Die Revolution der Bäume. H. C. Licht

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Die Revolution der Bäume - H. C. Licht


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gehabt, die Gemeinschaft an jeder Nuance ihrer Zeitreisen teilhaben zu lassen. Sie wollte unbedingt, bis ins minutiöse Detail hinein, verstanden werden, nichts durfte unklar oder gar im Dunkeln bleiben. Damals war sie noch erfüllt von jenem fanatischen Sendungsbewusstsein, unter dessen Einfluss sie sich des öfteren zu episch langen, leidenschaftlichen Monologen hinreißen ließ. Zu der Zeit meinte sie jeden x-beliebigen Pups besonders ausdrücklich erläutern zu müssen. Ein Zustand, der einem hohen Fieber glich und auf dem Irrglauben basierte, äußerst dringende Botschaften from outer space überbringen und ihre Zuhörerschaft partout von ihren jährlich wechselnden Meinungen und dementsprechend austauschbaren Argumenten überzeugen zu müssen.

      Jugendsünden, eine Lebensphase, die aus Schwarz und Weiß bestand, Abstufungen gab es keine. Ohne den Sinn des Lebens auch nur annähernd verstanden zu haben, wollte sie die Welt retten, und zwar möglichst auf die Schnelle. Der große Preis, den sie am Ende ihres irrational übertriebenen Engagements mit müden Zweigen entgegen nahm, war ein Zustand abgrundtiefer Erschöpfung. Damals befand sie sich, von den verkümmerten Wurzeln bis zur beinahe vollständig entlaubten Krone, nahe einem irreparablen Burnout.

      Tief in Gedanken an längst vergangene Zeiten versunken, schmunzelt die Eiche versonnen in sich hinein. Herrlich, dieses erhabene Gefühl, von einem geläuterten Standpunkt aus auf das eigene infantile Ringen um Bedeutung zurückblicken zu können. Ein wohliger Schauer selbstironischen Gekichers lässt ihren mächtigen Stamm erzittern. Und wieder antwortet das grüne Blätterdach mit zustimmendem Rascheln und feine Vibrationen wandern wellenförmig von den Wurzelspitzen hinauf bis zum höchsten Zweiglein.

      Heutzutage bedient sie sich einer anderen, wesentlich subtileren Strategie. Im Laufe von hundert Jahren intensiven Abwägens und Recherchierens hat sie begriffen, dass eine positive, lebensbejahende Botschaft zwar eine guter Ansatz ist, dieser allerdings als vergebliche Liebesmüh auf unfruchtbaren Boden fällt, wenn er nicht in kleinen, mundgerechten Häppchen serviert wird.

      Konsequenterweise kam sie zu dem Schluss, dass einen vorbildlichen Lehrer vor allem die Fähigkeit auszeichnet, komplexe Zusammenhänge auf das sinnvolle Minimum herunter zu brechen und anschließend das so extrahierte Wesentliche mit adäquaten Worten flüssig zu formulieren und gelassen zu artikulieren.

      Der eigentliche Kunstgriff erfolgreicher Kommunikation, ist der der Vereinfachung. Dabei verlässt die Eiche sich heutzutage ganz auf die erfahrene Stimme ihres Herzens, dessen mitfühlendes Wesen um die Notwendigkeit weiß, Botschaften artgerecht zu vermitteln, indem es Überflüssiges streicht und sich stattdessen vielsagend in Schweigen hüllt. Bewusst gesetzte Pausen vervollkommnen den Prozess der Rezeption, sie bringen den Verstand des Gegenübers zur Ruhe. In aller Stille kann die Message auf kleiner Flamme in den Köpfen der Zuhörer köcheln, bis sie gar ist.

      Insbesondere was die schwierige, von vielen Vorurteilen belastete, Völkerverständigung mit der Gattung des Homo Sapiens angeht, liegt die Würze in der Kürze. Anstatt den zumeist kritisch und skeptisch reagierenden Verstand der Menschen anzusprechen, vermittelt die Eiche ihre Anliegen, liebevoll verpackt in Form von Gute-Nacht-Liedern. Auf diese subtile Art und Weise lassen sich sogar brisante, schwer verdauliche Informationen erfolgreich an die Frau, beziehungsweise an den Mann bringen. Diese Methode hat die Eiche bei einem Studenten der Psychotherapie abgekupfert, der im Sommer manchmal im Schatten ihrer ausladenden Äste Zuflucht vor der Hitze sucht und dort für seine Prüfungen büffelt. Sie hat das erprobte Behandlungskonzept der Hypnose natürlich ein wenig zurechtgestutzt und ihren Anforderungen angepasst, sodass es nur noch entfernt an die ursprüngliche Verfahrensweise erinnert.

      Ihre etwas eigenwillige Auslegung dieser psychotherapeutischen Heiltechnik befindet sich zwar noch in der Testphase, scheint ganz gut zu funktionieren. Am nächsten Morgen wachen die Adressaten optimal tiefenentspannt auf, und die entsprechende Botschaft ist fest in ihren Köpfen verankert. Wie bei einem Ohrwurm, der im Radio in Dauerschleife läuft, möchten sie die vertraut wirkende Melodie am liebsten die ganze Zeit vor sich hin summen und haben längst vergessen, worum es im Hintergrund eigentlich geht und wo sie ihre neuen Denkansätze aufgeschnappt haben.

      Entscheidend bei dieser Vorgehensweise ist, dass während der Informationsübermittlung alle inneren Widerstände der Menschen unbemerkt umschifft werden können und es am Ende nicht mehr um den Ursprung der Idee, sondern nur noch um die Botschaft selbst geht. Die ursprüngliche Einheit von Quelle und Information ist ab diesem Punkt ohne Bedeutung, sie haben sich voneinander abgelöst.

      Die Eiche lässt ihren gelassenen, altersweisen Blick über ihr Publikum gleiten. Nur wenige sind von ihrem Kaliber, das Jungvolk ist eindeutig in der Überzahl. Abgesehen von ihren taufrischen, ansehnlichen Körpern und glatten Gesichtern, erkennt man sie an ihrem Hunger auf Sensationen, an der ungebrochenen Erlebniswut und der schier unstillbaren Neugier, die in ihren Augen glänzt. Jede noch so überflüssige Banalität ist als Ablenkung willkommen, Hauptsache, sie erweckt den Anschein, neu und unverbraucht zu sein und ihr Unterhaltungsfaktor stimmt.

      Na ja, wir waren alle mal jung, sinniert sie und sogleich steigen erquickende Erinnerungen an die gute, alte Zeit in ihr auf. Milde lächelnd beschließt sie deshalb, ihrer Gemeinde vorerst ihre Illusionen zu lassen. Es ist ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis sie sie verlieren werden. Denn die ernüchternde, schockierende Wahrheit über das sich auf Siebenmeilenstiefeln anbahnende Schicksal des Weihtaler Waldes und die mehr als ungewisse Zukunft ihres Lebensraumes, dieser zurzeit noch relativ intakten Insel des Glücks, erfahren sie schon noch früh genug.

      Kinder müssen sich spielerisch und durch die Spontanität unmittelbarer Erfahrungen entwickeln, und diese so lebenswichtigen Lernprozesse will ihnen die Eiche unter keinen Umständen vorenthalten.

      Das verhaltene Tuscheln, Scharren, Raunen und Wispern endet augenblicklich, als die Eiche in ihren wohlgesetzten Worten fortfährt.

      „Die feierliche Stille, die über dieser Szenerie lag, hat mich tief berührt. Sie verstärkte die außergewöhnliche Atmosphäre, die die Prozession umgab, eine verwirrende Mischung aus Hochzeitszeremonie und Beerdigungsritual. Kurz bevor die Frauen, Männer und Kinder in der alles überstrahlenden Sonne verschwanden, lag der Ausdruck purer Glückseligkeit in ihren Gesichtern. Das, was in den Augen eines außenstehenden Betrachters wie ein Akt der Auslöschung anmuten musste, sie schienen es keineswegs zu fürchten. Im Gegenteil, sie wirkten, als ob sie von einem heiligen Licht grenzenlosen Vertrauens erfüllt wären und sich maßlos auf die vor ihnen liegende Etappe der Reinkarnation freuten.

      Eine höhere, grenzenlos liebende Macht nimmt jedes einzelne Lebewesen an die Hand und führt es an einen besseren Ort, war der Gedanke, der mir bei diesem Anblick spontan in den Sinn kam.

      Nachdem ich Zeuge eines Wunder des Lebens, seiner Wiedergeburt, geworden war, kehrte ich in meine heimatlichen Gefilde zurück. Die Menschen, die ich unterwegs traf, wirkten sichtlich erleichtert, machten teilweise einen regelrecht erlösten Eindruck auf mich. Als ob sie jahrzehntelang unter der erstickenden Glocke eines bösen Fluchs gelebt hätten und diese nun wie eine Seifenblase zerplatzt wäre.“

      Mit einem im ganzen Wald deutlich vernehmbaren Stoßseufzer zieht sich die Eiche erschöpft in sich selbst und den kühlen Schatten ihres Blätterdachs zurück. Sie ist im Großen und Ganzen zufrieden mit der Wahl ihrer Worte und auch mit dem offenen Schluss der Geschichte. Den erzählerischen Rahmen ihres Reiseberichts hat sie ohnehin schon relativ weit gesteckt, es wäre sinnlos, den Wald mit allzu vielen irritierenden Details zu überfordern und die in ihm beherbergten großteils sehr naiven Geister in Unruhe zu versetzen.

      Was sie ihnen daher verschwiegen hat, ist der Teil der Reise, den sie absolut rätselhaft findet. Wobei sie sich eingestehen muss, dass sie sich selbst manchmal ein Rätsel ist. Insbesondere ihre schwer zu zügelnde Neugier empfindet sie als äußerst unangemessen. In ihrem fortgeschrittenem Alter sollte sie derartigen selbstsüchtigen Kindereien eigentlich längst entwachsen sein und sich nicht mehr von der Lust auf tolldreiste Abenteuer auf das Glatteis führen lassen.

      Dennoch, sie konnte einfach nicht widerstehen, zu groß war die Versuchung, den unvergleichlichen Duft eines gebrochenen Tabus zu schnuppern und zu spüren, wie das Adrenalin in jede Zelle schießt. Sensitive Sensationen, die unweigerlich eine deutliche Reaktion hervorrufen würden. Bis


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