Hauptwerke: Menschliches – Allzumenschliches, Also sprach Zarathustra, Jenseits von Gut und Böse. Friedrich Nietzsche
Читать онлайн книгу.er begreift den Nutzen als abhängig von dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen. Endlich handelt er, auf der höchsten Stufe der bisherigen Moralität nach seinem Maassstab über die Dinge und Menschen, er selber bestimmt für sich und Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist; er ist zum Gesetzgeber der Meinungen geworden, gemäss dem immer höher entwickelten Begriff des Nützlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntnis befähigt ihn, das Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als Collectiv-Individuum.
95. Moral des reifen Individuums. – Man hat bisher als das eigentliche Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpersönliche angesehen; und es ist nachgewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allgemeinen Nutzen es war, derentwegen man alle unpersönlichen Handlungen lobte und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser Ansichten bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass gerade in der möglichst persönlichen Rücksicht auch der Nutzen für das Allgemeine am grössten ist: so dass gerade das streng persönliche Handeln dem jetzigen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen Nützlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze Person machen und in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in's Auge fassen – das bringt weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet, – gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert werden müsste. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als seinen Vortheil versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.
96. Sitte und sittlich. – Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben. Ob man mit Mühe oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei gleichgültig, genug, dass man es thut. "Gut" nennt man Den, welcher wie von Natur, nach langer Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess ist (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache-üben, wie bei den älteren Griechen, zur guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil er "wozu" gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel der Sitten immer als "gut wozu", als nützlich empfunden wurde, so nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden, Hülfreichen "gut". Böse ist "nicht sittlich" (unsittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen widerstreben, wie vernünftig oder dumm dasselbe auch sei; das Schädigen des Nächsten ist aber in allen den Sittengesetzen der verschiedenen Zeiten vornehmlich als schädlich empfunden worden, so dass wir jetzt namentlich bei dem Wort "böse" an die freiwillige Schädigung des Nächsten denken. Nicht das "Egoistische" und das "Unegoistische" ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie das Herkommen entstanden ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht auf gut und böse oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung einer Gemeinde, eines Volkes; jeder abergläubische Brauch, der auf Grund eines falsch gedeuteten Zufalls entstanden ist, erzwingt ein Herkommen, welchem zu folgen sittlich ist; sich von ihm lösen ist nämlich gefährlich, für die Gemeinschaft noch mehr schädlich als für den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer Vorrechte an der Gemeinde und nur insofern auch am Individuum straft). Nun wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger, je weiter der Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist; die ihm gezollte Verehrung häuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die Moral der Pietät eine viel ältere Moral, als die, welche unegoistische Handlungen verlangt.
97. Die Lust in der Sitte. – Eine wichtige Gattung der Lust und damit der Quelle der Moralität entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine Lust, und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewährt hat, also nützlich ist; eine Sitte, mit der sich leben lässt, ist als heilsam, förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewährten Versuchen. Die Sitte ist demnach die Vereinigung des Angenehmen und des Nützlichen, überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig. Sobald der Mensch Zwang ausüben kann, übt er ihn aus, um seine Sitten durchzusetzen und einzuführen, denn für ihn sind sie die bewährte Lebensweisheit. Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil man sich mit einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie gilt als die einzige Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann; das Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen. Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird bis auf die kleinsten Einzelheiten der Sitte durchgeführt: da die Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit abergläubischer Furcht darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe; selbst wo die Sitte schwer, hart, lästig ist, wird sie ihrer scheinbar höchsten Nützlichkeit wegen bewahrt. Man weiss nicht, dass der selbe Grad von Wohlbefinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst höhere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass alle Sitten, auch die härtesten, mit der Zeit angenehmer und milder werden, und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und damit zur Lust werden kann.
98. Lust und socialer Instinct. – Aus seinen Beziehungen zu andern Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von Lust zu jenen Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er das Reich der Lustempfindung überhaupt bedeutend umfänglicher macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hierher gehört, schon von den Thieren her überkommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den jungen. Sodann gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem Männchen ungefähr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen lassen, und umgekehrt. Die Lustempfindung auf Grund menschlicher Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemeinsame Freude, die Lust mitsammen genossen, erhöht dieselbe, sie giebt dem Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutmüthiger, löst das Misstrauen, den Neid: denn man fühlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher Weise sich wohl fühlen. Die gleichartigen Aeusserungen der Lust erwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gefühl etwas Gleiches zu sein: das Selbe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter, Gefahren, Feinde. Darauf baut sich dann wohl das älteste Bündniss auf: dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. Und so wächst der sociale Instinct aus der Lust heraus.
99. Das Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen. – Alle "bösen" Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse. "Schmerz bereiten an sich" existirt nicht, ausser im Gehirn der Philosophen, ebensowenig "Lust bereiten an sich" (Mitleid im Schopenhauerischen Sinne). In dem Zustand vor dem Staate tödten wir das Wesen, sei es Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere thun würden. – Die bösen Handlungen, welche uns jetzt am meisten empören, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem Belieben gelegen habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie, während wir einem Thiere viel weniger zürnen, weil wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung – ist Folge eines falschen Urtheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Abschreckung andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewaltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein Collectiv-Individuum,