Weiter geht's. Helmut Lauschke

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Weiter geht's - Helmut Lauschke


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durch den dichten Pulk wartender Menschen mit den Schweißgerüchen in Richtung Medikamentenausgabe gehen. Dr. Ferdinand sieht ihnen durch die geöffnete Pendeltür nach und bedauert, dass er der alten Frau nicht wirksamer helfen kann.

      Eine junge Frau wird auf der Trage in den Untersuchungsraum gefahren. Auf längeres Befragen durch die Schwester kommt heraus, dass die Frau von ihrem Mann verprügelt worden war. Die rechte Gesichtshälfte ist stark geschwollen. Das rechte Auge kann sie nicht öffnen. Beide Lider sind blutunterlaufen. Die Frau hat Schürfwunden am Hals und an den Armen und Händen. Der rechte Unterarm ist gebrochen. Die Frau macht einen verstörten, armseligen Eindruck. Sie wird mit dem Formular zum Röntgen gefahren. Als letzten Patienten vor der Mittagspause, die schon halb vorüber ist, sieht Ferdinand einen zehnjährigen Jungen, der vom Esel gefallen ist und mit dem linken Bein nicht auftreten kann. Auch er wird zum Röntgen geschickt, wohin ihn der Vater trägt.

      Am verspäteten Mittagstisch überkommt ihn die Fragwürdigkeit im Zeitenvergleich. Der Inhalt menschlicher Verantwortung ist verweht, irgendwohin, wo das Auge nicht hinkommt. Bildlich hat sich der Mensch den Arm abgerissen, der dem Mitmenschen so viel geholfen hat. Der Verlust der helfenden Mitmenschlichkeit ist den Augen abzulesen, denen das ansteckende Strahlen der Freude ebenso abhanden gekommen ist wie die Tiefe des Brunnens, aus dem die Tränen kommen, wenn der Mensch im Sturz seines Herzens trauert. Das menschliche Profil mit dem eingedrückten Relief des Lebens ist verflacht. Es ist das Erlebnis der Wüste, wo der Wind das Bodenrelief mit dicken Sandschichten zuweht.

      Nach diesem Abstecher verlässt Ferdinand den Speiseraum und macht sich auf den Weg zum ‘Outpatient department’. Im Vorbeigehen schaut er in die von vergilbten Tüchern verhängten Fenster des Flachbaus mit den Asbestwänden. Es sind kleine Wohnstellen mit je zwei Zimmern. Duschraum und Toilette haben sich zwei nebeneinander liegende Wohnstellen zu teilen. Finger von Erwachsenen und Kinderhände haben sich an den Scheiben abgedrückt. Neben den frischen Abdrücken gibt es die alten Abdrücke, die schon vor einem Jahr zu sehen waren. Beim Betreten des OPD schlägt ihm eine penetrante Schweißwolke ins Gesicht. Der Wartesaal ist vollgestopft. Die Menschen stehen und sitzen auf den Bänken und auf dem Boden. Es ist nicht erkennbar, dass Dr. Ferdinand vor der Mittagspause im Untersuchungsraum gearbeitet hat.

      Er betritt den Raum, in dem der Schweißgeruch wie eine schwere Wolke lastet. Die Luft ist heiß. Sie steht und drückt. Die Mutter hat ihr fünfjähriges Töchterchen auf dem Rücken. Sie legt die Tüte mit den Röntgenbildern auf den Tisch. Ferdinand zieht die Aufnahmen aus der Tüte und hält sie gegen das offene Fenster. Die Spitze des linken Innenknöchels ist abgerissen. Er geht mit Mutter und Tochter in den Gipsraum und gibt dem Mädchen die Spritze zur Kurznarkose. Er richtet die Fraktur ein und stellt das Fußgelenk in einem Fuß-Unterschenkelgips ruhig. Die Mutter assistiert, indem sie den Großzeh des Kindes senkrecht nach oben hält. Ferdinand geht in den Untersuchungsraum zurück, während die Mutter im Gipsraum bleibt, wo das Mädchen den Narkoserausch ausschläft.

      Die junge Frau, die von ihrem Mann so hart geschlagen worden war, dass ihr rechtes Auge zugeschwollen und die Lider blutunterlaufen sind, kommt auf der Trage vom Röntgen zurück. Der rechte Unterarm ist gebrochen. Die Achse der Fragmente ist geknickt. Der Anblick der Frau entsetzt, und Ferdinand verurteilt aufs Schärfste die rohe Gewalt, die an Frauen und Kindern verübt wird. Frauen und Mädchen werden vergewaltigt und geschlagen. Kinder werden misshandelt. Das hat es in dieser Scheußlichkeit und Zahl im System der weißen Apartheid nicht gegeben. Mord und Totschlag haben mit der Unabhängigkeit erschreckend zugenommen. Ferdinand richtet die Brüche des Unterarms und legt einen gepolsterten Armgips an.

      Eine alte Frau hat bei der Feldarbeit in einen Dornbusch gegriffen. Dr. Ferdinand entfernt im kleinen OP die Dornen aus den entzündeten Händen. Viele der Instrumente des ‘Wundsets’ in der Nierenschale haben durch Dampfsterilisationen über die vielen Jahre den Rost angesetzt. Pinzette und Klemmen sind verbogen, die Scherenblätter wackeln im Scharnier, und die Greifbacken des Nadelhalters sind abgenutzt. Dazu kommt, dass der OP-Tisch mit seinen Rostflecken längst ins Geschichtsmuseum der Chirurgie gehört. Die OP-Deckenlampe mit den zwei ausgebrannten von insgesamt fünf Birnen hängt schief und gleitet ständig weg. So ist eine Hand der Schwester damit beschäftigt, das Licht der Lampe aufs OP-Feld zu richten. Die abgebrochenen Dornenstücke sind entfernt. Der Verband wird angewickelt, und die Schwester gibt die Tetanus-Auffrischimpfung. Dann legt sie die Instrumente in die Nierenschale zurück, wischt das Blut vom OP-Tisch, knipst das Licht der OP-Lampe aus und verlässt mit dem gebrauchten Set das ‘OPD-theatre’.

      Im Untersuchungsraum stehen zwei Männer in Handschellen, die von vier Polizisten bewacht werden. Drei von ihnen tragen die braungraue Khakiuniform. Ferdinand nimmt seinen Stuhl am Tisch ein. Der Polizist in blauer Uniform bittet ihn, nach dem rechten Arm des einen und dem linken Unterschenkel des anderen Mannes zu sehen. Die Männer seien nach einem Raubüberfall auf eine Bank gefasst worden. Der Polizist löst die Handschelle beim ersten, als der auf dem Schemel sitzt. Er hat Hautschürfungen am rechten Unterarm, und das Handgelenk ist stark geschwollen. Ferdinand füllt das Röntgenformular aus, während der Polizist die Handschellen wieder anlegt. Der Mann wird von zwei Polizisten in Khakiuniform zur Röntgenabteilung geführt. Der Polizist in der blauen Uniform setzt den zweiten Mann auf den Schemel. Ihm lässt er die Handschellen an und fordert ihn auf, das linke Bein nach vorne zu strecken. Ferdinand schiebt dem Mann das angerissene, blutverschmierte Hosenbein nach oben. Hier sind Risswunden, die tief in die Wadenmuskulatur reichen. Es ist das Rissmuster der Stacheldrahtverletzung. Das Fußgelenk ist geschwollen. Der Mann klagt nicht über Schmerzen. Auch er wird zum Röntgen geschickt und von den zwei anderen Polizisten begleitet.

      Nun ist es der Vater, der seinen zehnjährigen Sohn auf dem Rücken hat und die Röntgentüte in der Hand hält. Die Aufnahmen bestätigen die Diagnose der Unterschenkelfraktur, die im Gipsraum gerichtet und in einem Beingips ruhiggestellt wird. Ferdinand dankt dem Vater für seine Mithilfe durch das Halten des Fußes während des Anlegens des Gipsverbandes. Der Vater nimmt den Jungen auf den Rücken und verlässt den Gipsraum. Er hat ein zufriedenes Gesicht, weil dem Jungen geholfen wurde und er an der Hilfe aktiv beteiligt war. Ein Vater, wie Kinder sich ihn wünschen: liebevoll und fürsorglich. So denkt es Ferdinand, als er den Gipsraum verlässt.

      Auf den Schemel setzt sich ein Mann, der so alt nicht ist. Das Hinsetzen fällt ihm schwer, denn er trägt rechts eine Oberschenkelprothese. Der Beinstumpf ist ringsum druckempfindlich. Der Mann ist ein PLAN-Kämpfer, der in den Jahren des Exils Maschinenbau in der damaligen Tschechoslowakei gelernt hat. Auf den Röntgenbildern sind die Sägeblattzeichen als Hinweis auf den bakteriell-entzündlichen Knochenfraß zu sehen. Ferdinand kreist die pathologischen Veränderungen am Knochenstumpf mit dem Kugelschreiber ein und erklärt das Problem. Der Mann ist mit der Stumpfrevision einverstanden und wird stationär aufgenommen.

      Vom Röntgen kommen die beiden ‘Bankmänner’ in Handschellen zurück. Sie werden von den Polizisten begleitet. Der Polizist in der blauen Uniform überreicht die Tüten mit den Röntgenbildern. Dem ersten wird im Gipsraum die handgelenksnahe Speichen-Ellenfraktur gerichtet und in einem Unterarmgips ruhiggestellt. Der Gips ist noch nicht trocken, da legt der kräftige Polizist in Khaki-Uniform die leere Handschelle um sein rechtes Handgelenk. Dem zweiten ‘Bankmann’ bleiben die Hände gefesselt. Ferdinand säubert die Risswunden am linken Unterschenkel, schneidet die Wundränder aus, vernäht die Wunde und wickelt den Verband an. Der Polizist betrachtet verärgert seine blaue Uniform, die einige Gipsspritzer abbekommen hat. Dr. Ferdinand gibt ihm den feuchten Lappen, damit er die Spritzer von der Hose abwischt. Das tut der Polizist mit linkischen Bewegungen.

      Die Nachtschicht hat die Spätschicht abgelöst. Ferdinand verlässt gegen sieben den Untersuchungsraum und geht noch einmal durch die Säle und zur Intensiv-Station, um nach den Frischoperierten und den Problempatienten zu sehen. Erschöpft macht er sich auf den Weg zur Wohnstelle und wünscht dem Pförtner am Tor eine gute Nacht. Er schaut zur Rezeption zurück, wo einst die Patienten und ihre Angehörigen das Nachtlager auf Pappen und Zeitungspapier herrichteten, wenn mit der Dämmerung die Sperrstunde einsetzte, die es den Menschen verbot, in ihre Dörfer zurückzukehren.

      Doch mit der Unabhängigkeit wurde die Sperrstunde dem Teufel hinterhergeschickt, die ein Bestandteil der Apartheidära war. Auch wurde das Vorrecht


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