Büchernachlese: Rezensionen 1985 - 1989. Ulrich Karger

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Büchernachlese: Rezensionen 1985 - 1989 - Ulrich Karger


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Stoff. Der Lucy Körner Verlag hat den Anspruch „Bücher für eine bessere Welt“ zu verlegen und apostrophiert die Sehnsucht als „eine Kraft, die unsere Träume in die Wirklichkeit trägt“. 12 Geschichten, die mit ihren gewollten aktuellen Bezügen eher Gleichnisse als Märchen sind, laden ein, dieser Kraft auf die Spur zu kommen. Roland Kübler ist allein mit sechs Geschichten vertreten, an denen ich vor allem die poetische Sprachmelodie schätze. So läßt er u.a. Wale fast schon hörbar über die grausame Geschäftstüchtigkeit der Menschen singen, und man mutet sich danach auch traumselig ein Märchen zu, das mit „Der Sinn des Lebens“ überschrieben ist. Die fünf anderen Autoren/innen W. Eicke, M. Eichborn, P. Partisch und B. Losse mit je einer Erzählung und Heinz Körner mit zweien fügen sich da insgesamt gut ein bzw. tragen redlich ihr Quantum Farbe bei. Fragen nach Grundsätzlichem werden hier märchenhaft unbeschwert angegangen, und finden Lösungen, die einem den Weg zum Therapeuten ersparen oder eröffnen mögen. „Die Frau aus dem Regenbogen“ scheint allerdings direkt auf der Couch aufgenommen – wie hier der Sohn dem „alten Vater“ dessen Sprachlosigkeit Beine macht, ist nicht mehr anrührend, sondern schon penetrant in seinem Wunschdenken. Das Gros der Geschichten baut sich aber straff und ohne Brüche auf, und erfreut den, der Geschriebenes dieser Art liebt, durch das Fehlen jedweder Hektik. Ruhig und bedächtig, heiter und stets besinnlich geben sie einem die Zeit, wieder mal über die offensichtlich eindimensionale Perspektivlosigkeit der Macht- und Geldmenschen zu staunen und selbst wieder etwas Sehnsucht zu wagen. Die Illustrationen von H. Deinhard, S. P. Joshua und R. Schröder sind in bewährter Pünktchenmanier liebevoll bis ins kleinste Detail ausgestaltet und wie die Schrift braun gedruckt. Jetzt schnell Kerzen besorgen, auf den Abend warten, dann lesen und die Farben zählen. Nur weil die Anderen, die Cleveren Moral als Blödsinn für sich vereinnahmen, muß man sich ihnen ja nicht gleich cool über den Dingen stehend anschließen. Heinz Körner (Hg.): Wieviele Farben hat die Sehnsucht. Märchensammlung. Lucy Körner Verlag, Fellbach 1986. 96 Seiten. ISBN: 3-922028-12-8 Vö.: Bremer Blatt 9/1986; zitty 15/1986; Ulcus Molle 10-12/1986

      Krokisi, Barbara: Es war einmal

      „Hänsel und Gretel“ oder „Rotkäppchen“ zu besprechen, macht keinen Sinn, sind doch diese und die anderen Märchen der Gebrüder Grimm (noch) deutschsprachiges Kultur- und Allgemeingut.

      Nach längerer Pause ist der Metta Kinau Verlag mit neuer Inhaberin wieder im Geschäft. Seit nunmehr drei Jahren produziert dieser kleine Verlag recht erfolgreich u.a. phantastische Alltagsgeschichten und moderne Märchen, die vor allem durch die liebevoll gestaltete Aufmachung auf sich aufmerksam machen. Die Inhaberin Bettina Plenz hat sich außerdem die Aufgabe gestellt, die Tradition des Verlages zu pflegen und „alte Bücher“ neu aufzulegen, die ihr von Inhalt und Gestaltung her noch heute reizvoll erscheinen. Ihre Vorgänger verlegten 1947 zwölf der schönsten Grimm’schen Märchen – das altertümliche, in Blei gesetzte Schriftbild und die kunstvoll gearbeiteten Scherenschnitte machen aus der unveränderten Neuauflage ein Zeitdokument und zugleich ein bibliophiles Kleinod. Barbara Krokisius verstand es, das schwarze Papier vor weißem Hintergrund so zu schneiden, daß nicht flache Schatten ahnen oder raten lassen, was gemeint ist. Vielmehr arbeitete sie z.B. Blatt für Blatt eines Rosendikichts um Dornröschen heraus und gab ihren Schnitten Raum und Perspektive.

      Bei aller Liebe zur Kunst ist es eben auch ein Genuß, gekonntes Handwerk schauen zu können. Auch die scheinbar so sattsam bekannten Märchen mal wieder im annährend originalen Sprachduktus nachzulesen, hat seinen eigenen Reiz, ist keineswegs nur skurril und schützt ein Märchen wie Aschenputtel vor der Verwechselung mit Walt Disneys Cinderella.

      Seltsam berührt eigentlich nur das damalige Nachwort, das zwei Jahre nach dem Holocaust ein Wort wie „völkisch“ gebrauchen konnte, wenn auch in einem ganz anderen Sinnzusammenhang. Alles in allem ist dieses Buch aber für Liebhaber und Sammler des Gedruckten ein Muß.

      Barbara Krokisi: Es war einmal. Ein Märchenkranz der Brüder Grimm. Metta Kinau Verlag, Hamburg 1986. 35 Seiten. ISBN: 3-920641-05-1

      Vö.: Ulcus Molle 10-12/1986

      Krott, Reinhard: Wintertanz

      Da tanzt sich einer durchs Leben, alles was ihm begegnet, wird zu einer Geschichte, die er dann den anderen vorträgt, in der Hoffnung, bei denen den verbauten, inneren Ton wieder zum Schwingen zu bringen. Und der trifft auf eine Frau, die sich ihm entzieht, die weder zum Repertoire seiner Geschichten, noch bei sich Töne angeschlagen haben will.

      Reinhard Krott hebt in neun Szenen und einem Prolog den Vorhang und zeichnet dahinter sehr stimmungsvoll das Bühnebild und den inneren Spielraum seiner Protagonisten. Wie in einem Vexierbild bewegen, sprechen und denken sich die beiden aneinander vorbei. Zu Beginn der Erzählung wird Ira vorgestellt. Ihre „tiefschwarzen, geheimnisvollen Augen“ geben dem Betrachter keinen Anhaltspunkt, spiegeln nichts wieder, was in ein Schubladensystem passt. Ein Hauch von E. A. Poe und Gänsehaut umgibt diese resignierende Einzelkämpferin, so daß der nach Harmonie Strebende sich bereitwillig in der nächsten Szene auf die romantisch bunte Vorstellungswelt des Tänzers einlassen wird. Aber auch die wird entlarvt, formt vor seinen Augen im besten Wollen die Welt nach seinem Bilde, will einordnen, verfüg- und verstehbar haben, was zuletzt doch nur zur Illusion gerinnt. Mit seinen 25 Jahren beweist Krott in seiner Erzählung eine erstaunlich reife Sicht in Sachen Liebe, tastet sich damit von seinen beiden Antipoden her immer näher an den schmalen Grat des Möglichen im Miteinander der Menschen. Abgrenzung, die zur Ausgrenzung führt, reibt sich an einer Verbindlichkeit, die auf den ersten Blick freundlicher scheint, aber genauso ein wirkliches Annehmen des Anderen ausschließt.

      Der Autor entläßt einen von Anfang bis Ende des Buches nicht aus dieser Spannung, und es braucht einige Zeit, bis man sich wieder in den Sessel seines eigenen Standpunktes zurückfallen lassen kann. Am Ende des Buches erscheint es dann kleinlich, sich an einige typische Anfängerfehler zu erinnern. Auf den ersten Seiten hilft einem aber nur die Neugier über das willkürliche Wechseln der Erzählebene innerhalb eines Satzes, was nicht „eigenwillige Sprache“ sondern einfach falsch und störend ist. Ein Lektor hätte da einiges zu tun, was der Mühe aber sicher wert wäre, da das Erstlingswerk zugleich zu einem Vermächtnis geworden ist. Reinhard Krott ist noch vor Drucklegung des Buches durch einen Unfall ums Leben gekommen.

      Reinhard Krott: Wintertanz. Erzählung. Lucy Körner Verlag, Fellbach 1986. 96 Seiten. ISBN: 3-922028-14-4

      Vö.: Ulcus Molle 10-12/1986

      Lassahn, Bernhard: Du hast noch ein Jahr Garantie

      Die 33 Geschichten des Bernhard Lassahn sind 33 Tropfen, denen es gelingt, den Stein der Selbstüberschätzung ein wenig auszuhöhlen. Oft nicht mehr als 3,4 Seiten kurz, arbeiten sie in einem wie die natürlichen Bestandteile eines homöopathischen Medikaments – je kleiner die Dosis, desto größer die Wirkung. Die reicht von Schmunzeln bis hin zum kichernden Gegluckse.

      33 Geschichten – das sind 33 Facetten Leben, wie mensch sie kennt oder schon wieder vergessen hat. Z.B. die erste unschuldige Liebe mit 15 oder von der Verweigerung des Schulsportes bis hin zum Fitnesscenterkonsumenten oder die Furcht des Deutschen vor Deutschen im Urlaub oder, oder ...

      Also ganz gewöhnlicher Alltag, wie er sich zwischen Supermarkt und Psychokurs, Schwabenland und Bermudadreieck zuträgt. Den moralischen Zeigefinger in der Tasche, erzählt Lassahn aus der Ich-Perspektive, hat Anteil an seinen Geschichten und kann auf Anteilnahme rechnen. Der Grabbsche Vierklang: „Scherz, Ironie, Satire und tiefere Bedeutung“ ist in jeder Geschichte neu durchkomponiert wiederzufinden, von daher nie platt oder langweilig, höchstens manchmal bösartig. Es ist zu spüren, daß hier einer einfach auch Spaß an der Sprache hat und sie auch gebrauchen kann. So ist in fast allen Geschichten auch von der Vergewaltigung der Sprache die Rede, wie sie Politiker und die Waschmittelwerbung (aber auch die „Sceeene“) ihr antun.

      Jedermensch wird sich ertappt fühlen dürfen, ohne gleich rot zu werden – aber vielleicht etwas aufmerksamer.

      Bernhard Lassahn: Du hast noch ein Jahr Garantie.


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