Der Geheimagent. Joseph Conrad
Читать онлайн книгу.könnte dabei nicht ins Spiel gebracht werden. Und es gibt noch andere Vorteile. Die ganze zivilisierte Welt hat von Greenwich gehört, noch die Schuhputzer an der Untergrundbahnstation in Charing Cross wissen etwas davon, wie?«
Herrn Vladimirs Züge, in der besten Gesellschaft durch ihre heitere Gesittung so wohl bekannt, strahlten nun zynische Selbstzufriedenheit aus, was die gebildeten Damen, die seinen Witz so gerne belachten, zweifellos wundergenommen hätte. »Ja,« fuhr er mit einem verächtlichen Lächeln fort, »die Sprengung des ersten Meridians wird fraglos eine Flut von Verwünschungen erregen.«
»Eine schwierige Sache«, murmelte Herr Verloc in dem Gefühl, daß sonst nichts zu sagen war.
»Was ist dabei? Halten Sie nicht die ganze Bande in der Hand? Den Topf am Henkel, sozusagen? Der alte Terrorist Yundt ist hier. Ich sehe ihn fast täglich in seinem grünen Havelock in Piccadilly herumgehen. Und Michaelis, der Bewährungsfristapostel – wollen Sie mir etwa sagen, daß Sie nicht wissen, wo er ist? Wenn Sie es nämlich nicht wissen, so kann ich es Ihnen sagen«, fügte er drohend hinzu. »Wenn Sie glauben, daß Sie der einzige auf der Geheimliste sind, so sind Sie im Irrtum!« Diese völlig grundlose Andeutung veranlaßte Herrn Verloc, mit dem Fuße zu scharren.
»Und die ganze Lausanner Bande, he? Hat die sich nicht bei der ersten Andeutung der Mailänder Konferenz scharenweise hier herumgetrieben? Dies ist ein blödsinniges Land.«
»Es wird Geld kosten«, sagte Herr Verloc, von einer Art Instinkt getrieben.
»Das zieht nicht mehr«, gab Herr Vladimir mit verblüffend echtem englischem Tonfall zurück. »Sie bekommen Ihr Monatsgehalt und keinen Pfennig mehr, bevor nicht etwas geschieht, und geschieht nicht bald etwas, so bekommen Sie nicht einmal das. Was ist nach außen hin Ihre Beschäftigung? Wovon leben Sie angeblich?«
»Ich habe einen Laden«, sagte Herr Verloc.
»Einen Laden? Was für einen Laden?«
»Schreibwaren, Zeitungen. Meine Frau – –«
»Ihre – was?« unterbrach Herr Vladimir, in seinem innerasiatischen Kehlton.
»Meine Frau.« Herr Verloc hob seine Stimme ein wenig. »Ich bin verheiratet.«
»Verdammt nochmal«, rief der andere in echter Verwunderung. »Verheiratet? Und Sie wollen geschworener Anarchist sein? Was ist das für ein verwünschter Unsinn? Oder ist es nur eine Redensart? Anarchisten heiraten nicht, das weiß jeder; sie können es nicht; es wäre Fahnenflucht.«
»Meine Frau ist keine Anarchistin«, bockte Herr Verloc. »Überdies geht Sie das nichts an.«
»O doch, o doch!« bellte Herr Vladimir. »Ich komme allmählich zu der Überzeugung, daß Sie durchaus nicht der rechte Mann für die Tätigkeit sind, für die Sie hier bezahlt werden. Wie denn – Sie müssen sich ja in Ihrer eigenen Welt durch Ihre Heirat um alles Vertrauen gebracht haben? Wäre es denn ohne das gar nicht gegangen? Dies also ist Ihre tugendhafte Neigung, wie? Und mit Neigung und Neigung hören Sie auf, brauchbar zu sein.«
Herr Verloc blies die Backen auf und stieß heftig die Luft aus; sonst nichts. Er hatte sich mit Geduld gewappnet. Aber recht lange durfte es nicht mehr so fortgehn. Der Erste Sekretär wurde plötzlich ganz kurz und schneidig.
»Sie können jetzt gehen«, sagte er. »Ein Dynamitanschlag muß geschehen. Ich gebe Ihnen einen Monat Zeit. Die Sitzungen der Konferenz sind unterbrochen; bevor sie wieder aufgenommen werden, muß hier etwas geschehen sein, sonst hört unsere Verbindung mit Ihnen auf.«
Er wechselte nochmals mit absichtsloser Leichtigkeit den Ton.
»Denken Sie über meine Worte nach, Herr – Herr Verloc«, sagte er mit spöttischer Vertraulichkeit und winkte mit der Hand gegen die Tür. »Packen Sie den ersten Meridian! Sie kennen die Mittelklasse nicht so gut wie ich. Ihre Empfindlichkeit ist erschöpft. Den ersten Meridian. Nichts besser und nichts leichter, scheint mir.«
Er war aufgestanden und sah, mit einem lustigen Zucken um seine dünnen, sinnlichen Lippen, im Spiegel über dem Kamin zu, wie Herr Verloc sich schwerfällig und rücklings hinausschob, Hut und Stock in einer Hand. Die Tür schloß sich.
Der Lakai in Kniehosen tauchte plötzlich im Korridor auf, führte Herrn Verloc einen anderen Weg hinaus und ließ ihn durch eine schmale Tür in der Ecke des Hofes ins Freie. Der Pförtner im Torweg beachtete seinen Abgang überhaupt nicht, und Herr Verloc schritt seinen Pilgerweg vom Morgen wieder zurück wie in einem Traume – einem bösen Traume. Seine Ablösung von der dinglichen Welt war so völlig, daß, obwohl seine sterbliche Hülle durchaus nicht übermäßig durch die Straßen gehastet war, doch der Teil von ihm, dem füglich die Unsterblichkeit nicht abzusprechen war, sich plötzlich vor der Ladentür wiederfand, als wäre er von West nach Ost auf den Schwingen des Sturmes gereist. Er ging sofort hinter den Ladentisch und setzte sich auf einen Holzstuhl, der dort stand. Niemand störte seine Einsamkeit. Stevie, mit einem grünen Schurz angetan, kehrte und staubte im ersten Stock ab, eifrig und gewissenhaft, als wäre es ein Spiel; und Frau Verloc, die in der Küche den Klang der heiseren Glocke vernommen hatte, war nur bis zu der Glaswand des Wohnzimmers gekommen, hatte den Vorhang beiseite geschoben und in den halbdunklen Laden hineingespäht. Sobald sie die wuchtigen Umrisse ihres Mannes erkannt hatte, war sie an ihren Herd zurückgekehrt. Etwa eine Stunde später nahm sie ihrem Bruder Stevie den grünen Tuchschurz ab und befahl ihm, sich Gesicht und Hände zu waschen, in dem gebieterischen Ton, den sie sich für solche Falle seit fünfzehn Jahren zugelegt hatte – seit damals, als sie aufgehört hatte, ihn selbst zu waschen. Während des Tischdeckens nahm sie sich jetzt die Zeit, einen Blick auf das Gesicht und die Hände zu tun, die Stevie ihrer Prüfung mit einem Ausdruck von Selbstvertrauen darbot, das nicht ganz frei von Angst war: früher einmal war der Zorn des Vaters das Druckmittel für diese Reinlichkeitsbestrebungen gewesen, aber Herrn Verlocs häusliche Sanftmut würde jede Androhung von Zornesausbrüchen selbst für den Schwachsinn des armen Stevie unglaublich gemacht haben. Nun wurde vorgegeben, daß Herr Verloc durch jeden Mangel an Reinlichkeit bei den Mahlzeiten unsäglich traurig und bekümmert würde. Winnie hatte nach dem Tode ihres Vaters einen erheblichen Trost in dem Gedanken gefunden, daß sie nicht länger mehr um den armen Stevie zu zittern brauchte. Sie konnte es nicht vertragen, den Knaben geschlagen zu sehen, das machte sie verrückt. Als kleines Mädchen war sie oft mit blitzenden Augen dem jähzornigen konzessionierten Schankwirt zur Verteidigung ihres Bruders entgegengetreten. Jetzt allerdings ließ nichts in Frau Verlocs Erscheinung vermuten, daß sie eines leidenschaftlichen Ausbruchs fähig war.
Der Tisch im Wohnzimmer war gedeckt. Sie ging an den Fuß der Treppe und schrie hinauf: »Mutter«; dann öffnete sie die Glastüre zum Laden und sagte ruhig: »Adolf«. Herr Verloc hatte seine Stellung nicht verändert. Er hatte anscheinend während anderthalb Stunden kein Glied gerührt. Er stand schwerfällig auf und kam zum Abendessen, im Überzieher, mit dem Hut auf dem Kopf und ohne ein Wort zu sagen. Sein Schweigen allein hatte nichts Verwunderliches, in diesem Haushalte, der tief in dem Schatten der schmutzigen Gasse, wohin kaum je die Sonne drang, verborgen war, hinter dem Laden mit seinem zweifelhaften Kram. Nur war Herrn Verlocs Schweigsamkeit an diesem Tage so auffallend nachdenklich, daß sich die beiden Frauen darüber Gedanken machten. Sie saßen selbst schweigend da und hatten ein wachsames Auge auf den armen Stevie, damit er nicht etwa in einen seiner Anfälle von Gesprächigkeit ausbreche. Er sah Herrn Verloc über den Tisch weg an und saß still und brav mit leerem Blick. Das ständige Bestreben, ihn davon abzuhalten, daß er sich dem Herrn des Hauses lästig bemerkbar machte, brachte in das Leben der beiden Frauen eine beträchtliche Sorge. »Der Junge«, wie sie ihn untereinander milde nannten, war fast vom Tage seiner Geburt an eine Quelle solcher Sorgen gewesen. Die Demütigung, die der selige konzessionierte Gastwirt bei dem Gedanken empfand, ein so ganz eigenartiges Geschöpf zum Sohn zu haben, hatte sich in eine Neigung zu übertriebener Strenge umgesetzt, denn er war feinfühlend in seiner Art, und sein Schmerz als Vater und Mann war durchaus echt. Späterhin mußte Stevie davon abgehalten werden, die Junggesellen, die zur Miete wohnten, zu behelligen, denn diese sind, wie man weiß, ein wenig querköpfig und leicht verärgert, und überdies blieb noch der ständige Kummer um sein nacktes Dasein. Der Gedanke, ihr Kind in einem Krüppelheim in Zwangserziehung zu haben, hatte die alte Frau in dem Frühstückszimmer