Wandlerin zwischen den Welten. Bianca Wörter
Читать онлайн книгу.vor mir, aber diese erschienen mir nun viel zu lange und zu leer. Wie sollte ich diese füllen? Vor einem Tag noch kam mir die Zeit viel zu kurz vor mit Yan und für Yan. Ich ging in die Küche, öffnete das Fenster, schenkte mir ein Glas Wein ein, nippte kurz daran und holte mir ein Buch hervor. Die Sonne ging langsam unter und in der Ferne hörte ich ein dunkles Grollen. Ein Gewitter. Ich hatte kurz das Gefühl, dass dieser Sommer nie enden würde. Dann seufzte ich traurig und schlug das Buch auf. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich ein ungutes Gefühl, das sich in meinem Bauch, direkt in der Magenspitze festsetzte und nicht verschwand. Auf die Worte und Sätze, die vor meinen Augen verschwammen, konnte ich mich kaum konzentrieren. Ich las ein Buch über Traumdeutung.
Ich hatte es vor einiger Zeit schon einmal gelesen, weil ich das Thema spannend fand und weil ich selbst intensives, wirres Zeug träumte, das ich mir mit 'Verarbeitung der Erlebnisse des Tages' nicht erklären konnte.
Ich wollte diesen Träumen auch gar nicht den Zauber nehmen, wollte sie nicht irgendwie erklären können, aber sie hatten trotzdem das Interesse an der Traumdeutung geweckt. Und nach dem komischen Erlebnis des gleichen Traumes mit Yan, war mir das Buch wieder eingefallen. Ich fing noch einmal von vorne an zu lesen und endlich gelang es mir, mich zu konzentrieren. Die ersten zehn Seiten waren wenig aufschlussreich. Es war eine grobe Abhandlung über Träume und deren Bedeutung, Ursachen und Auswirkungen im Allgemeinen. Ich las über das REM-Stadium und über die Tatsache, dass jeder Mensch in einer einzigen Nacht wenigstens fünf Träume hatte, an die er sich im Normalfall aber nicht mehr erinnern kann, dass die Träume nur in den weniger tiefen Schlafzuständen auftraten, wenn das Bewusstsein an die Oberfläche, bis kurz vor dem Erwachen, trat, dass es Déjà-vu Erlebnisse in Zusammenhang mit Träumen gab und so weiter und so fort. Doch das wusste ich schon und nach weiteren dreißig Seiten hätte ich das Buch fast aus der Hand gelegt, um noch ein wenig Trübsal über mein Schicksal zu blasen, als ich eine kleine Abhandlung las, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wenn dem wirklich so wäre, wie das, was ich dort las, dann wäre ich eine tragische Comicfigur in einem Drei-Groschen-Roman gewesen, oder am liebsten vom Blitz getroffen worden.
Dann wäre meine Welt auf den Kopf gestellt worden.
Ich trank mein Glas leer, das ich mittlerweile schon zum dritten Mal gefüllt hatte, las das Kapitel noch einmal, ob ich es auch richtig verstanden hatte, oder ob mich der Wein schon so benebelt hatte, dass ich Geisterbuchstaben sah. Nein, ich war auf einen Schlag nüchtern geworden, als ich erst begriffen hatte, was ich da gelesen hatte. Ich schluckte und zündete mir eine Zigarette an. Das, was ich in dem Buch gelesen hatte, musste ja nicht zwangsläufig stimmen. Aber es würde einiges erklären. Auch das Verhalten von Yan. Das wäre eine ganz neue Situation gewesen und ich hätte nicht gewusst, wie ich damit umzugehen hätte.
Wie groß waren denn die Chancen, dass das zutraf, was hier stand?
Ich wusste es nicht.
Das Gewitter tobte nun direkt über dem Stadtteil, in dem ich wohnte und verstärkte die Stimmung in mir.
Ich war betroffen, unsicher, fasziniert, ängstlich, begann zu zittern, aber nicht durch das Gewitter, sondern durch die gegensätzlichen Gedanken und Gefühle, die in meinem Inneren tobten. Mein eigenes, kleines, ganz privates Gewitter, das meine Eingeweide langsam aber sicher zerriss.
Ich überlegte verwirrt - sollte ich hier bleiben und den Rest der Weinflasche trinken, damit ich besser einschlafen konnte, oder sollte ich zu Yan gehen, auch auf die Gefahr hin, dass er mir nicht glaubte oder sich über mich lustig machte? Ja, wo war das Vertrauen hin, das ich in ihn gesetzt hatte? Rührte es wirklich nur von dem Erlebnis eines einzigen, gemeinsam durchlebten Traumes her?
Ich war töricht gewesen, hatte mich in Hirngespinsten verrannt. Was war so schlecht daran einen Mann auch nur als Freund, als 'Kumpel' zu haben? Weil ich mehr wollte - und er nicht? Würde mir Yan überhaupt zuhören? Natürlich würde er mir zuhören! Also sollte ich lieber zu ihm gehen und mit ihm darüber sprechen.
Ich lachte in mich hinein. So einfach würde ich nicht darüber sprechen können. Schon kurz nachdem ich die Seiten gelesen hatte, als ich vernünftig darüber nachdachte, kam mir das ganze ziemlich lächerlich vor. Aber ich wusste, wenn ich es ihm jetzt nicht sagte, nicht mit ihm darüber redete oder es zumindest versuchte, dann würde mich das die nächsten Tage, wenn nicht gar Wochen, nicht mehr loslassen. Das war meine Art. Also blieb mir nur diese Möglichkeit. Ich musste zu Yan!
Mir war es egal, dass draußen ein gewaltiges Gewitter tobte. Ich wollte Yan auch nicht anrufen, sondern musste bei ihm persönlich auftauchen, ihm dabei in die Augen sehen. Sehen, ob er es wusste, oder die Möglichkeit in Betracht ziehen würde. Erregt lief ich die Straße hinunter durch die großen Regentropfen zu Yan.
In zweifachem Sinne war ich erregt: Vor Angst, wenn sich meine Gedanken, das, was ich gelesen hatte, als Wahrheit entpuppen würde und bei dem Gedanken, bei diesem Gewitter mit Alkohol im Blut schutzlos durch die dunklen Straßen zu rennen.
Bis auf die Haut durchnässt war ich, als ich endlich vor der Tür seines Wohnhauses stand. Ich klingelte.
Ich wartete.
Ich klingelte erneut.
Und wartete.
Klingeln, warten, klingeln.
Wo war er nur? Schlief er schon? Sollte ich ihn schlafen lassen? Nein, er hatte schließlich Urlaub, da war es nicht schlimm, sollte ich ihn wider Erwarten wecken.
Klingeln, warten, Sturm klingen, warten.
'He!', dachte ich.
In mir baute sich langsam eine Wut auf. Wo war er nur?
Klingeln.
Warten.
'Heee!'
Ich knirschte mit den Zähnen.
Klingeln, klingeln, klingeln.
"HEEE!", rief ich laut.
Eine kalte Wut tobte nun in mir. Der verdammte Alkohol. Ich hatte meine Gefühle kaum mehr unter Kontrolle, atmete tief durch und erschrak über meine Unsicherheiten. So wie an diesem Abend hatte ich selten reagiert. Ich traute mich nicht mehr zu klingeln. Die Wut in mir verebbte, meine Reaktion war töricht. Was hatte ich denn erwartet? Dass er ruhig zuhause sitzt, wenn er sowieso nur ein 'guter Freund' von mir sein möchte und nicht mehr? Warum sollte er nicht mit Freunden ausgehen, seinen Urlaub genießen? Ein Blick auf meine Uhr – es war kurz vor Mitternacht – brachte mich wieder auf den Boden der Tatsachen. Er würde bestimmt noch länger fortbleiben.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken, sah die Regentropfen fallen, spürte sie auf mein Gesicht fallen, sah den dunklen, mit schweren, pechschwarzen Wolken bedeckten Himmel, die schwache Straßenbeleuchtung, die kaum gegen die Dunkelheit ankam und musste plötzlich lachen. Ich kam mir so lächerlich, so kindisch vor. Ich lachte und lachte und befand mich schon auf dem Weg nach Hause, als mir auffiel, dass sich trotz Lachen in meinem Hals ein dicker Kloß aufbaute, den ich nicht weg schlucken konnte. Als ich mich zuhause ausgezogen und auf mein Bett geworfen hatte, ging das Lachen in ein Weinen über und alle dunkle Gedanken stürzten auf mich ein, die ich je in mir verdrängt hatte, plagten mein Bewusstsein, drehten ihre Kreise in meinem Kopf und Bauch, nährten das tränenreiche Weinen in mir wie Stroh eine Flamme. Ich fühlte, wie die Tränen mich innerlich verbrannten, ausbrannten und doch trösteten sie mich. Sie spülten die Enttäuschung in mir weg und nach geraumer Zeit merkte ich, dass ich keine Tränen mehr hatte und dass das trockene Weinen in meinen Lungen, meinem Bauch und am meisten in meiner Seele weh tat. Ich raffte mich auf, ging ins Bad und vermied es, das Licht anzuschalten. Von Angesicht zu Angesicht wollte ich mich nicht so verweint sehen, es war klar, dass ich schlecht aussah. Mein Gesicht kühlte ich unter dem fließenden Wasser, wusch das Tränensalz von meinen Wangen und ging in die Küche, wo ich das Fenster öffnete und eine Zigarette rauchte.
Auf einmal war ich ganz ruhig, ganz gefasst.
Hatte ich mich schon mit meiner neuen Situation abgefunden?
Ich legte mich in mein Bett und hoffte, dass der Schlaf recht bald eintreten würde, damit ich mir nicht mehr so viele Gedanken machen würde.
'Hoffentlich