Radetzkymarsch. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.Stiefeln auf einem glatten Boden zu wandeln, von unheimlichen Reden verfolgt und von scheuen Blicken erwartet. Sein Großvater noch war ein kleiner Bauer gewesen, sein Vater Rechnungsunteroffizier, später Gendarmeriewachtmeister im südlichen Grenzgebiet der Monarchie. Seitdem er im Kampf mit bosnischen Grenzschmugglern ein Auge verloren hatte, lebte er als Militärinvalide und Parkwächter des Schlosses Laxenburg, fütterte die Schwäne, beschnitt die Hecken, bewachte im Frühling den Goldregen, später den Holunder vor räuberischen, unberechtigten Händen und fegte in milden Nächten obdachlose Liebespaare von den wohltätig finstern Bänken. Natürlich und angemessen schien der Rang eines gewöhnlichen Leutnants der Infanterie dem Sohn eines Unteroffiziers. Dem adeligen und ausgezeichneten Hauptmann aber, der im fremden und fast unheimlichen Glanz der kaiserlichen Gnade umherging wie in einer goldenen Wolke, war der leibliche Vater plötzlich ferngerückt, und die gemessene Liebe, die der Nachkomme dem Alten entgegenbrachte, schien ein verändertes Verhalten und eine neue Form des Verkehrs zwischen Vater und Sohn zu verlangen. Seit fünf Jahren hatte der Hauptmann seinen Vater nicht gesehen; wohl aber jede zweite Woche, wenn er nach dem ewig unveränderlichen Turnus in den Stationsdienst kam, dem Alten einen kurzen Brief geschrieben, im Wachtzimmer, beim kärglichen und unruhigen Schein der Dienstkerze, nachdem er die Wachen visitiert, die Stunden ihrer Ablösung eingetragen und in die Rubrik »Besondere Vorfälle« ein energisches und klares »Keine« gezeichnet hatte, das gleichsam auch nur jede leise Möglichkeit besonderer Vorfälle leugnete. Wie Urlaubsscheine und Dienstzettel glichen die Briefe einander, geschrieben auf gelblichen und holzfaserigen Oktavbogen, die Anrede »Lieber Vater!« links, vier Finger Abstand vom oberen Rand und zwei vom seitlichen, beginnend mit der kurzen Mitteilung vom Wohlergehen des Schreibers, fortfahrend mit der Hoffnung auf das des Empfängers und abgeschlossen von der steten, in einen neuen Absatz gefaßten und rechts unten im diagonalen Abstand zur Anrede hingemalten Wendung: »In Ehrfurcht Ihr treuer und dankbarer Sohn Joseph Trotta, Leutnant.« Wie aber sollte man jetzt, zumal da man dank dem neuen Rang nicht mehr den alten Turnus mitmachte, die gesetzmäßige, für ein ganzes Soldatenleben berechnete Form der Briefe ändern und zwischen die normierten Sätze ungewöhnliche Mitteilungen von ungewöhnlich gewordenen Verhältnissen rücken, die man selbst noch kaum begriffen hatte? An jenem stillen Abend, an dem der Hauptmann Trotta sich zum erstenmal nach seiner Genesung an den von spielerischen Messern gelangweilter Männer reichlich zerschnitzten und durchkerbten Tisch setzte, um die Pflicht der Korrespondenz zu erfüllen, sah er ein, daß er über die Anrede »Lieber Vater!« niemals hinauskommen würde. Und er lehnte die unfruchtbare Feder ans Tintenfaß, und er zupfte ein Stück vom flackernden Docht der Kerze ab, als erhoffte er von ihrem besänftigten Licht einen glücklichen Einfall und eine passende Wendung, und schweifte sachte in Erinnerungen ab, an Kindheit, Dorf, Mutter und Kadettenschule. Er betrachtete die riesigen Schatten, von geringen Gegenständen an die kahlen, blaugetünchten Wände geworfen, und die leicht gekrümmte, schimmernde Linie des Säbels am Haken neben der Tür und, durch den Korb des Säbels gesteckt, das dunkle Halsband. Er lauschte dem unermüdlichen Regen draußen und seinem trommelnden Gesang am blechbeschlagenen Fensterbrett. Und er erhob sich endlich mit dem Entschluß, den Vater in der nächsten Woche zu besuchen, nach vorgeschriebener Dank-Audienz beim Kaiser, zu der man ihn in einigen Tagen abkommandieren sollte.
Eine Woche später fuhr er unmittelbar von der Audienz, die aus knappen zehn Minuten bestanden hatte, nicht mehr als aus zehn Minuten kaiserlicher Huld und jener zehn oder zwölf aus Akten gelesenen Fragen, auf die man in strammer Haltung ein »Jawohl, Majestät!« wie einen sanften, aber bestimmten Flintenschuß abfeuern mußte, im Fiaker zu seinem Vater nach Laxenburg. Er traf den Alten in der Küche seiner Dienstwohnung, in Hemdsärmeln, am blankgehobelten, nackten Tisch, auf dem ein dunkelblaues Taschentuch mit roten Säumen lag, vor einer geräumigen Tasse mit dampfendem und wohlriechendem Kaffee. Der knotenreiche, rotbraune Stock aus Weichselholz hing mit der Krücke an der Tischkante und schaukelte leise. Ein runzliger Lederbeutel mit faserigem Knaster lag dick geschwellt und halb offen neben der langen Pfeife aus weißem, gebräuntem, gelblichem Ton. Ihre Färbung paßte zu dem mächtigen, weißen Schnurrbart des Vaters. Hauptmann Joseph Trotta von Sipolje stand mitten in dieser ärmlichen und ärarischen Traulichkeit wie ein militärischer Gott, mit glitzernder Feldbinde, lackiertem Helm, der eine Art eigenen schwarzen Sonnenscheins verbreitete, in glatten, feurig gewichsten Zugstiefeln, mit schimmernden Sporen, mit zwei Reihen glänzender, beinahe flackernder Knöpfe am Rock und von der überirdischen Macht des Maria-Theresien-Ordens gesegnet. Also stand der Sohn vor dem Vater, der sich langsam erhob, als wollte er durch die Langsamkeit der Begrüßung den Glanz des Jungen wettmachen. Hauptmann Trotta küßte die Hand seines Vaters, beugte den Kopf tiefer und empfing einen Kuß auf die Stirn und einen auf die Wange. »Setz dich!«, sagte der Alte. Der Hauptmann schnallte Teile seines Glanzes ab und setzte sich. »Ich gratulier' dir!«, sagte der Vater mit gewöhnlicher Stimme, im harten Deutsch der Armee-Slawen. Er ließ die Konsonanten wie Gewitter hervorbrechen und beschwerte die Endsilben mit kleinen Gewichten. Vor fünf Jahren noch hatte er zu seinem Sohn slowenisch gesprochen, obwohl der Junge nur ein paar Worte verstand und nicht ein einziges selbst hervorbrachte. Heute aber mochte dem Alten der Gebrauch seiner Muttersprache von dem so weit durch die Gnade des Schicksals und des Kaisers entrückten Sohn als eine gewagte Zutraulichkeit erscheinen, während der Hauptmann auf die Lippen des Vaters achtete, um den ersten slowenischen Laut zu begrüßen, wie etwas vertraut Fernes und verloren Heimisches. »Gratuliere, gratuliere!«, wiederholte der Wachtmeister donnernd. »Zu meiner Zeit ist es nie so schnell gegangen! Zu meiner Zeit hat uns noch der Radetzky gezwiebelt!« Es ist tatsächlich aus! dachte der Hauptmann Trotta. Getrennt von ihm war der Vater durch einen schweren Berg militärischer Grade. »Haben Sie noch Rakija, Herr Vater?«, sagte er, um den letzten Rest der familiären Gemeinsamkeit zu bestätigen. Sie tranken, stießen an, tranken wieder, nach jedem Trunk ächzte der Vater, verlor sich in einem unendlichen Husten, wurde blaurot, spuckte, beruhigte sich langsam und begann, Allerweltsgeschichten aus der eigenen Militärzeit zu erzählen, mit der unbezweifelbaren Absicht, Verdienste und Karriere des Sohnes geringer erscheinen zu lassen. Schließlich erhob sich der Hauptmann, küßte die väterliche Hand, empfing den väterlichen Kuß auf Stirn und Wange, gürtete den Säbel um, setzte den Tschako auf und ging – mit dem sichern Bewußtsein, daß er den Vater zum letztenmal in diesem Leben gesehen hatte ...
Es war das letztemal gewesen. Der Sohn schrieb dem Alten die gewohnten Briefe, es gab keine andere sichtbare Beziehung mehr zwischen beiden – losgelöst war der Hauptmann Trotta von dem langen Zug seiner bäuerlichen slawischen Vorfahren. Ein neues Geschlecht brach mit ihm an. Die runden Jahre rollten nacheinander ab wie gleichmäßige, friedliche Räder. Standesgemäß heiratete Trotta die nicht mehr ganz junge, begüterte Nichte seines Obersten, Tochter eines Bezirkshauptmanns im westlichen Böhmen, zeugte einen Knaben, genoß das Gleichmaß seiner gesunden, militärischen Existenz in der kleinen Garnison, ritt jeden Morgen zum Exerzierplatz, spielte nachmittags Schach mit dem Notar im Kaffeehaus, wurde heimisch in seinem Rang, seinem Stand, seiner Würde und seinem Ruhm. Er besaß eine durchschnittliche militärische Begabung, von der er jedes Jahr bei den Manövern durchschnittliche Proben ablegte, war ein guter Gatte, mißtrauisch gegen Frauen, den Spielen fern, mürrisch, aber gerecht im Dienst, grimmiger Feind jeder Lüge, unmännlichen Gebarens, feiger Geborgenheit, geschwätzigen Lobs und ehrgeiziger Süchte. Er war so einfach und untadelig wie seine Konduitenliste, und nur der Zorn, der ihn manchmal ergriff, hätte einen Kenner der Menschen ahnen lassen, daß auch in der Seele des Hauptmanns Trotta die nächtlichen Abgründe dämmerten, in denen die Stürme schlafen und die unbekannten Stimmen namenloser Ahnen.
Er las keine Bücher, der Hauptmann Trotta, und bemitleidete im stillen seinen heranwachsenden Sohn, der anfangen mußte, mit Griffel, Tafel und Schwamm, Papier, Lineal und Einmaleins zu hantieren, und auf den die unvermeidlichen Lesebücher bereits warteten. Noch war der Hauptmann überzeugt, daß auch sein Sohn Soldat werden müsse. Es fiel ihm nicht ein, daß (von nun bis zum Erlöschen des Geschlechts) ein Trotta einen andern Beruf würde ausüben können. Wenn er zwei, drei, vier Söhne gehabt hätte – aber seine Frau war schwächlich, brauchte Arzt und Kuren, und Schwangerschaft brachte sie in Gefahr –, alle wären sie Soldaten geworden. So dachte damals noch der Hauptmann Trotta. Man sprach von einem neuen Krieg, er war jeden Tag bereit. Ja, es schien ihm fast gewiß, daß er ausersehen war, in der Schlacht zu sterben. Seine solide Einfalt hielt den Tod im Feld für eine notwendige Folge kriegerischen Ruhms. Bis er eines Tages das