Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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Schweigen dauerte ziemlich lange. Fürst Bagration, der offenbar nicht streng verfahren wollte, wußte nicht recht, was er sagen sollte; die übrigen wagten nicht, sich in das Gespräch einzumischen. Fürst Andrei warf einen schrägen Blick nach Tuschin hin, und seine Finger gerieten in nervöse Bewegung.

      »Euer Durchlaucht«, unterbrach Fürst Andrei das Schweigen mit seiner scharfen Stimme, »beliebten, mich zu der Batterie des Hauptmanns Tuschin zu senden. Ich war dort und habe zwei Drittel der Mannschaft und der Pferde verwundet oder getötet gefunden; zwei Geschütze waren zerschossen, und eine Bedeckungsmannschaft war nicht vorhanden.«

      Fürst Bagration und Tuschin blickten jetzt beide in gleicher Weise den mit zurückgehaltener Aufregung sprechenden Bolkonski starr an.

      »Und wenn Euer Durchlaucht mir gestatten, meine Meinung auszusprechen«, fuhr er fort, »so muß ich sagen, daß wir den glücklichen Ausgang dieses Tages in erster Linie dieser Batterie und der heldenhaften Standhaftigkeit des Hauptmanns Tuschin und seiner Leute zu verdanken haben.« Nach diesen Worten stand Fürst Andrei, ohne auf eine Antwort zu warten, sofort auf und trat vom Tisch weg.

      Fürst Bagration sah Tuschin an; er mochte augenscheinlich keinen Zweifel an der Richtigkeit von Bolkonskis so entschiedenem Urteil zum Ausdruck bringen, fühlte sich aber gleichzeitig außerstande, demselben vollen Glauben zu schenken; so neigte er denn den Kopf und sagte zu Tuschin, er könne gehen. Fürst Andrei ging hinter ihm her hinaus.

      »Ich danke Ihnen, danke Ihnen; Sie haben mir herausgeholfen, bester Herr«, sagte Tuschin zu ihm.

      Fürst Andrei sah Tuschin an und ging, ohne ein Wort zu sagen, von ihm weg. Er fühlte sich traurig und bedrückt. Alles dies war so sonderbar, so gar nicht dem ähnlich, was er gehofft hatte.

      »Wer sind diese Leute? Wozu sind sie hier? Was wollen sie? Und wann wird das alles ein Ende nehmen?« dachte Rostow, indem er nach den dunklen Gestalten hinblickte, die einander vor seinen Augen fortwährend ablösten. Der Schmerz im Arm wurde immer ärger. Die Müdigkeit wurde unwiderstehlich, vor den Augen hüpften ihm rote Ringe, und die Aufregung, in die ihn diese Stimmen und diese Gesichter versetzten, und das Gefühl der Verlassenheit flossen mit dem Gefühl des Schmerzes zu einer einzigen Empfindung zusammen. Und diese Menschen da, diese Soldaten, die verwundeten und die unverwundeten, diese Menschen da würgten ihn und lasteten auf ihm und drehten ihm die Sehnen heraus und verbrannten ihm das Fleisch in seinem gelähmten Arm und in seiner gelähmten Schulter. Um sich von ihnen zu befreien, schloß er die Augen.

      Für einen Augenblick verlor er das Bewußtsein der Wirklichkeit; aber in dieser kurzen Zeitspanne der Selbstvergessenheit träumte er von zahllosen Dingen: von seiner Mutter und ihrer großen, weißen Hand, von Sonjas schmächtigen Schultern, von Nataschas Augen und von ihrem Lachen, und von Denisow mit seiner eigentümlichen Aussprache und seinem Schnurrbart, und von Teljanin, und von der ganzen unangenehmen Geschichte, die er mit Teljanin und mit Bogdanowitsch gehabt hatte. Diese ganze Geschichte war ein und dasselbe wie dieser Soldat da mit der scharfen Stimme, und diese ganze Geschichte und dieser Soldat peinigten ihn furchtbar dadurch, daß sie seinen Arm hartnäckig festhielten und drückten und immer nach einer Seite zogen. Er versuchte, sich von ihnen freizumachen; aber sie wichen auch nicht um ein Haarbreit und nicht für eine Sekunde von seiner Schulter. Die Schulter würde ihm nicht weh tun, sie würde gesund sein, wenn die beiden nur nicht immer daran zögen; aber es war ihm unmöglich, sich von ihnen zu befreien.

      Er öffnete die Augen und blickte in die Höhe. Der schwarze Schleier der Nacht hing tief herab, und der Lichtschein der glimmenden Kohlen reichte nur wenige Fuß nach oben. In diesem Lichtschein flogen feine Schneestäubchen, die zur Erde sanken. Tuschin war nicht zurückgekehrt, ein Arzt nicht gekommen. Er war allein; nur ein kleiner Soldat saß jetzt nackt an der andern Seite des Feuers und wärmte seinen mageren, gelben Körper.

      »Niemand kümmert sich um mich!« dachte Rostow. »Niemand hilft mir, niemand hat mit mir Mitleid. Und doch war auch ich einmal zu Hause und war kräftig und vergnügt, und alle hatten mich gern.« Er seufzte, und mit dem Seufzer verband sich unwillkürlich ein Stöhnen.

      »Oh! Tut Ihnen etwas weh?« fragte der kleine Soldat, indem er sein Hemd über dem Feuer schüttelte; und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er, nachdem er sich geräuspert hatte, hinzu: »Wie viele, viele Menschen heute etwas abbekommen haben; schauderhaft!«

      Rostow hörte gar nicht, was der Soldat sagte. Er blickte nach den Schneeflocken, die über dem Feuer flatterten, und dachte an den russischen Winter mit dem warmen, hellen Haus, dem dichten Pelz, dem schnellen Schlitten, dem gesunden Körper und mit all der Liebe und Pflege, die er bei seiner Familie genossen hatte. »Warum bin ich hierhergegangen?« dachte er.

      Am andern Tag erneuerten die Franzosen den Angriff nicht, und die Überreste der Bagrationschen Abteilung vereinigten sich wieder mit der Armee Kutusows.

Dritter Teil

      I

      Seine Pläne sorgsam zu durchdenken, das lag nicht in der Art des Fürsten Wasili. Noch weniger war er darauf bedacht, anderen Leuten Übles zu tun, um selbst einen Vorteil zu erlangen. Er war eben nur ein Weltmann, der durch das Leben in den höheren Gesellschaftskreisen etwas erreicht hatte und dem es zur Gewohnheit geworden war, in dieser Weise etwas zu erreichen. In seinem Kopf bildeten sich fortwährend je nach den Umständen und je nachdem er mit diesem oder jenem in nähere Beziehungen kam, allerlei Pläne und Kombinationen, von denen er sich selbst nicht genauer Rechenschaft gab, die aber doch den ganzen Inhalt seines Daseins ausmachten. Und von solchen Plänen und Kombinationen waren in seinem Kopf nicht etwa nur einer oder zwei gleichzeitig im Gang, sondern Dutzende, von denen die einen in seinem Geist eben erst auftauchten, andere in der Ausführung begriffen waren und eine dritte Klasse sich bereits wieder in nichts auflöste. So zum Beispiel sagte er nicht etwa zu sich: »Dieser Mann besitzt jetzt großen Einfluß; daher muß ich mir sein Vertrauen und seine Freundschaft erwerben und mir durch seine Vermittlung die Auszahlung einer einmaligen Unterstützung erwirken«, oder: »Dieser Pierre ist reich; daher muß ich ihn dazu verleiten, meine Tochter zu heiraten, und mir von ihm die vierzigtausend Rubel leihen, die ich notwendig brauche.« Sondern die Sache ging so zu: er kam mit dem einflußreichen Mann in Berührung, und in demselben Augenblick flüsterte ihm sein Instinkt zu, daß dieser Mann ihm nützlich sein könne, und nun näherte Fürst Wasili sich ihm, und sobald sich eine Möglichkeit dazu bot, ohne alle Vorbereitungen, lediglich durch seinen Instinkt geleitet, schmeichelte er ihm, wurde mit ihm intim und sprach dann mit ihm von dem, was ihm am Herzen lag.

      Und ähnlich mit Pierre. Diesen hatte Fürst Wasili in Moskau unter seine Obhut genommen, hatte ihm die Ernennung zum Kammerjunker verschafft, was damals dem Rang eines Staatsrates gleichkam, und darauf bestanden, daß der junge Mann mit ihm zusammen nach Petersburg fuhr und in seinem Haus Wohnung nahm. In einer Art von Zerstreuung und Absichtslosigkeit und dabei doch mit der zweifellosen, instinktiven Sicherheit, daß er so handeln müsse, tat Fürst Wasili alles, was erforderlich war, um eine Heirat zwischen Pierre und seiner Tochter zustande zu bringen. Hätte Fürst Wasili seine Pläne im voraus sorgsam durchdacht, so wäre es um seine Harmlosigkeit und Unbefangenheit im Verkehr geschehen gewesen und er hätte sich nicht allen Leuten gegenüber, mochten sie nun über oder unter ihm stehen, so schlicht und natürlich benehmen können. Ein innerer Trieb zog ihn beständig zu den Leuten hin, die ihn an Einfluß oder an Reichtum übertrafen, und die Natur hatte ihn mit der seltenen Geschicklichkeit begabt, immer gerade den Augenblick zu ergreifen, wo es möglich und angebracht war, von den Leuten Vorteil zu ziehen.

      Als Pierre in so unerwarteter Weise ein reicher Mann und ein Graf Besuchow geworden war, fand er sich, nachdem er noch bis vor kurzem ganz für sich und ganz unbekümmert gelebt hatte, nun dermaßen von Menschen umringt und in Anspruch genommen, daß er nur noch im Bett die Möglichkeit hatte, mit seinen Gedanken allein zu sein. Er mußte Schriftstücke unterzeichnen und mit Gerichts- und Verwaltungsbehörden verhandeln, ohne daß er von dem Inhalt der Schriftstücke und dem Sinn der Verhandlungen einen klaren Begriff gehabt hätte, mußte nach diesem und jenem den Oberadministrator fragen, auf das in der Nähe von Moskau gelegene Gut fahren und eine Menge von Leuten empfangen, die früher nicht einmal von seiner Existenz etwas hatten wissen wollen, jetzt aber sich sehr gekränkt und


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