Hans Christian Andersen - Gesammelte Werke. Hans Christian Andersen
Читать онлайн книгу.dem Wasser war, fielen plötzlich die Schwanengefieder und eilf schöne Prinzen, Elisa's Brüder, standen da. Sie stieß einen lauten Schrei aus; ungeachtet sie sich sehr verändert hatten, wußte sie doch, daß sie es waren, fühlte sie, daß sie es sein müßten. Und sie sprang in ihre Arme und nannte sie bei Namen; und die Prinzen fühlten sich hochbeglückt, als sie ihre kleine Schwester sahen, und erkannten auch sie, die nun groß und schön war. Sie lachten und weinten, und bald hatten sie einander verstanden, wie böse ihre Stiefmutter gegen sie alle gewesen war.
»Wir Brüder,« sagte der Aelteste, »fliegen als wilde Schwäne so lange die Sonne am Himmel steht; sobald sie untergegangen ist, erhalten wir unsere menschliche Gestalt wieder. Deshalb müssen wir immer aufpassen, beim Sonnenuntergang eine Ruhestätte für die Füße zu haben; denn fliegen wir um diese Zeit gegen die Wolken empor, so müssen wir als Menschen in die Tiefe hinunterstürzen. Hier wohnen wir nicht; es liegt ein ebenso schönes Land, wie dieses, jenseit der See. Aber der Weg dahin ist weit: wir müssen über das große Meer, und es findet sich keine Insel auf unserm Wege, wo wir übernachten könnten: nur eine kleine Klippe ragt in der Mitte desselben hervor; sie ist nur so groß, daß wir, dicht nebeneinander gelagert, darauf ruhen können. Ist die See stark bewegt, so spritzt das Wasser hoch über uns hinweg; aber doch danken wir Gott für sie. Dort übernachten wir in unserer Menschengestalt; ohne diese könnten wir nie unser liebes Vaterland besuchen, denn zwei der längsten Tage des Jahres brauchen wir zu unserm Fluge. Nur einmal im Jahre ist es uns vergönnt, unsere Heimath zu besuchen; eilf Tage dürfen wir hier bleiben und über den großen Wald hinfliegen, von wo wir das Schloß, in dem wir geboren wurden und wo unser Vater wohnt, erblicken und den hohen Kirchthurm sehen können, wo die Mutter begraben ist. Hier kommt es uns vor, als wären Bäume und Büsche mit uns verwandt; hier laufen die wilden Pferde über die Steppen hin, wie wir es in unserer Kindheit gesehen: hier singt der Kohlenbrenner die alten Lieder, nach denen wir als Kinder tanzten; hier ist unser Vaterland; hierher fühlen wir uns gezogen, und hier haben wir Dich, Du liebe, kleine Schwester, gefunden! Zwei Tage können wir noch hier bleiben, dann müssen wir fort über das Meer, nach einem herrlichen Lande, welches aber nicht unser Vaterland ist! Wie bringen wir Dich fort? Wir haben weder Schiff noch Boot!«
»Auf welche Art kann ich Euch erlösen?« fragte die Schwester. Und sie unterhielten sich fast die ganze Nacht: es wurde nur einige Stunden geschlummert.
Elisa erwachte von dem Schlag der Schwanenflügel, welche über ihr brausten: die Brüder waren wieder verwandelt und flogen in großen Kreisen und zuletzt weit weg; aber der Eine von ihnen, der Jüngste, blieb zurück; und der Schwan legte den Kopf in ihren Schoos und sie streichelte seine Flügel; den ganzen Tag waren sie beisammen. Gegen Abend kamen die Andern zurück, und als die Sonne untergegangen war, standen sie in natürlicher Gestalt da.
»Morgen fliegen wir von hier weg und können vor Ablauf eines ganzen Jahres nicht zurückkehren. Aber Dich können wir nicht so verlassen! Hast Du Muth, mitzukommen? Mein Arm ist stark genug, Dich durch den Wald zu tragen: sollten wir da nicht Alle so starke Flügel haben, um mit Dir über das Meer zu fliegen?«
»Ja, nehmt mich mit!« sagte Elisa.
Die ganze Nacht brachten sie damit zu, aus der geschmeidigen Weidenrinde und dem zähen Schilf ein Netz zu flechten, und das wurde groß und fest. Auf dieses Netz legte sich Elisa, und als die Sonne hervortrat und die Brüder in wilde Schwäne verwandelt wurden, ergriffen sie das Netz mit ihren Schnäbeln und flogen mit ihrer lieben Schwester, die noch schlief, hoch gegen die Wolken empor. Die Sonnenstrahlen fielen ihr gerade auf das Antlitz, deshalb flog einer der Schwäne über ihrem Kopfe, damit seine breiten Schwingen sie beschatten konnten.
Sie waren weit vom Lande entfernt als Elisa erwachte; sie glaubte, noch zu träumen, so sonderbar kam es ihr vor, hoch durch die Luft, über das Meer getragen zu werden. An ihrer Seite lag ein Zweig mit herrlichen, reifen Beeren und ein Bündel wohlschmeckender Wurzeln; die hatte der jüngste der Brüder gesammelt und ihr hingelegt. Sie lächelte ihn dankbar an, denn sie erkannte ihn; er war es, der über ihr flog und sie mit seinen Schwingen beschattete.
Sie waren so hoch, daß das größte Schiff, welches sie unter sich erblickten, eine weiße Möve zu sein schien, die auf dem Wasser lag. Eine große Wolke stand hinter ihnen: das war ein Berg. Und auf diesem sah Elisa ihren eigenen Schatten und den der eilf Schwäne; so riesengroß flogen sie da. Das war ein Gemälde, prächtiger, als sie früher je eins gesehen. Doch als die Sonne höher stieg, und die Wolke weiter zurückblieb, verschwand das schwebende Schattenbild.
Den ganzen Tag flogen sie fort, gleich einem sausenden Pfeile durch die Luft; aber es ging doch langsamer, als sonst, denn jetzt hatten sie die Schwester zu tragen. Es zog ein böses Wetter auf; der Abend brach herein; ängstlich sah Elisa die Sonne sinken, und noch war die einsame Klippe im Meere nicht zu erblicken. Es kam ihr vor, als machten die Schwäne stärkere Schläge mit den Flügeln. Ach! sie war Schuld daran, daß sie nicht rasch genug fortkamen. Wenn die Sonne untergegangen war, so mußten sie Menschen werden, in das Meer stürzen und ertrinken. Da betete sie aus dem Innersten des Herzens ein Gebet zum lieben Gott; aber noch erblickte sie keine Klippe. Die schwarze Wolke kam naher; die Wolken standen in einer einzigen, großen, drohenden Welle da, welche fast wie Blei vorwärts schoß; Blitz leuchtete auf Blitz.
Jetzt war die Sonne gerade am Rande des Meeres, Elisa's Herz bebte; da schossen die Schwäne hinab, so schnell, daß sie zu fallen glaubte. Aber nun schwebten sie wieder. Die Sonne war halb unter dem Wasser: da erblickte sie erst die kleine Klippe unter sich. Sie sah nicht größer aus, als ob es ein Seehund wäre, der den Kopf aus dem Wasser steckte. Die Sonne sank sehr schnell; jetzt erschien sie nur noch wie ein Stern: da berührte ihr Fuß den festen Grund. Die Sonne erlosch gleich dem letzten Funken im brennenden Papier: Arm in Arm sah sie die Brüder um sich stehen; aber mehr Platz, als gerade für diese und sie, war auch nicht da. Die See schlug gegen die Klippe und ging wie Staubregen über sie hin; der Himmel leuchtete m einem fortwährenden Feuer, und Schlag auf Schlag rollte der Donner; aber Schwester und Brüder faßten sich an den Händen und sangen Psalmen, aus denen sie Trost und Muth schöpften. In der Morgendämmerung war die Luft rein und still; sobald die Sonne emporstieg, flogen die Schwäne mit Elisa von der Insel fort. Das Meer ging noch hoch; es sah aus, wie sie hoch in der Luft waren, als ob der weiße Schaum auf der schwarzgrünen See Millionen Schwäne wären, die auf dem Wasser schwämmen.
Als die Sonne höher stieg, sah Elisa vor sich, halb in der Luft schwimmend, ein Bergland mit glänzenden Eismassen auf den Felsen; und mitten darauf erhob sich ein wohl meilenlanges Schloß, mit einem kühnen Säulengange über dem andern; unten wogten Palmenwälder und Prachtblumen. Sie fragte, ob dies das Land sei, wo sie hin wollten; aber die Schwäne schüttelten mit dem Kopfe, denn das, was sie sah, war der Fata Morgana herrliches, allzeit wechselndes Wolkenschloß; in dieses durften sie keinen Menschen hineinbringen. Elisa starrte es an, da stürzten Berge, Wälder und Schloß zusammen, und zwanzig stolze Kirchen, alle einander gleich, mit hohen Thürmen und spitzen Fenstern standen vor ihnen. Sie glaubte die Orgel ertönen zu hören, aber es war das Meer, welches sie hörte. Nun war sie den Kirchen ganz nahe, da wurden diese zu einer ganzen Flotte, die unter ihr dahin segelte; doch als sie hinunter blickte, waren es nur Meernebel, die über dem Wasser hinglitten. So hatte sie eine ewige Abwechselung vor Augen, bis sie endlich das wirkliche Land sah, nach dem sie hin wollten; dort erhoben sich die herrlichsten blauen Berge mit Cedernwäldern, Städten und Schlössern. Lange bevor die Sonne unterging, saß sie auf dem Felsen vor einer großen Höhle, die mit feinen grünen Schlingpflanzen bewachsen war; es sah aus als wären es gestickte Teppiche.
»Nun wollen wir sehen, was Du diese Nacht hier träumst,« sagte der jüngste Bruder und zeigte ihr ihre Schlafkammer.
»Gebe der Himmel, daß ich träumen möge, wie ich Euch erlösen kann!« sagte sie. Und dieser Gedanke beschäftigte sie lebhaft; sie betete inbrünstig zu Gott um seine Hilfe; ja, selbst im Schlafe fuhr sie fort zu beten. Da kam es ihr vor, als ob sie hoch in die Luft fliege, zu der Fata Morgana Wolkenschloß; und die Fee kam ihr entgegen, schön und glänzend; und doch glich sie ganz der alten Frau, die ihr Beeren im Walde gegeben und ihr von den Schwänen mit Goldkronen auf dem Kopfe erzählt hatte.
»Deine Brüder können erlöst werden,« sagte sie; »aber hast Du Muth und Ausdauer? Wohl ist das Wasser weicher,