Dich kriegen wir weich. Joachim Widmann

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Dich kriegen wir weich - Joachim Widmann


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Panzer schlugen eine letzte Bresche durch den Ring, den die Rote Armee um den „Kessel“ Halbe geschlossen hatte, und Schöne konnte entkommen. Er floh bis ans Ufer der Elbe. Auf der anderen Seite des Stroms standen US-Soldaten mit Megaphonen und riefen: SS- und HJ-Leute würden übergesetzt. „Die Amerikaner wußten, daß die Russen mit denen kurzen Prozeß machen würden.“ Anders als die reguläre Wehrmacht galten die SS und die HJ als nationalsozialistische, politische Verbände, die in Gefangenschaft kein Kriegsrecht schütze.

      Schöne schaffte es um Haaresbreite nicht auf die Fähre. „Die Russen schossen schon rüber.“ Er wandte sich wieder nach Osten, und zufällig begegnete er im Chaos aus Krieg und Flucht dem Treck, in dem seine Mutter nach Westen, weg von der Oder, gezogen war. Er legte die Uniform ab, fiel in Zivil nicht weiter auf, entkam der Gefangenschaft – erstmal.

      Da sie keinen Unterschlupf fanden, gingen Schöne und seine Mutter zurück nach Hathenow. Sein Vater wurde schon im Juli 1945 aus Kriegsgefangenschaft entlassen. Auch der Vater war Eisenbahner, hatte der NSDAP angehört. Doch bis Oktober 1945 blieb die Familie unbehelligt. Auch der berüchtigte sowjetische Geheimdienst NKWDx wußte nicht alles. Es war auf Denunzianten angewiesen. Und einem Denunzianten, da ist sich Schöne sicher, hatte er zu verdanken, daß am 23. Oktober ein Grüppchen deutscher Hilfspolizisten verlegen vor der Tür stand und ihn bat, „zur Klärung eines Sachverhalts“ mitzukommen. Einer der Männer war Schönes Onkel. „Der wußte nicht, was das sollte. Keiner von denen wußte was.“

      Die Hilfspolizisten lieferten Schöne beim NKWD in Seelow ab. Der Geheimdienst residierte in einer Gaststätte. Der Bierkeller diente als Gefängnis.

      Überall im Osten Deutschlands hatten die am 9. Juni 1945 gegründete Sowjetische Militär-Administration in Deutschland (SMAD) und das NKWD öffentliche Gebäude, Gaststätten oder Villen beschlagnahmt.

      Nach ein paar Tagen in dem Keller wurde Schöne vernommen. Man hielt ihn für einen „Werwolf“, also für ein Mitglied der geheimen Truppe, die SS-Reichsführer Heinrich Himmler zu Kriegsende für den Untergrundkampf hatte gründen lassen. Die Geheimdienstler zählten den jungen Mann damit zu der sehr weit gefaßten ersten Kategorie derer, die zu Tausenden verhaftet wurden: Nazis und Kriegsverbrecher.

      Anklage wurde gegen Schöne nicht erhoben, es gab keinen Prozeß.

      Die Internierung ging auf mehrere Befehle zurück, die das NKDW im Frühjahr 1945 erhalten hatte. Es sind im Grunde verschiedene Fassungen desselben Befehls, der offenbar auf die Zerschlagung nationalsozialistischer Organisationen und der Verwaltung des Deutschen Reiches sowie antisowjetischer Medien zielte.

      Von 1946 an konnte sich die Sowjetunion auf entsprechende Erlasse des alliierten Kontrollrats berufen – da waren die Internierungslager längst mit Häftlingen überfüllt. Als „einheitliche Rechtsgrundlage“ für die „Strafverfolgung von Kriegsverbrechern und anderen Missetätern dieser Art – mit Ausnahme derer, die von dem Internationalen Militärgerichtshof abgeurteilt werden“xi, erließ der Alliierte Kontrollrat am 20. Dezember 1945 das Gesetz Nr. 10, das Nazi-Verbrechen definierte und für deren verschiedene Spielarten Strafmaße setzte.

      Die wichtigste Grundlage für die Internierung war die am 1. Oktober 1946 erlassene Kontrollratsdirektive 38 zur „Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten, Militaristen und Industriellen“xii, die das Regime des im Dritten Reichs unterstützt hatten sowie jener Deutscher, „die keiner bestimmten Verbrechen schuldig sind, aber für die Ziele der Alliierten als gefährlich gelten“.

      Da jeder der Alliierten auf der Basis der Direktive 38 ein System eigener Regeln und Sanktionen aufbauen konnte, wurde sie in der Sowjetisch besetzten Zone und später noch in der DDR – nach dem Vorbild der politischen Vereinnahmung des Strafrechts in der Sowjetunion – als Gummiparagraph mißbraucht.

      Auch der illegale Grenzübertritt und „konterrevolutionäre Tätigkeit und Propaganda“ konnten unter Berufung auf die Kontrollratsdirektive bestraft werden.

      Teils aus Rache für die Kriegsverbrechen und Massenmorde an Zivilisten durch Deutsche in der Sowjetunion, teils auch aus Angst und aus Unkenntnis der Strukturen des Deutschen Reiches gingen die NKWD-Leute der Befehle ungeachtet vielfach völlig willkürlich vor. Die „Operativen Gruppen“ des Geheimdienstes wiesen „ingenieurtechnisches Personal und Besitzer von Fabriken, Betrieben und Werkstätten, Personal örtlicher Behörden und Ministerien, Putzfrauen, Stenographinnen, Telephonographistinnen und Kuriere, die vor dem Krieg mit der UdSSR in der deutschen Armee und in paramilitärischen Organisationen gedient hatten, Leiter faschistischer Grundorganisationen (NSDAP), z. B. Kassierer und Spendensammler, über die kein belastendes Material vorliegt“, in die Lager ein, wie deren Leiter im August 1945 bemängeltexiii.

      Nach der Vereinigung von KPD und SPD zur SED kamen Sozialdemokraten hinzu. Wer immer sich der unbedingt sowjettreuen Linie der neuen Einheitspartei widersetzte, mußte befürchten, unter Berufung auf Direktive 38 aus dem öffentlichen Leben entfernt zu werden.

      Werner Schöne: „Sogar ehemalige KZ-Häftlinge waren im Internierungslager, Leute, die schon im Dritten Reich als Kommunisten eingesperrt waren.“

      Die Hilfspolizisten aus Seelow brachten Schöne zum NKWD nach Frankfurt (Oder). Der Geheimdienst verfügte auch hier über eine Villa, die „Gelbe Presse“. Das Haus in der heutigen Puschkinstraße war im Volksmund nach dem damaligen Straßennamen benannt worden. Von dort aus kam Schöne ins berüchtigte Internierungslager Ketschendorf bei Fürstenwalde/Spree, das sowjetische Speziallager Nr. 5.

      Das Internierungslager war die Arbeitersiedlung einer Fabrik, die im Mai 1945 einfach mit Stacheldraht umzäunt worden war. Es war überbevölkert. Die hygienischen Verhältnisse rangierten unter den schlechtesten im Vergleich mit anderen Lagernxiv; die Verpflegung reichte vielen Internierten nicht zum Leben. Die Menschen hausten in Kellerlöchern, kampierten auf Treppenabsätzen, mußten froh sein, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.

      Die Siedlung, die aus sechs Häusern mit je neun Wohnungen bestand, war im Durchschnitt ständig mit 6 200 Männern und Frauen belegt. Etwa 5 000 Menschen starben in Ketschendorf. Man verscharrte sie in der Nähe der Autobahn Berlin-Frankfurt (Oder) in Massengräbern, die unkenntlich gemacht wurden. Als die heutige Siedlung Fürstenwalde-Süd 1952 erweitert werden sollte, mußten unter der Aufsicht des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit 30 Lastwagenladungen Toter auf den Soldatenfriedhof Halbe im benachbarten Kreis Königs Wusterhausen gebracht werdenxv.

      Werner Schöne gehörte zu der Gefangenengruppe mit der höchsten Sterblichkeit. Von etwa 2 000 Jugendlichen, die in Ketschendorf interniert waren, überlebten nur die Hälfte. Im Februar 1947 wurde das Lager aufgelöst. Schöne, der dort bis Ende 1946, über ein Jahr lang, gefangen war: „Es mußte aufgelöst werden, sonst wäre keiner lebend mehr rausgekommen.“

      Schöne wurde nach Neubrandenburg ins Lager Fünfeichen gebracht, in dem die Nazis bis Kriegsende Kriegsgefangene gefangengehalten hatten. Die Sowjets hielten dort bis September 1948 zeitweise bis zu 12 500 Menschen festxvi.

      In Neubrandenburg, dem Speziallager Nr. 9, assistierte Schöne als „Läufer“ der Leiterin des nördlichen Lagerabschnitts. „Ich wurde eingekleidet wie ein General. Mit alter deutscher Fliegeruniform und Schlips.“ Neben den neuen Kleidern brachte ihm diese Arbeit auch bessere Verpflegung ein, und Schöne war in der Stabsbaracke untergebracht. „Ich mußte extra Russisch dafür lernen. Aber wer hätte da schon Nein gesagt.“ Die Behandlung in Neubrandenburg sei „relativ menschlich“ gewesen.

      1948 wurde auch dies Lager aufgelöst. Man brachte Schöne ins Speziallager Nr. 2 nach Buchenwald, in das ehemalige Konzentrationslager bei Weimar. Die Leitung war dieselbe wie in Ketschendorf, stellte er entsetzt fest. „Doch mittlerweile war alles viel organisierter.“ In Buchenwald wurden durchschnittlich zwischen 10 000 und 12 000 Menschen festgehalten.

      Internierten gegenüber wurde nicht der geringste Anschein von Rechtsstaatlichkeit gewahrt. Es gab nicht nur sehr oft keinen Prozeß, sondern auch keinerlei Information, wie lange die Gefangenschaft dauern sollte. Schöne konnte bis zum 25. Januar 1950, als er zwei Wochen vor der Auflösung des


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