Jules Verne: Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Jules Verne
Читать онлайн книгу.ich bleiben«, erwiderte ich mit dem Ton eines Beleidigten.
Aber mein Oheim fuhr um so eifriger fort mich wider Willen über Dinge zu belehren, die ich zu wissen gar nicht Lust hatte.
»Die Runen, fuhr er fort, waren Schriftzüge, die vor uralten Zeiten auf Island im Gebrauch waren und von Odin selbst erfunden sein sollen! Aber schau doch her, bewundere doch, Gottloser, die von einem Gott ausgedachten Zeichen!«
Wahrhaftig, anstatt zu antworten, fiel ich auf die Knie, eine Antwort, die Göttern und Königen gefällt.
Ein Zwischenfall gab der Unterhaltung eine andere Wendung. Ein schmutziges Pergament fiel aus der Scharteke heraus auf den Boden.
Mit begreiflicher Gier fiel mein Oheim über diesen Quark her. Ein altes Dokument, das vielleicht seit unvordenklicher Zeit in einem alten Buche lag, musste unfehlbar in seinen Augen sehr kostbar sein.
»Was ist das?« rief er aus.
Und zugleich entfaltete er sorgfältig auf dem Tisch ein fünf Zoll langes, drei Zoll breites Pergamentstück, worauf in Querzeilen ein unverständliches Gekritzel von Schriftzügen sich befand.
Ich gebe hier ein genaues Facsimile derselben. Es ist mir darum zu tun, diese seltsamen Zeichen zur Anschauung zu bringen, weil sie den Professor Lidenbrock nebst seinen Neffen zu der sonderbarsten Unternehmung des neunzehnten Jahrhunderts veranlassten:
Der Professor betrachtete diese Zeichen eine Weile; dann sprach er, indem er seine Brille höher rückte:
»Es ist Runisch; diese Zeichen sind denen auf dem Manuskript Snorro's völlig gleich! Aber ... was mag das nur bedeuten?«
Da es mir schien, das Runische sei eine Erfindung der Gelehrten, um die ungelehrten Leute zu hintergehen, so war es mir nicht unlieb, dass mein Oheim nichts davon verstand. Das nahm ich wenigstens aus seinen Fingerbewegungen ab.
»Es ist doch alt Isländisch«, brummte er in den Bart.
Und der Professor Lidenbrock musste das wohl verstehen, denn er galt für ein Wunder von einem Sprachenkenner. Die zweitausend Sprachen und viertausend Dialekte, die man auf der Erde kennt, sprach er nicht nur geläufig, sondern verstand auch deren einen guten Teil.
Um dieser Schwierigkeit willen war er im Begriff, sich allen Stürmen seines heftigen Gefühls hinzugeben, als es auf der kleinen Uhr des Kamins zwei schlug, und die gute Martha die Tür mit den Worten öffnete:
»Die Suppe ist aufgetragen.
– Zum Henker mit der Suppe, schrie mein Oheim, samt der Köchin, und wer sie verzehrt!«
Martha entfloh, ich eilte ihr nach und befand mich, ohne zu wissen wie, an meinem gewöhnlichen Platz im Speisezimmer.
Ich wartete eine Weile. Der Professor kam nicht. Zum ersten Mal, meines Gedenkens, ließ er sich bei dem Mittagessen vermissen. Und doch, welch treffliches Essen! Petersiliensuppe, Eierkuchen mit Schinken in Sauerampfersauce, Kalbsnierenbraten mit Pflaumenkompott, und zum Dessert Meerkrebschen mit Zucker, und dazu ein hübscher Moselwein.
Das Alles versäumte mein Oheim über dem alten Papier. Wahrhaftig als ergebener Neffe glaubte ich mich verbunden, für uns beide zu essen. Und ich tat es gewissenhaft.
»Das hab' ich nie erlebt! sagte die gute Martha. Herr Lidenbrock nicht bei Tische!
– Unglaublich.
– Das hat was Arges zu bedeuten!« fuhr die Alte mit Kopfschütteln fort.
Meines Erachtens bedeutete es nichts anderes, als eine fürchterliche Szene, wenn mein Oheim sein Essen aufgezehrt finden würde.
Ich war an meinem letzten Krebschen, als eine lauthallende Stimme mich den Genüssen des Nachtisches entzog. Mit einem Sprung war ich im Kabinett des Herrn.
Drittes Kapitel – Das Pergament des Arne Saknussemm
»ES IST OFFENBAR Runisch, sagte der Professor mit Stirnrunzeln. Aber ich werde das Geheimnis, das dahinter steckt, entdecken, sonst ...«
Und er machte eine heftige Bewegung mit der Hand.
»Setz' Dich dahin, fuhr er fort, indem er auf den Tisch hinwies, und schreib'.«
Im Augenblick war ich bereit.
»Jetzt will ich Dir jeden Buchstaben unseres Alphabets diktieren, sowie er mit einem dieser Schriftzüge stimmt. Wir werden sehen, was dabei herauskommen wird. Aber nimm Dich wohl in Acht, dass Du nichts verfehlst!«
Er fing an, zu diktieren, und ich gab mir alle Mühe. Er benannte jeden Buchstaben einen nach dem andern, und so bildeten sich folgende unverständliche Worte:
m.rnlls esreuel seecJde
sgtssmf unteief niedrke
kt,samn atrateS Saodrrn
emtnaeI nuaect rrilSa
Atvaar .nxcrc ieaabs
ccdrmi eeutul frantu
dt,iac oseibo KediiI
Als dies fertig war, nahm mein Oheim hastig das Blatt, worauf ich geschrieben hatte.
»Was will das bedeuten?« wiederholte er mechanisch.
Auf Ehre, ich hätte es ihm nicht sagen können. Übrigens fragte er mich nicht, und sprach weiter mit sich selbst:
»Das heißen wir eine Geheimschrift, sagte er, worin der Sinn hinter absichtlich durcheinander gemischten Buchstaben versteckt ist, welche in gehöriger Folge geordnet, eine verständliche Phrase bilden würden. Darin steckt vielleicht die Erklärung oder Andeutung einer großen Entdeckung!«
Ich meines Teils dachte, es stecke gar nichts dahinter, aber ich hütete mich wohl, meine Meinung auszusprechen.
Der Professor nahm darauf das Buch und das Pergament, und verglich sie beide mit einander.
»Diese beiden Schriften sind nicht von derselben Hand; das Geheimschriftstück ist späteren Ursprungs, als das Buch, wie ich das gleich vorne aus einem unwiderleglichen Beweis ersehe. In der Tat, der erste Buchstabe ist ein doppeltes M, das in Sturleson's Buch sich nicht findet, denn es wurde erst im vierzehnten Jahrhundert dem isländischen Alphabet hinzugefügt. Also liegen wenigstens zwei Jahrhunderte zwischen dem Manuskript und dem Dokument.«
Das schien mir allerdings ziemlich folgerichtig.
»Das bringt mich auf den Gedanken, fuhr mein Oheim fort, diese geheimnisvolle Schrift sei von einem Besitzer des Buches verfasst worden. Aber wer zum Henker war dieser Besitzer? Sollte er nicht seinen Namen irgendwo unter das Manuskript gesetzt haben?«
Mein Oheim setzte seine Brille höher, nahm eine starke Lupe, und musterte sorgfältig die ersten Seiten des Buches durch. Auf der zweiten Rückseite entdeckte er eine Art Flecken, der wie ein Tintenklex aussah; aber genauer besehen unterschied man einige halb verloschene Schriftzüge. Mein Oheim begriff, dass es auf diesen Punkt ankomme; er machte sich also auf's Eifrigste darüber her, und erkannte endlich mit Hilfe seiner Lupe die folgenden Runenschriftzeichen, welche er ohne Anstoß lesen konnte:
»Arne Saknussemm! rief er triumphierend aus, aber das ist ein Name, und noch dazu ein isländischer Name, eines Gelehrten des sechzehnten Jahrhunderts, eines berühmten Alchimisten.«
Ich schaute meinen Oheim mit einigem Staunen an.
»Diese Alchimisten, fuhr er fort, Avicenna, Bacon, Lullus, Paracelsus waren die einzigen, die echten Gelehrten ihrer Epoche. Sie haben Entdeckungen gemacht, worüber wir erstaunt sein dürfen. Warum sollte nicht dieser Saknussemm unter dieser Geheimschrift eine auffallende Entdeckung verhüllt haben? So muss es sein. So ist's wirklich.«
Bei dieser Hypothese erhitzte sich des Professors Phantasie.
»Ganz