Die Schlangentrommel. Ole R. Börgdahl
Читать онлайн книгу.Einbauherd, Mikrowelle, eine Essecke mit zwei Stühlen, das Geschirr in offenen Hängeschränken. Alles war aufgeräumt, sah unbenutzt aus. Boold brauchte hier nicht weiter zu suchen.
Er ging über den Flur in die anderen Räume. Das Bad war genauso steril wie die Küche. Eine noch verpackte Zahnbürste, Zahnpasta und Rasierschaum im Toilettenschrank. Auch hier nahm Boold wieder den Zitronengeruch mit einem Hauch von Desinfektionsmitteln wahr. Den Grund für die Ordnung und Sauberkeit in der Wohnung fand er in einem kleinen Abstellraum am Ende des Flures. Kittel, Schürze, Eimer, Seifen, Entkalker, Raumspray, Bügelbrett, Bügeleisen. Die Arbeitsutensilien einer Putzfrau. Es gab sogar einen beutellosen Zyklonstaubsauger.
Als Nächstes betrat Boold Louk Boureys Schlafzimmer, das auf einer Seite in die Dachschräge eingelassen war. Boold achtete nicht mehr auf die Ordnung. Er ging sofort zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Eine Stange mit schwarzen und grauen Anzügen. Im Wäschefach lagen weiße Hemden, Markenunterwäsche und ein kleiner Korb mit aufgerollten schwarzen Socken. Es roch nach Naphthalin und immer noch nach Zitrone. Boolds Hände wanderten zwischen die Wäsche und in die Hosen- und Jacketttaschen der Anzüge. Er fand einen Supermarktbon über drei Mark achtundsechzig und ein zusammengeknülltes Stück Schokoladenpapier. Die Putzfrau musste nachlässig gewesen sein, denn die Anzüge waren alle gebügelt.
Boold nahm sich nun die Schubladen des Nachtschrankes vor. Er fand einen Satz Baumwolltaschentücher und eine angebrochene Packung Aspirin, sonst nichts. Bourey hatte ein französisches Bett, das mit einer Tagesdecke überzogen war. Boold zögerte, glitt dann aber doch mit den Händen unter die Decken und das Kopfkissen. Zum Schluss hob er noch die Matratze an. Der Lattenrost hatte eine motorisierte Höhenverstellung. Die Fernbedienung klemmte zwischen der Matratze und dem hölzernen Bettgestell und fiel auf den Laminatboden, als Boold sich an dem Bett zu schaffen machte. Er hob sie auf und warf sie auf die Bettdecke. Er bemühte sich nicht, das Bett wieder in Ordnung zu bringen. Er sah sich um, weitere Möbel gab es nicht.
Er verließ das Schlafzimmer, ging quer über den Flur in den nächsten Raum. Hier war es dunkel, der Rollladen war heruntergelassen. Boold schaltete das Licht ein und fand ein vollständig leeres Zimmer vor. Es gab keine Möbel, aber an der weißen Raufasertapete fanden sich die Schmutzabdrücke von zwei Schreibtischen und mehreren Regalen. In die Wände oberhalb des Laminatfußbodens waren einige Dreier- und Zweier-Steckdosen eingelassen. Es gab auch zwei Telefondosen mit zusätzlichen Steckeinschüben für Ethernet-Datenkabel. Boold machte ein paar Schritte in den Raum. Es musste ein ausgeräumtes Büro sein. Es war schwer einzuschätzen, wie lange es schon leer stand. Neben der Möblierung fehlte aber noch etwas und das war der Geruch von Zitrone. Boold entdeckte dann auch einige Wollmäuse auf dem von zwei Bürostühlen zerkratzten Laminat. Er machte drei Schritte zurück, trat auf den Flur und schloss die Zimmertür wieder.
Seine Erkundung führte ihn in den letzten Raum. Es war das Wohnzimmer. Schrankwand, ein Sessel, je ein Zweier- und ein Dreiersofa, die um einen flachen Glastisch angeordnet waren. Mehrere verschiedene van-Goghsche Sonnenblumenbilder hingen verteilt an den drei geraden Wänden. Es waren glänzende Drucke, hinter Glasscheiben gerahmt. Die vierte Wand des Wohnzimmers schloss wieder in der Dachschräge ab. Es gab ein etwa zwei Meter breites, bodentiefes Fenster und daneben eine Glastür, die hinaus auf einen Balkon führte.
Boold blieb vor dem Fenster stehen und sah hinunter in den Garten. Die grünen Nadelbäume verdeckten große Teile des Rasens. In einer Ecke des Gartens stand eine aus Holzbohlen zusammengeschraubte Kinderschaukel. Boold erkannte auch eine Sandkiste neben dem Geräteschuppen, der auf der Grenze zum Nachbargrundstück stand. Sein Blick fiel auf die Straße vor dem Grundstück. Der Durango, der hinter seinem Lincoln geparkt hatte, war verschwunden. Boold wandte sich ab und sah sich weiter im Wohnzimmer um. Er nahm jetzt wieder den vertrauten Zitrusgeruch wahr. Er setzte sich auf das Zweiersofa. Auf dem Glastisch lagen mehrere Werbeprospekte und eine Fernsehzeitschrift, die erst vor wenigen Tagen abgelaufen war. Boold blickte vor sich auf die Schrankwand. Er stand auf und schob das seitlich angebrachte Holzrollo zur Seite. In der Öffnung stand ein riesiger Fernseher, dessen Röhre tief nach hinten in den Schrank ragte und dort den gesamten Platz einnahm. Die Fernbedienung lag oben auf dem Gerät. Boold ließ sie liegen und kehrte zum Zweiersofa zurück.
Er widmete sich zuerst den Prospekten. Obenauf lag die Werbung eines Supermarktes. Einige der Sonderangebote waren mit einem blauen Kugelschreiber unterstrichen. Boold versuchte eine Botschaft daraus zu erkennen, aber es schien kein System dahinter zu stehen. Als Nächstes bot die Zehlendorfer Filiale einer Kette von Billig-Autoreparatur-Werkstätten eine kostenlose Urlaubsinspektion an. Boold legte das Hochglanzblatt auf den Supermarktprospekt. Als Letztes fand er eine weitere Werbebroschüre, diesmal von einem Sportfachgeschäft. Er wollte den kleinen Katalog ebenfalls schon weglegen, als er im Innenteil etwas entdeckte. Eine Art Bigfoot- oder Yeti-Figur präsentierte Wander- und Bergsteigerausrüstung. Das Gesicht der gezeichneten Figur war mit dem Kugelschreiber umkringelt. Boold starrte ein, zwei Sekunden auf das Bild. Auch hier konnte er die Bedeutung nicht einordnen. Er faltete den Prospekt mit dem Yeti und steckte ihn ein. Dann nahm er sich die Fernsehzeitschrift vor und blätterte durch die Seiten. Ein Umschlag rutschte heraus. Boold konnte gerade noch lesen: An die Bewohner des ..., als es an der Wohnungstür klingelte. Er zögerte eine Sekunde, dann erhob er sich, verließ den Raum und ging über den Flur zur Tür. Er wartete noch eine Sekunde, aber es wurde kein zweites Mal geklingelt. Boold öffnete langsam die Wohnungstür. Eine junge Frau stand vor ihm, die kurz überrascht zu sein schien, sich dann aber fing.
»Oh, ich wusste doch, dass ich vorhin schon etwas gehört habe und ich dachte ...«
»Entschuldigen Sie«, kam Boold der Frau zuvor, hielt seinen Schlüsselbund in die Höhe und ließ ihn klimpern. »Ich bin ein Bekannter von Herrn Bourey.«
»Ach so!« Die Frau lächelte. »Dann kann ich Ihnen ja auch die Post geben.« Sie reichte ihm ein paar Umschläge. »Das Schloss seines Postkastens ist nämlich defekt, es landet immer alles im Windfang.«
Boold nickte. »Selbstverständlich!« Er nahm ihr die Briefe ab, ohne sie anzusehen.
Die junge Frau lächelte erneut. »Dann noch einen schönen Tag.«
»Ihnen auch und danke.« Boold hielt die Briefumschläge kurz in die Höhe und wartete noch, bis die junge Frau ein paar Schritte die Treppe hinuntergegangen war, dann schloss er die Wohnungstür wieder. Er ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Zweiersofa und besah sich die Post. Drei der Briefe waren sofort als Werbesendungen zu erkennen. Boold öffnete sie dennoch und prüfte den Inhalt. Der vierte Umschlag war handbeschrieben. Louk Boureys Zehlendorfer Adresse, die Briefmarke zeigte ein Sportmotiv mit Zuschlagswert zugunsten der Stiftung Deutsche Sporthilfe. Boold betrachtete die Marke eine Zeit lang, bis er den Umschlag aufriss. Er zog zwei Eintrittskarten hervor. Nach diesem Fund hatte er es sehr eilig fortzukommen.
*
»Boold, John Boold«, zitierte Bruckner. »Das ist aber nicht Ihr Tarnname. Das sind nicht Sie, von dem Sie da in Berlin berichten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, John Boold gehörte zu einem Team, das wir in Berlin stationiert hatten. Ich war aber einer derjenigen, die seinen Einsatz koordiniert hatten. Die Dossiers, um die es ging, hat er von mir bekommen und die ganzen Recherchen, die während einer solchen Operation ständig durchgeführt werden müssen, stammten ebenfalls von mir.«
»Und Sie haben ihm die Befehle erteilt?«, fragte Bruckner.
»Nein! Ich habe die Befehle vielleicht übermittelt, aber ich war nicht der Leiter des Einsatzes.«
»Der Commander?«, stellte Bruckner fest.
Ich nickte. »Mehr will ich aber noch nicht verraten. Sie wollen doch auch ein bisschen unterhalten werden.«
»Ja, schmücken Sie es ruhig ordentlich aus, das gefällt mir.« Bruckner nickte.
»Gut, dann geht es in die nächste Runde.«
*
Die Fähre passierte die schmale Einfahrt zwischen den Molen. Rin Mura und Hanna standen oben auf Deck und sahen über den nahen Warnemünder Strand, auf dem sich die Urlauber tummelten. Kinder und Erwachsene