Nostromo. Joseph Conrad

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Nostromo - Joseph Conrad


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gerichtet. Die Stirnseite seines Hauses warf einen langgestreckten, rechteckigen Schatten, der langsam über den staubigen Ochsenweg hinkroch; durch die Lücke in den Oleanderhecken liefen die zeitweilig über die Ebene gelegten Stahlbänder der Hafenzweigbahn inmitten eines Gürtels versengten und vergilbten Grases etwa fünfzig Meter von der Hausecke vorbei. Abends umfuhren die leeren Materialzüge in weitem Bogen den dunkelgrünen Hain von Sulaco und liefen unter weißen Dampfwolken, leise schwankend, auf ihrem Wege zu dem Lagerbahnhof am Hafen bei der Casa Viola vorbei. Die italienischen Maschinisten grüßten den Alten von der Plattform aus mit erhobener Hand, während die schwarzen Bremser unbekümmert in ihren Häuschen saßen und unter den breiten Krempen ihrer Hüte hervor, die im Winde flatterten, starr geradeaus blickten. Giorgio pflegte mit einem leichten seitlichen Kopfnicken zu danken, ohne die verschränkten Arme zu lösen.

      An diesem denkwürdigen Tage des Aufruhrs waren seine Arme nicht über der Brust verschränkt. Seine Hände umklammerten den Lauf des Gewehrs, dessen Kolben er auf die Schwelle gestützt hielt. Er sah nicht einmal zu dem weißen Dom des Higuerota auf, dessen kühle Reinheit sich der heißen Erde fernzuhalten schien. Seine Augen durchspähten eifrig die Ebene. Da und dort standen noch kleine Staubwirbel in der Luft, am makellosen Himmel hing klar und blendend die Sonne. Kleine Gruppen von Menschen liefen aus Leibeskräften; andere hielten stand; und das unregelmäßige Knattern von Schüssen drang durch die trockene, heiße Luft. Einzelne Fußgänger rannten Hals über Kopf dahin; Reiter galoppierten aufeinander zu, warfen gleichzeitig die Pferde herum und trennten sich im Galopp. Giorgio sah einen stürzen, wobei Roß und Reiter verschwanden, als wären sie in einen Abgrund galoppiert. Die Bewegungen des belebten Bildes wirkten wie die Wechselfälle eines wilden Spiels, auf der Ebene von Zwergen zu Pferd und zu Fuß gespielt, die aus schwachen Kehlen schrien, unter der Bergkette, die wie eine Burg des Schweigens dalag. Nie zuvor hatte Giorgio diesen Teil der Ebene so voll wilden Lebens gesehen; sein Blick konnte nicht alle Einzelheiten zugleich aufnehmen; er beschattete die Augen mit der Hand, bis ihn auf einmal das Donnern vieler Hufe nahebei erschreckte.

      Eine Koppel Pferde war aus der nahe gelegenen Umzäunung der Bahngesellschaft ausgebrochen, kam nun wie ein Wirbelwind daher und sauste über die Bahnlinie weg, schnaubend, stampfend, wiehernd, in einer gedrängt wogenden Masse fuchsiger, brauner, grauer Rücken: Augen blitzten auf, Hälse streckten sich, Nüstern leuchteten rot, und Langschweife wehten. Sobald sie auf die Straße gelangt waren, wirbelte der dicke Staub unter ihren Hufen empor, und fünf Meter von Giorgio weg verschwamm alles zu einer dunklen Wolke, aus der undeutlich die Formen von Hälsen und Kruppen hervorragten und die vorbeitrieb und den Boden erzittern ließ. Viola hustete, wandte das Gesicht vom Staub weg und schüttelte leicht den Kopf.

      »Da wird es heute abend noch eine Pferdejagd geben«, murmelte er.

      In dem breiten Sonnenfleck, der durch die Türe drang, war Signora Teresa vor ihrem Stuhl niedergekniet und hatte ihr Haupt mit der wirren Masse ebenholzschwarzen, von Silbersträhnen durchzogenen Haares in den Händen geborgen. Der schwarze Spitzenschal, den sie um ihr Gesicht zu winden pflegte, war neben ihr zu Boden gesunken. Die beiden Mädchen hatten sich erhoben und standen nun Hand in Hand, in kurzen Kleidern, mit zerzaust niederfallendem, losem Haar. Die jüngere hatte den Arm vor die Augen gelegt, als fürchtete sie das Licht. Linda, die Hand auf der Schwester Schulter, blickte furchtlos vor sich hin. Viola sah seine Kinder an. Die Sonne enthüllte die tiefen Falten in seinem Gesicht, das, energisch im Ausdruck, unbeweglich wie ein Schnitzwerk schien; es war unmöglich, zu entdecken, was er dachte. Buschige weiße Augenbrauen überschatteten seinen dunklen Blick.

      »Nun? Ihr betet nicht, wie eure Mutter?«

      Linda schob schmollend die Lippen vor, die fast zu rot schienen; doch sie hatte wundervolle Augen, braun, mit einem goldigen Schimmer in der Iris, blitzgescheit, ausdrucksfähig und so leuchtend, daß sie einen Glanz über ihr schmales, farbloses Gesicht zu werfen schienen. Bronzelichter glänzten in den dunklen Haarwellen auf, und die langen, kohlschwarzen Wimpern vertieften noch die Blässe des Gesichts.

      »Die Mutter wird wieder ein Bündel Kerzen in der Kirche opfern. Das tut sie immer, wenn Nostromo in einem Kampf fort war. Ich werde ein paar in die Kapelle der Madonna in der Kathedrale tragen müssen.«

      All das sagte sie rasch, mit großer Selbstsicherheit und mit lebhafter, durchdringender Stimme. Dann fügte sie mit einem leisen Ruck an der Schwester Schulter hinzu:

      »Und sie wird auch eine tragen müssen!«

      »Warum müssen?« forschte Giorgio ernst. »Will sie es denn nicht tun?«

      »Sie ist schüchtern«, sagte Linda mit leisem Lachen. »Die Leute bemerken ihr blondes Haar, wenn sie mit uns geht. Sie rufen ihr nach: ›Seht die Rubia! Seht die Rubiacita!‹ So rufen sie in den Straßen. Sie ist schüchtern.«

      »Und du? Du bist nicht schüchtern, wie?« meinte der Vater langsam. Sie warf ihr schwarzes Haar zurück. »Niemand ruft mir nach.«

      Der alte Giorgio betrachtete nachdenklich seine Kinder; zwischen ihnen waren zwei Jahre Unterschied; sie waren ihm spät geboren, ein Jahr nach dem Tod des Jungen; wäre der am Leben geblieben, so wäre er nun fast so alt wie Giambattista gewesen – den die Engländer Nostromo nannten; was aber die Töchter betraf, so hatten seine strenge Gemütsart, sein vorrückendes Alter, die Befangenheit in seinen Erinnerungen ihn abgehalten, sich viel um sie zu kümmern. Er liebte seine Kinder, aber Mädchen gehören mehr der Mutter zu, und viel von seiner Liebesfähigkeit hatte er der Verehrung und dem Dienste der Freiheit geopfert.

      In ganz jungen Jahren war er von einem Handelsschiff nach La Plata entlaufen, um in der Marine von Montevideo Dienst zu nehmen, die damals unter dem Oberbefehl Garibaldis stand. Später hatte er in der italienischen Legion der Republik im Kampfe gegen die drückende Tyrannei Rosas auf weiten Ebenen, an den Ufern ungeheurer Ströme, an den vielleicht wildesten Gefechten teilgenommen, die die Welt je gesehen hatte. Er hatte unter Männern gelebt, die ewig über die Freiheit redeten, für die Freiheit litten, für die Freiheit starben, in verzweifelter Überspannung, die Augen dem unterdrückten Italien zugewandt. Seine eigene Begeisterung hatte sich an Metzeleien erhitzt, an den Beispielen schrankenloser Hingabe, an heißem Kampfgetümmel, an der flammenden Sprache der Aufrufe. Nie hatte er sich von dem Führer seiner Wahl getrennt – dem feurigen Apostel der Unabhängigkeit – und sich in Amerika wie in Italien an seiner Seite gehalten, bis nach dem Unglückstag von Aspromonte, als sich die Verräterei der Könige, Kaiser und Minister vor der Welt in der Verwundung und Gefangennahme seines Helden enthüllt hatte; – eine Katastrophe, die ihn mit dem brütenden Zweifel erfüllt hatte, ob er je imstande sein würde, die Wege der göttlichen Gerechtigkeit zu verstehen.

      Immerhin aber leugnete er sie nicht. Es brauchte Geduld, pflegte er zu sagen. Obwohl er die Priester durchaus nicht liebte und um keinen Preis den Fuß in die Kirche gesetzt hätte, glaubte er doch an Gott. Sprachen nicht die Aufrufe gegen die Tyrannei zum Volke im Namen Gottes und der Freiheit? »Gott für die Männer, die Religionen für die Frauen«, murmelte er. In Sizilien hatte ihm ein Engländer, der nach der Räumung der Stadt durch die königlichen Truppen in Palermo aufgetaucht war, eine Bibel in italienischer Sprache geschenkt – in der Ausgabe der British and Foreign Bible Society –, in dunkles Leder gebunden. In den Pausen zwischen den politischen Kämpfen, in den Pausen des Schweigens, wenn die Rebellen keine Aufrufe erließen, brachte sich Giorgio mit der erstbesten Arbeit fort, die ihm unter die Hände kam – als Matrose, als Dockarbeiter auf den Kais von Genua, einmal als Landarbeiter auf einem Bauernhofe in den Hügeln oberhalb Spezias –, und in seiner freien Zeit studierte er das dicke Buch. Er trug es mit sich in die Schlachten. Jetzt war es seine einzige Lektüre, und um sie sich nicht rauben zu lassen (der Druck war klein), hatte er sich entschlossen, ein paar silbergefaßte Brillen als Geschenk von Señora Emilia Gould anzunehmen, der Gattin des Engländers, der die Silbermine in den Bergen, drei Meilen oberhalb der Stadt, leitete. Sie war die einzige englische Dame in Sulaco.

      Giorgio schätzte die Engländer sehr. Dieses Gefühl, auf den Schlachtfeldern von Uruguay geboren, war mindestens vierzig Jahre alt. Viele von ihnen hatten ihr Blut für die Sache der Freiheit in Amerika vergossen, und an den ersten, den er je gekannt hatte, erinnerte er sich nur unter dem Namen Samuel; der hatte eine Negerkompanie unter Garibaldi befehligt, während der berühmten Belagerung von


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