Michael Bakunin und die Anarchie. Ricarda Huch

Читать онлайн книгу.

Michael Bakunin und die Anarchie - Ricarda Huch


Скачать книгу
am staatlichen Leben hatten und beanspruchten sie natürlich nicht.

      Besonders zeigte sich das Fließende in den Besitzverhältnissen. Nirgends sei, sagt Haxthausen, so großer Umschwung in jeder Art von Vermögen wie in Russland. Selten komme ein großes Vermögen auf den dritten Erben, alles Eigentum hänge an losen Fäden und wechsle mit rasender Schnelle. Die Geldwirtschaft hatte in Russland noch nicht denselben Grad erreicht wie im Westen, die Industrie war noch in den Anfängen. Sieht man von Petersburg ab, so waren die Lebensgewohnheiten im allgemeinen bescheiden, bis auf die Bequemlichkeit, die die Bedienung durch zahlreiche Leibeigene mit sich brachte. Die Russen waren außerordentlich freigebig. Mit dem Bettler und Vagabunden hatte jeder Mitleid sowie mit den Gefangenen, denen Gaben reichlich zuströmten. Haxthausen beobachtete, daß in den Höfen der Gefängnisse Wagen voller Geschenke für die Verschickten standen. Man nahm Partei für alle Unglücklichen, zu denen jeder unversehens gehören konnte, während im Westen zwischen den Glücklichen und den Unglücklichen, vollends zwischen den Verbrechern und den Unbestraften, eine grausame Scheidewand sich erhebt.

      Ein Österreicher, der im Beginn unseres Jahrhunderts Russland besuchte, schrieb einer russischen Dame ins Album: »Russland ist ein Kerker, aber er wird von Menschen bewohnt. Der Westen ist frei, aber er kennt fast nur noch Geschäftsleute.«

      Mit diesen Besonderheiten, die dem Beobachter des russischen Landes auffallen, ist aber die Eigenart des russischen Wesens nicht erschöpft.

      Einmal, als Bakunin als alternder Mann in der Schweiz wohnte, besuchte ihn ein junger Russe, der nach Bakunins Lehre mit dem Volke wie das Volk, körperlich arbeitend, leben wollte. Mit einem Kameraden machte er sich nach dem Sankt Gotthard auf in der Hoffnung, beim Bau des Tunnels Beschäftigung zu finden. Da sie im Freien übernachten wollten und es abends kalt wurde, zündeten sie sich ein Feuer an, wurden aber bald durch einen Waldhüter gestört, der ihnen bedeutete, daß das verboten sei. Das enttäuschte sie sehr; leidenschaftliches Heimweh erwachte in ihnen nach den unermeßlichen Wäldern Russlands, wo Stunden und Stunden kein Laut ertönt als der Schrei eines wilden Vogels, wo der Wanderer allein ist mit seinen Träumen und der Natur und keinem Menschen begegnet als etwa einem Flüchtling, einem Vagabunden, einem Bettler, die, wenn auch in Lumpen gehüllt und oft einen Bissen Brot entbehrend, doch hier königlicher Freiheit genießen. Es gibt viele tiefsinnige Bestimmungen des Begriffs Freiheit; aber es gibt eine Freiheit, die jedes Kind versteht: ein Leben außerhalb des Staates und der konventionellen Gesellschaft, nur durch die Natur beschränkt, darin inbegriffen die eigene Kraft und die der anderen. So wenig der Russe im allgemeinen davon Gebrauch machen kann, besonders der in Petersburg lebende, beständig überwachte: etwas davon ist doch in seinem Wesen und kann sich plötzlich geltend machen.

      Der Hauch dieser Freiheit charakterisiert auch die Meisterwerke der russischen Literatur, die im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entstanden. In der Erzählung »Die Tochter des Hauptmanns« schildert Puschkin Pugatschew und die von ihm geführte Bauernrevolte, in »Taras Bulba« schildert Gogol das Leben der freien Kosaken. Beides sind Märchenromane, durch die der Takt ungebändigter Rosse sprengt, die das Aroma nie bebauter Erde würzt. Die ferne Vision des Kaukasus, der Wolga, des Ural, Sibiriens verleiht der russischen Dichtung den unnachahmlichen, unwiderstehlichen Reiz. Aus dem Dunkel der tiefen Wälder, aus dem Gräsergewoge der unermeßlichen Steppen raucht es schöpferisch; hier tief unterzutauchen, löst auf und verjüngt.

      In der »Tochter des Hauptmanns« begegnet ein junger Aristokrat auf Reisen einem Bauern mit unwillkürlich wirkungsvoller Persönlichkeit, mit einem schlauen und zugleich gütigen Blick und Lächeln, den er sich zu Dank verpflichtet, indem er ihm seinen Pelz überläßt; als er ihn wieder trifft, erkennt er in ihm den gefürchteten Pugatschew, der, für den Zaren sich ausgebend, die leibeigenen Bauern zur Freiheit aufruft. Aus vielen Kämpfen mit den Regierungstruppen ist er als Sieger hervorgegangen und wirft vor sich alles nieder, was Widerstand leistet, schont aber den jungen Freund, der ihm einst gefällig war. Nachdem es endlich gelingt, der Aufständischen Herr zu werden, sieht der junge Adlige den Rebellen auf dem Schafott enden und empfängt seinen Abschiedsgruß, da er ihn in der Menge der Zuschauer entdeckt, in einem verstohlenen Zwinkern der Augen.

      Welche Überlegenheit in diesem Blick! Wie heldenhaft wird der Tod dieses dunklen Befreiers durch die geringe Gebärde! Unsterblich hat der Dichter seinem Volke die Gestalt ans Herz gelegt, immer wieder begegnet uns in der russischen Dichtung der plumpe Heldenschatten, neben ihm sein Vorgänger Stenka Rasin, der ein Jahrhundert vorher die geknechteten Bauern zur Empörung anführte.

      Ich zweifle nicht, daß Bakunin Puschkins »Tochter des Hauptmanns« kannte und liebte; sicher ist, daß »Taras Bulba« ein Lieblingsbuch von ihm war. Noch im neunzehnten Jahrhundert bildeten die Kosaken freie Räuberrepubliken, in denen sich die uralte Form des Zusammenlebens, die Ebenbürtigkeit aller erhalten hatte. Der Anführer, den sie wählten, blieb der Erste unter Gleichen; auf den Vorschlag eines Beliebigen mußte er zurücktreten, wenn die übrigen zustimmten. Einzig in Kriegsläuften wurde strenge Unterordnung unter den Befehl des Führers gefordert und geleistet. Ein solches Volk war wie ein Wald, in dem jeder Baum ein herrliches Gewächs ist, auf sich selbst ruhend, mit Wind und Wetter kämpfend, jeder ein König und doch im unzertrennlichen Zusammenhang der Gemeinde, wo jeder für alle einsteht und alle für einen. Gogols heroische Dichtung, wunderbar einem Geiste entsprungen, der in unfruchtbarer Mystik erlöschen sollte, hat sich Bakunin tief eingeprägt und sein Denken beeinflußt. Diese Männer, denen die Liebe zum Weibe nicht mehr bedeuten darf als eine kurze Frühlingsmondnacht, deren Leben ausgefüllt ist mit Gefahr, Wagnis und Kampf, Beutezügen und Zechgelagen, in denen mitleidlose Rohheit, innigstes Gefühl und über den Tod triumphierende Freiheitsliebe gesellt sind, erschienen ihm als Vorbilder, und ein so verbrausendes Leben schien ihm lebenswert. Wie niederdrückend und beschämend mußte es ihm vorkommen, daß gerade die Kosaken nun ein Werkzeug der Despotie geworden waren, wenn auch immer noch unter sich als Männerrepublik geordnet. In diesem seltsam ungeheuren Reiche gab es nebeneinander unvereinbare Elemente: Neben der alles fesselnden und erstickenden Beamten- und Polizeiwirtschaft konnten in undurchdringlichen Wäldern von schweifenden Menschen fremdartige Abenteuer erlebt werden.

      Von diesen Elementen hatte Michael nicht nur durch Lektüre etwas in sich aufgenommen, sondern es war etwas davon in seiner Natur. Er vereinigte alle die charakteristisch russischen Züge in sich: Liebenswürdigkeit, Humanität, Freigebigkeit, Kindlichkeit, Trägheit bei stoßweiser Energie, Hang zu ungeregeltem, vagabundierendem Leben. Dazu kam der Freiheitsdrang und der Stolz, der sich bei den freien Tscherkessen des Kaukasus erhalten hatte. Etwas Wildes und Primitives überraschte aber auch seine russischen Freunde, gerade in Verbindung mit der hohen Kultur, die ihn auszeichnete. Der dem Ausländer als typischer Großrusse erschien, befremdete alle Russen.

      Was für Freunde waren diese jungen Russen! Das Einstehen aller für einen und eines für alle, das Michael später so oft als Lebensregel dem herrschenden Egoismus entgegenstellte, ward hier in hohem Grade verwirklicht. Herzens Noblesse ermöglichte Bakunin die ersehnte Reise nach Deutschland; ohne zu zögern, nahm er an, mit einfachen, herzlichen Worten dankend. Es war im Jahre 1840, als er sich von dem schönen Vaterhause, dem vergötterten Vater, den geliebten Schwestern losriß, die ihren Mittelpunkt in ihm verloren. Diese gesicherte Welt, die so viel für ihn bedeutet hatte, versank ganz hinter ihm; frei und vertrauend, magnetisch schicksalhaft angezogen, warf er sich in die verhüllte Zukunft.

      Deutschland um 1840

      Frühlingsstürme rauschten um das Jahr 1840 durch Deutschland, durch Europa. Welche Schmach, daß wir Deutschen diese Blüte des Jahrhunderts, mit ihr die edelsten Namen, verleugneten, daß wir nicht etwa nur die Besiegten und Untergegangenen noch bekämpften und verschütteten, sondern sie dem Gelächter oder der Verachtung preiszugeben suchten. Wir, die wir mit dem Jahre 1870 begannen, nannten die großen Gedanken der Freiheit und Brüderlichkeit entweder lächerlich oder verbrecherisch, und während wir uns um Erfolg oder Geld oder, wenn wir ideal waren, um eine literarische Richtung ereiferten, spotteten wir oder entrüsteten wir uns über jene, die auf den Barrikaden der Revolution verblutet waren. Wir besaßen einst eine heroische Jugend, die bereit war, für ihre Götter zu sterben, und starb; nicht nur, daß ihre Zeitgenossen sie einsperrten, marterten und töteten, wir entehrten auch ihr Gedächtnis


Скачать книгу