wohnungstür. Schweißgebadet spähe ich durch einen winzigen Spalt, sage stotternd zu Herrn Berg, meine Mutter ist krank. Sie liegt mit Fieber im Bett. Er sagt freundlich, ach das tut mir aber leid, ich wollte Euch nur einladen zum Kaffee. Bestell Deiner Mutter einen schönen Gruß von mir. Wenn es ihr wieder besser geht, dann kommt mal zu uns runter. Ich zeige Dir dann auch im Keller meine Dunkelkammer. Ich fotografiere nämlich gern, entwickle die Bilder selbst. Das wird billiger und macht mehr Spaß. Also, entschuldigt die Störung. Ach, das wollte ich Dich noch fragen, falls Deine Mutter gute Tabletten braucht, dann sagt mir Bescheid. In meinem Amt hat man eben Beziehungen. Es ist eben so. Also, dann ein anderes Mal. Tschüss.
Was war denn das für einer? Der ist 1. Sekretär der Kreisleitung der SED und spricht wie ein ganz normaler Mensch? Kaum zu glauben. Nun schäme ich mich fast, ihn derart belogen zu haben. Wenn Herr Berg so weiter macht, kriegt er es noch fertig und macht die Fotos zur Einsegnung. Ich mit der Bibel in der rechten Hand und der Fotograf mit Parteiabzeichen am Revers. Das kann doch nicht wahr sein? Abwarten. Nun wollen wir mal nach meinen neuen Freunden Ausschau halten.
3. Kapitel: Vorurteile
Meine neuen Freunde habe ich mir recht bequem ausgesucht. Sie wohnen gleich nebenan. Wir sind fast täglich zusammen, sitzen im Garten hinter dem Haus, werden von Uwes Mutter bestens bewirtet, unterhalten uns über die gerade gesehenen Filme, machen Pläne für die Zukunft, reden über die Lehrer und die letzten Erlebnisse rings um den Frankenteich. Dieses kleine Gewässer am Rande unserer Straße ist mehr als nur ein Ersatz für den verabschiedeten Hühnerberg. Es ist der schönste Schulweg, den man sich denken kann. Von der Lambert-Steinwich-Straße bis zur Goethe-Schule geht man durch die Anlagen, in denen es im Mai nach frischem Grün duftet, man kommt am Lambert-Steinwich-Denkmal vorbei, sieht, wie die Schwäne ein Nest bauen, die Enten munter über die seichten Wellen schaukeln, wirft einen flüchtigen Blick auf die zur Ruhe einladenden Bänke, auf denen manchmal ein in Gedanken versunkener älterer Mann sitzt, der mit sich und der Natur allein sein möchte. Dann der hohe Zaun am Franken-Sportplatz, hinter dem es am Sonnabend äußerst lebendig wird, wenn die BSG Motor aufläuft. Beim Einbiegen in die letzte Kurve wird einem schon etwas mulmig, da das Lärmen der Mädchen und Jungen von der Gerhart-Hauptmann-Schule zu mir herüber dringt. Die Romantik endet hier, die Pflicht ruft. Die letzten Schritte werden immer schwerer, der Puls schlägt höher, das Gewissen meldet ein Warnsignal. Alle Aufgaben gemacht? Gut vorbereitet auf den Unterricht? Kein Schulbuch vergessen? Kontrolle auf der Parkbank, gleich neben dem weiten Eingangstor des Sportplatzes. Na, dann, hinein in die Arena! Lehrer Willi Peters wartet schon. Erste Stunde Biologie-Unterricht. Eigentlich wollte Herr Peters uns heute abfragen, wie das menschliche Ohr funktioniert, doch das interessiert uns wenig und der Lehrer hat für das Thema auch nur bedingtes Interesse. Wir wissen, wie wir ihn auf ein anderes Gebiet umlenken können, auf ein harmloses, bei dem es keine Zensuren gibt. Ich hole aus dem Schulranzen ein paar Gräser und Pflanzen heraus, lege sie auf das Lehrerpult, sehe, wie die Augen von Herrn Peters anfangen zu leuchten. Er sortiert sie nach Art und Gattung. Er lächelt vergnügt. Wir reiben uns die Hände. Das kostet alles Zeit. Man gönnt sie ihm. Dann hebt er den Kopf. Wir sperren unsere Ohren auf. Da kommt die erste Frage: Wer kann mir sagen, was ich hier in der Hand halte? Einen schönen Stengel, Herr Peters, antwortet Klaus Mews. Die ganze Klasse kichert. Ach, was sind die Kinder heute wieder unnütz, sagt Herr Peters. Wir lachen alle. Herr Peters ärgert sich. Plötzlich fragt er mich. Ich rate drauf los. Es könnte eine Biberwell sein. Ach, Quatsch, du bist dicht dran, aber falsch. Das ist? Tommy stößt mich unverhofft ans Bein. Ich spüre schmerzhaft die Gedächtnisstütze, denke scharf nach, sage, das ist Beinwell, Herr Peters. Gut für Schmerzen, wenn mir einer gegen das Schienbein kloppt. Na, der Groschen fällt bei Dir aber ziemlich spät, sagt Herr Peters. Nun hält er uns einen Vortrag im Allgemeinen und über die verschiedenen Kräuterarten, wofür sie verwendet werden, für die Küche und die Schmerzen. Wenn ihr später den Beruf eines Kochs ergreifen wollt, müßt ihr wissen, welche Kräuter zu welchem Fleischgericht passen, sagt er. In unserer Klasse will aber keiner Koch werden. Klaus Mews will lieber Fußballer werden, Rainer Petrik möchte gerne Arzt werden, Kronholz will wie sein Vater zur Polizei gehen, und ich will auch kein Koch werden. Egal, Herr Peters macht weiter. Er klärt uns gerade darüber auf, welche Kräuter die griechischen Götter schon auf dem Weg zum Olymp verwendeten und welche Kräuter die alten Römer auf ihren Fußmärschen durch halb Europa bei sich trugen. Herr Peters ist unterwegs zu einer anderen Welt, einer längst untergegangenen, in die er eintaucht, um die gegenwärtige Zeit zu vergessen. Wir wünschen ihm eine gute Reise. Alle dösen vor sich hin. Nur ich kann nicht einschlafen. Ich höre Wortfetzen. An meinem Gehör rauschen sie vorbei, die Namen von Herakles und Apoll, Cicero und Plinius dem Jüngeren, Cato und Demosthenes, Marc Antonio und Cäsar, Bittersüß und Bitterklee, Bingelkraut und Beifuß. Dann ein schriller Ton. Es muß geläutet haben. Die Stunde ist um. Wir haben es geschafft. Ohne Leistungskontrolle über die Runden gekommen. In den anderen Fächern auch keine Vorkommnisse. Nur während der großen Pause gibt es die übliche Schlägerei zwischen Hans-Joachim Voge und Ulli Müller. Ich gehe dazwischen, weil Ulli immer so grob zuschlägt. Er ist der Stärkste von uns, Eberhard Ihde der Klügste, Tommy der Schnellste, Wolfgang Pfeiffer der Wendigste, Klaus Mews der beste Fußballer. Damit ist auch schon die Riege der Lieblingsschüler von Klassenlehrer Horst Fiedler aufgezählt. Ich gehöre nicht dazu, bin wie immer im Mittelfeld, nur nicht beim Fußball, da spiele ich Linksaußen. Egal, wen ich auch nenne, wir alle haben Vorurteile gegen einen einzigen Schüler, der nur wegen seiner etwas brünetten Hautfarbe Schläge verdient, wie wir glauben. Helmut Berkel heißt er. Alle wissen, daß Helmut sich nicht wehrt. Selbst der Schwächste darf auf ihn einschlagen. Und wir nutzen seine Wehrlosigkeit schamlos aus. Dabei ist Helmut körperlich keineswegs von der Natur benachteiligt worden. Wir finden für sein Verhalten keine Erklärung, und wo der Verstand aussetzt, schaltet sich die rohe Gewalt ein. Einer ruft in die Runde: Helmut kriegt heute Klassenschacht. Alle sind dafür. Er hat nämlich wieder eine Eins in Deutsch für den besten Aufsatz erhalten, ist ein Streber, das muß bestraft werden, wir müssen ihm unbedingt einen Denkzettel verpassen. Wir lauern auf Helmut in den Anlagen am Frankenteich, stellen ihm ein Bein, bis er stürzt, dreschen drauf los. Wieder keine Gegenwehr. Befriedigt ziehen wir ab. Jeder geht seiner Wege, so als sei nichts geschehen. Das Opfer schweigt