Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg. Thomas Hölscher

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Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg - Thomas Hölscher


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hier im Westen nicht zählte. Nach der Bergvorschule habe ich auf "Hugo" angefangen, habe in Essen die Steigerschule besucht, war im Oktober 1958 Lehrsteiger, und im April 1959 habe ich als Steiger auf "Hugo-Ost" angefangen. Dort bin ich bis zu meiner letzten Schicht 1986 geblieben. Ich musste frühzeitig ausscheiden, weil ich einen schweren Herzinfarkt bekommen habe und danach grubenuntauglich war.

      Ich sagte gerade schon, ich war mit Leib und Seele Bergmann. Früher hätte ich mir das selber nicht vorstellen können; denn als wir noch in Schlesien wohnten und ich dort zur Schule ging, da war der Bergbau für mich doch ganz weit weg. Nicht unbedingt räumlich; von uns aus waren es vielleicht 60 Kilometer bis zu den ersten Gruben in Gleiwitz. Aber mit dem Bergbau war für mich immer etwas fast Mystisches verbunden, die Gefahr, die Tiefe, das Dunkle, und das alles war absolut nichts für mich. Es gab auch in unserer gesamten Familie nicht einen einzigen, der jemals etwas mit dem Bergbau zu tun gehabt hätte. Da gab es eigentlich nur Geschäftsleute, Kaufleute. Mein erster Berufswunsch als Junge war übrigens, Förster zu werden; das bot sich eigentlich auch an, weil mein Vater Inspektor auf einem Gut war. Den Ausschlag für den Bergbau hat letztlich nur die Situation nach dem Krieg gebracht, die sich vor allem auf einen Begriff reduzieren lässt: Hunger. Hunger bis in die Kniekehlen. Und natürlich die Verpflichtung meiner Familie gegenüber. Der Bergbau lag plötzlich einfach nahe: Das begann mit dem Deputat, das es damals gab. Das waren 100 Zentner Briketts, und die hatten damals drüben einen enormen Wert: für drei Zentner Brikett gab es zwei Zentner Kartoffeln. Dann bekam ich unbegrenzt Rohbraunkohle, so dass wir selber die Briketts gar nicht zum Feuern brauchten, sondern alle verkaufen konnten. Ferner gab es zwei Flaschen Schnaps und 100 Zigaretten im Monat; es gab Sonderzuteilungen an Verpflegung, mal eine Kiste Harzer-Roller, mal Margarine oder Marmelade zusätzlich. Jedes halbe Jahr gab es Stoff für einen Anzug oder irgendetwas anderes. Es gab jeden Tag - wie hier damals auch - die zwei Doppelten, also Butterbrote, bei der Anfahrt, außerdem einen Topf Suppe. Ich hatte zudem einen guten Bekannten, der auf der Zeche in der Küche arbeitete, und der gab mir immer noch einen Topf Suppe extra, den ich nach Hause mitnehmen konnte. Solche Gründe waren für mich damals ausschlaggebend, um in den Bergbau zu gehen. Hinzu kam, dass es auch kaum eine Alternative gab; es bestand fast keine Möglichkeit, irgendeinen anderen Beruf zu erlernen. Außerdem bot der Bergbau auch noch die Chance, dass ich weiterlernen konnte: Grundausbildung, drei Jahre Praktikum, anschließend noch einmal drei Jahre Schulbesuch, um dann als Bergingenieur zu arbeiten.

      Zunächst einmal war es also einfach die Not nach dem Krieg, die mich zum Bergbau gebracht hat. Aber das erklärt noch nicht, weshalb ich schließlich mit Leib und Seele Bergmann war. Ich hatte wirklich ein fast unverschämtes Glück: Meine erste Schicht habe ich auf der Braunkohlengrube "Löderburg" verfahren, wo die Braunkohle, die nur 60 Meter tief lag, im Tiefbau abgebaut wurde. Ringsum gab es überall nur Tagebau, nur auf dieser Grube Tiefbau. Gleich am ersten Tag wurde ich einem alten Meisterhauer zugeteilt, der ein so gestandener Bergmann war, wie man ihn sich nur vorstellen kann. Und der hat es eben verstanden, mich für den Bergbau zu begeistern. Ich war außerdem sehr lern- und wissbegierig, und das gefiel ihm. Ich habe rund ein halbes Jahr bei ihm die Ausbildung geradezu genossen, und in der Zeit war er für mich fast wie ein Vater. Wir haben vieles mitgemacht, z.B. einen Wassereinbrauch am Heiligen Abend, bei dem wir schon meinten, jetzt könnten wir unser letztes Vaterunser beten. Oder auch einen Gebirgsschlag, bei dem fast 500 Meter Strecke zusammengebrochen sind und wir in einer kleinen Nische festsaßen. Und trotz solcher Dinge habe ich bei diesem Mann nie das Gefühl gehabt, Angst haben zu müssen. Wie er dieses Gefühl rübergebracht hat, kann ich gar nicht erklären. Dieser Mann war einfach mit dem Berg verwachsen; der wusste auf jede Frage, die der Berg stellte, eine Antwort. Leicht war die Arbeit allerdings nicht. Die Zeche war schon ziemlich alt, fast 250 Jahre; während des Krieges hatte man schon einmal moderne Maschinen im Einsatz gehabt, aber das hatte sich letztlich nicht rentiert. Die Kohle musste also von Hand gemacht werden. Außerdem gab es nur offenes Geleucht, eine Karbidlampe über dem Kopf. Der Schacht war wie gesagt 60 Meter tief, es durfte keine Seilfahrt durchgeführt werden; nur die Kohle durfte am Seil nach oben gezogen werden, wir mussten morgens über Leitern 60 Meter nach unten, mittags über Leitern wieder nach oben. Und das alles mit Rucksack, in dem wir unsere Marschverpflegung verstaut hatten, manchmal ein paar Kartoffeln, oder eine Wasserrübe, denn Brot war ja knapp. Auf der Rückfahrt sollte der Rucksack eigentlich leer sein; aber dann steckte z.B. ein 1,60 m langer Holzstempel von 15 cm Durchmesser, klein gesägt, im ehemaligen Luftwaffenrucksack, und das Gewicht schleppte man mittags über 60 Meter nach oben.

      Es war wirklich sehr mühsam. Ich sagte gerade schon, dass ich mich heute nicht mehr für den Bergbau entscheiden würde. Der Stand der Mechanisierung im heutigen Bergbau ist dafür ein wichtiger Grund. Mittlerweile hat auch der Computer dort schon Einzug gehalten, und ... ich weiß gar nicht, wie ich das nun sagen soll ... Die Arbeit des Bergmanns ist völlig unpersönlich geworden. Man drückt heute nur noch auf den Knopf, durch den Schildausbau ist man zudem nach oben so abgesichert, dass normalerweise gar nichts mehr passieren kann. Und das hat auch Konsequenzen für das Verhältnis der Leute untereinander. Heute fehlt einfach die Kameradschaft. Früher saß man mit 60 Mann nebeneinander und hat die Kohle herausgemacht, und da war man auf den Alfred rechts und den Max links neben sich angewiesen. Heute drückt jemand auf den Knopf, der Hobel läuft los, und wenn Schicht ist, dann wird der Hobel wieder abgestellt. So ungefähr läuft das. Es bleibt gar keine Zeit mehr für ein Gespräch, es wird auch nichts mehr gemeinsam geplant. Wenn wir z.B. früher aus der Grube kamen und noch bei einer Flasche Bier in der Steigerkaue zusammensaßen, dann hat man sich noch über Probleme und Erfolge bei der Arbeit ausgetauscht. So etwas ist heute gar nicht mehr möglich. Und wahrscheinlich wollen die Leute das heute auch gar nicht mehr. Gerade für die jüngeren Bergleute ist der Bergbau nur noch ein Broterwerb, vor ein paar Jahren noch ein recht sicherer, heute einer mit vielen Fragezeichen, aber mehr ist diese Arbeit nicht. Und für mich war der Beruf des Bergmanns eben doch immer viel mehr. Unter den Leuten passierte damals einfach noch mehr, und auch das Verhältnis Steiger - Kumpel war noch ein anderes. Der Steiger war von der Leistung der Kumpel abhängig, und die Kumpel vom Steiger; denn für gute Leistung gab es auch gutes Geld. Oder wenn Gefahr im Verzuge war - ich habe auf "Bismarck" zweimal unter einem Bruch gelegen-, dann waren alle Kollegen da. Oder besser gesagt: alle Kumpel. Das ist nämlich das richtige Wort dafür.

      Infolge der Mechanisierung ließ die Kameradschaft natürlich auch schon deshalb nach, weil wir immer weniger Leute im Streb hatten. Heute sind drei oder vier Mann im Streb, früher saß da Kumpel an Kumpel. Auf "Hugo-Ost" wurde die erste Schrämmaschine übrigens 1958 eingesetzt; es gab da aber auch weiterhin zunächst noch jede Menge Handbetriebe, wo also die Kohle mit dem Abbauhammer gemacht wurde, evtl. durch Sprengarbeiten aufgelockert wurde. Damals hat der Hauer auch noch von Hand ausgebaut, um sich nach oben abzusichern. Dann kamen die ersten Stahlstempel anstelle der Holzstempel, schließlich die Hydraulikstempel. Anfang der 70er Jahre kam dann der Schildausbau. Erst zu der Zeit konnte man nämlich Leitungen im Streb verlegen für die Hydraulikflüssigkeit; denn das war ja problematisch: man kann nicht 250 Atü durch eine x-beliebige Leitung jagen. Außerdem mussten diese Leitungen mit dem Abbauvorschritt zu bewegen sein. Insgesamt ist der Bergbau in den letzten Jahrzehnten wesentlich sicherer geworden; aber die dazu notwendige Mechanisierung hatte ganz eindeutig zur Folge, dass die ursprüngliche Kameradschaft unter den Leuten immer mehr verschwand.

      Und dieses Zusammengehörigkeitsgefühl der Bergleute ging auch weit über das Arbeitsleben hinaus. Wenn ich an die ersten Jahre auf "Bismarck" denke, da ging man nach der Schicht erstmal in die Zechenkantine. Die gab es praktisch bei jeder Zeche; direkt neben dem Zechentor lag irgendein Gasthaus. Da wurde dann ein Halber und ein Schnaps genommen, und dann ging es gemeinsam nach Hause. Man hat sich auch über das Privatleben ausgetauscht, sich seine Sorgen erzählt. Und wenn es mal wieder gut gelaufen war im Streb und man eine Mark zusätzlich verdient hatte, dann sagte der eine oder andere: Lass uns mal heute zu Hause einen draufmachen! Dann wurde in der Zechenwohnung in der Auguststraße - zwei Zimmer, in denen sich eigentlich alles abspielte - ein großer Pott Kartoffeln gekocht, eine anständige Portion Matjes dazu, ein Kasten Bier, und dann wurde mit mehreren Familien zusammen gefeiert. In den neun Jahren, als ich in Logis war, da spielte sich ein Großteil des Lebens auch noch im Hof oder auf der Straße ab. Wenn man heute durch die Waldstraße geht, dann sieht man dort nur isolierte Fenster, Rollläden davor, und auf der Straße spielt sich gemeinsames Leben überhaupt nicht mehr ab. Mein


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