Radetzkymarsch. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.nachmittags um vier, marschierte Carl Joseph in das Gendarmeriekommando. Um sieben Uhr abends verließ er es. Der Duft, den er von Frau Slama mitbrachte, vermischte sich mit den Gerüchen der trockenen sommerlichen Abende und blieb an Carl Josephs Händen Tag und Nacht. Er gab acht, dem Vater bei Tisch nicht näher zu kommen als nötig war. »Es riecht hier nach Herbst«, sagte eines Abends der Alte. Er verallgemeinerte. Frau Slama gebrauchte grundsätzlich Reseda.
3
Im Herrenzimmer des Bezirkshauptmanns hing das Porträt, den Fenstern gegenüber und so hoch an der Wand, daß Stirn und Haar im dunkelbraunen Schatten des alten, hölzernen Suffits verdämmerten. Die Neugier des Enkels kreiste beständig um die erloschene Gestalt und den verschollenen Ruhm des Großvaters. Manchmal, an stillen Nachmittagen – die Fenster standen offen, der dunkelgrüne Schatten der Kastanien aus dem Stadtpark erfüllte das Zimmer mit der ganzen satten und kräftigen Ruhe des Sommers, der Bezirkshauptmann leitete eine seiner Kommissionen außerhalb der Stadt, von fernen Treppen her schlurfte der Geisterschritt des alten Jacques, der auf Filzpantoffeln durch das Haus ging, um Schuhe, Kleider, Aschenbecher, Leuchter und Stehlampen zum Putzen einzusammeln –, stieg Carl Joseph auf einen Stuhl und betrachtete das Bildnis des Großvaters aus der Nähe. Es zerfiel in zahlreiche tiefe Schatten und helle Lichtflecke, in Pinselstriche und Tupfen, in ein tausendfältiges Gewebe der bemalten Leinwand, in ein hartes Farbenspiel getrockneten Öls. Carl Joseph stieg vom Stuhl. Der grüne Schatten der Bäume spielte auf dem braunen Rock des Großvaters, die Pinselstriche und Tupfen fügten sich wieder zu der vertrauten, aber unergründlichen Physiognomie, und die Augen erhielten ihren gewohnten, fernen, dem Dunkel der Decke entgegendämmernden Blick. Jedes Jahr in den Sommerferien fanden die stummen Unterhaltungen des Enkels mit dem Großvater statt. Nichts verriet der Tote. Nichts erfuhr der Junge. Von Jahr zu Jahr schien das Bildnis blasser und jenseitiger zu werden, als stürbe der Held von Solferino noch einmal dahin, als zöge er sein Andenken langsam zu sich hinüber und als müßte eine Zeit kommen, in der eine leere Leinwand aus dem schwarzen Rahmen noch stummer als das Porträt auf den Nachkommen niederstarren würde.
Unten im Hof, im Schatten des hölzernen Balkons, saß Jacques auf einem Schemel, vor der militärisch ausgerichteten Reihe gewichster Stiefel. Immer, wenn Carl Joseph von Frau Slama heimkehrte, ging er zu Jacques in den Hof und setzte sich auf die Kante. »Erzählen Sie vom Großvater, Jacques!« – Und Jacques legte Bürste, Pasta und Sidol weg, rieb die Hände aneinander, als wüsche er sie von Arbeit und Schmutz, bevor er anfing, von dem Seligen zu sprechen. Und wie immer und wie schon gute zwanzig Mal begann er: »Ich bin immer mit ihm ausgekommen! Gar nicht jung mehr bin ich auf den Hof gekommen, geheiratet hab' ich nicht, das hätt' dem Seligen nicht gefallen. Frauenzimmer hat er nicht gern gesehn, ausgenommen seine eigene Frau Baronin, aber die ist bald gestorben, auf der Lunge. Alle haben gewußt: Er hat dem Kaiser das Leben gerettet, in der Schlacht bei Solferino, aber er hat nichts davon gesagt, keinen Mucks hat er gegeben. Deshalb haben sie ihm auch ›Der Held von Solferino‹ auf den Grabstein geschrieben. Gar nicht alt ist er gestorben, so am Abend, gegen neun, im November wird's gewesen sein. Geschneit hat es schon, nachmittags ist er schon im Hof gestanden und hat gesagt: ›Jacques, wo hast du die Pelzstiefel hingetan?‹ Ich hab's nicht gewußt, aber gesagt hab' ich: ›Gleich hol' ich sie, Herrn Baron!‹ ›Hat Zeit bis morgen!‹ sagt er – und morgen hat er sie nicht mehr gebraucht. Geheiratet hab' ich nie!«
Das war alles.
Einmal (es waren die letzten Ferien, in einem Jahr sollte Carl Joseph ausgemustert werden) sagte der Bezirkshauptmann beim Abschied: »Ich hoffe, daß alles glattgeht. Du bist der Enkel des Helden von Solferino. Denk daran, dann kann dir nichts passieren!«
Auch der Oberst, alle Lehrer, alle Unteroffiziere dachten daran, und also konnte Carl Joseph in der Tat nichts passieren. Obwohl er kein ausgezeichneter Reiter war, in der Terrainlehre schwach, in der Trigonometrie ganz versagt hatte, kam er »mit einer guten Nummer« durch, wurde als Leutnant ausgemustert und den X-ten Ulanen zugeteilt. Die Augen trunken vom eigenen neuen Glanz und von der letzten feierlichen Messe, das Ohr erfüllt von den donnernden Abschiedsreden des Obersten, im azurenen Waffenrock mit goldenen Knöpfen, das silberne Patronentäschchen mit dem goldenen, erhabenen Doppeladler am Rücken, die Tschapka mit Schuppenriemen und Haarschweif in der Linken, in knallroten Reithosen, spiegelnden Stiefeln, singenden Sporen, den Säbel mit breitem Korb an der Hüfte: so präsentierte sich Carl Joseph an einem heißen Sommertag seinem Vater. Es war diesmal kein Sonntag. Ein Leutnant durfte auch am Mittwoch kommen. Der Bezirkshauptmann saß in seinem Arbeitszimmer. »Mach dir's bequem!«, sagte er. Er legte den Zwicker ab, zog die Augenlider zusammen, erhob sich, musterte seinen Sohn und fand alles in Ordnung. Er umarmte Carl Joseph, sie küßten sich flüchtig auf die Wangen. »Nimm Platz!«, sagte der Bezirkshauptmann und drückte den Leutnant in einen Sessel. Er selbst ging auf und ab durchs Zimmer. Er überlegte einen passenden Anfang. Ein Tadel war diesmal nicht anzubringen, mit einem Ausdruck der Zufriedenheit konnte man nicht beginnen. »Du solltest dich jetzt«, sagte er endlich, »mit der Geschichte deines Regiments beschäftigen und auch ein wenig in der Geschichte des Regiments nachlesen, in dem dein Großvater gekämpft hat. Ich hab' zwei Tage dienstlich in Wien zu tun, wirst mich begleiten.« Dann schwang er die Tischglocke. Jacques kam. »Fräulein Hirschwitz«, befahl der Bezirkshauptmann, »möchte heute den Wein heraufholen lassen und, wenn's geht, Rindfleisch vorbereiten und Kirschknödel. Wir essen heute zwanzig Minuten später als gewöhnlich.« »Jawohl, Herr Baron«, sagte Jacques, sah Carl Joseph an und flüsterte: »Gratuliere herzlich!« Der Bezirkshauptmann ging zum Fenster, die Szene drohte rührend zu werden. Hinter seinem Rücken vernahm er, wie der Sohn dem Diener die Hand gab, Jacques mit den Füßen scharrte, etwas Unverständliches vom seligen Herrn murmelte. Er wandte sich erst um, als Jacques das Zimmer verlassen hatte.
»Es ist heiß, nicht?«, begann der Alte.
»Jawohl, Papa!«
»Ich denke, wir gehn an die Luft!«
»Jawohl, Papa!«
Der Bezirkshauptmann nahm den schwarzen Stock aus Ebenholz mit dem silbernen Griff, nicht das gelbe Rohr, das er sonst an hellen Vormittagen zu tragen liebte. Auch die Handschuhe behielt er nicht in der Linken, er streifte sie über. Er setzte den Halbzylinder auf und verließ das Zimmer, gefolgt von dem Jungen. Langsam und ohne ein Wort zu wechseln, gingen beide durch die sommerliche Stille des Stadtparks. Der Stadtpolizist salutierte, Männer erhoben sich von den Bänken und grüßten. Neben der dunklen Gravität des Alten nahm sich die klirrende Buntheit des Jungen noch leuchtender und geräuschvoller aus. In der Allee, in der ein hellblondes Mädchen Sodawasser mit Himbeersaft unter einem roten Sonnenschirm ausschenkte, hielt der Alte ein und sagte: »Ein frischer Trunk kann nicht schaden!« – Er bestellte zwei Soda ohne und beobachtete mit verstohlener Würde das blonde Fräulein, das wollüstig und willenlos ganz in den farbigen Schimmer Carl Josephs einzutauchen schien. Sie tranken und gingen weiter. Manchmal schwenkte der Bezirkshauptmann ein bißchen den Stock, es war wie die Andeutung eines Übermuts, der sich in Grenzen zu halten weiß. Obwohl er schwieg und ernst war wie gewöhnlich, erschien er seinem Sohn heute beinahe flott. Aus seinem frohen Innern brach gelegentlich ein wohlgefälliges Hüsteln, eine Art Lachen. Grüßte ihn jemand, so hob er kurz den Hut. Es gab Augenblicke, in denen er sich sogar zu kühnen Paradoxen vortraute, wie zum Beispiel: »Auch Höflichkeit kann lästig werden!« Er sprach lieber ein gewagtes Wort aus, als daß er sich die Freude über die staunenden Blicke der Vorbeikommenden hätte anmerken lassen. Als sie sich wieder dem Haustor näherten, blieb er noch einmal stehen. Er wandte sein Angesicht dem Sohn zu und sagte: »In meiner Jugend wär' ich auch gern Soldat geworden. Dein Großvater hat's ausdrücklich verboten. Jetzt bin ich zufrieden, daß du nicht Beamter bist!« »Jawohl, Papa!«, erwiderte Carl Joseph.
Es gab Wein, auch Rindfleisch und Kirschknödel hatte man ermöglicht. Fräulein Hirschwitz kam im sonntäglich Grauseidenen und ließ beim Anblick Carl Josephs den größten Teil ihrer Strenge ohne weiteres fallen. »Ich freue mich sehr«, sagte sie, »und beglückwünsche Sie herzlich.« »Beglückwünschen heißt gratulieren«, bemerkte der Bezirkshauptmann. Und man begann zu essen.
»Du brauchst dich nicht zu eilen!«, sagte der Alte. »Wenn ich schneller fertig bin, so wart' ich noch ein bißchen.« Carl