Das Heideprinzesschen. Eugenie Marlitt
Читать онлайн книгу.Männer blieben auch sofort wie auf militärisches Kommando stehen und wagten nicht, den Fuß weiter zu setzen. Nur Ilse wandte sich resolut um.
»Wir wollen zu Herrn von Sassen – ist's erlaubt, hier durchzugehen?« fragte sie höflich.
Es erfolgte keine Antwort; aber der Herr hatte jedenfalls mit der Hand zustimmend gewinkt, denn Ilse öffnete ohne Weiteres die Thür und ließ die Lastträger eintreten ... Diesmal mußte sie mich genau so, wie gestern Morgen auf dem Dierkhof, über die Schwelle schieben, denn ich stand wie versteinert ... Mein an das gleichförmige Graubraun und das ununterbrochenen Blütenrot der Heide gewöhntes Auge flog im ersten Augenblick völlig verständnislos über das Farbenmeer hin, das den weiten Plan da vor mir förmlich übergoß. Es war mir unmöglich, zu denken, daß diese tausendfarbig gemischten oder auch in scharf abgegrenzten Nüancen hinfließenden breiten Ströme Blumen, nichts als dicht aneinandergedrängte vielgestaltige Blumenkronen und Dolden sein könnten ... Jetzt erst begriff ich, wie menschliche Phantasie die Wunder der Märchenwelt hatte ersinnen mögen – wie eine ungeahnte einsame Zauberinsel schwamm dieses köstliche Blumenfeld inmitten der neuen Welt, die mir bis zu diesem Augenblicke so häßlich und graubestaubt erschienen war.
Neben meinen Füßen streckte sich ein Beet voll lilablauer Heliotropen hin; ihr starker Vanillenduft hing schwer in den Lüften und versetzte mich in eine Art von Rausch ... Vergessen waren die stauberfüllten heißen Straßen und die widerwärtigen Reiseeindrücke, vergessen der gräuliche Wachtparadenlärm, die höhnenden Gassenjungen und das Grauen vor der Hinterstube! Mein Hut saß nicht mehr wie festgemauert auf dem Kopfe – ich warf ihn hoch in die Luft.
»Ach, Ilse, ich möchte mich gleich mitten in die Blumen hineinwerfen, daß sie über mir zusammenschlügen,« jubelte ich auf.
»Ja, du wärst's imstande,« meinte sie trocken, fand es aber doch geraten, mich am Rockzipfel festzunehmen.
Das ununterbrochene Bienengesurr und das Rauschen eines fernen Gewässers ausgenommen, war es sehr still und einsam in dem Garten. Die Vögel hatten sich verstummend in das kühle Gebüsch zurückgezogen, und die Menschen hielten Mittagsrast. Nur ein ältlicher Mann, dem Arbeitskostüm nach ein Gärtner, trat aus einem Gewächshaus, als wir vorüberkamen, und zeigte den Trägern den nächsten Weg nach der »Karolinenlust«. Ilse dankte ihm.
»Schon recht, Madamchen!« sagte er mit einer eigentümlich sanften, gelassenen Stimme.
Das war zu viel für die grundehrliche Ilse.
»Sie müssen nicht denken, weil ich vielleicht einen hübschen Hut aufhabe, daß ich eine Dame sein will – ich bin aus der Heide, und mein Vater war ein Besenbinder,« sagte sie und ging weiter.
Wir kamen an einen Fluß, über den eine zierlich geschwungene Eisenbrücke führte. Er schnitt das ungeheure Blumenparterre ab; das jenseitige Ufer war mit dichtem Gebüsch bestanden, und wo es auseinanderriß, da sah man in das labende, grüne Düster unter dichtgescharten Baumgruppen hinein, auf sorgsam geschorene Rasenflächen und helle Kieswege.
Ich schrak zusammen und floh plötzlich hinter Ilse, als wir die Brücke überschritten hatten – ein Lachen scholl herüber, jenes harmonische Lachen, das ich vor vier Wochen am Hügel gehört hatte, und von welchem ich wußte, daß ich es nie bis an das Ende meiner Tage vergessen würde ... Trotzdem flüchtete ich, denn wo das Lachen, da waren ja auch die spöttischen Augen, vor denen ich mich entsetzlich fürchtete. Ilses breite, knochige Gestalt verdeckte meine kleine Person vollkommen; so rückten wir vorwärts durch dunkelschattige Alleen und kühle Boskette – laute Ausrufe, Gelächter und plaudernde Mädchenstimmen drangen immer deutlicher bis zu uns, und plötzlich sahen wir bunte Reifen über dem Kiesrund wirbeln, auf das wir eben heraustraten.
Einer der Reifen verirrte sich und flog in ein Boskett. Eine junge, zartgebaute Dame und ein schlanker Mann in hellem Sommeranzug verfolgten ihn mit hochgehobenen Armen und Stöcken und drangen tief in das Gebüsch ein, wo er verschwunden – der schlanke Mann war der junge Herr Claudius, und das Mädchen, das neben ihm hergelaufen mit den feinbeschuhten, flüchtigen Füßchen und dem offen wehenden, blonden Haar, erschien mir mit ihrem silberhellen Gelächter ganz unausstehlich, obgleich ich ihr Gesicht nicht einmal gesehen hatte ... Mir war seltsam zu Mute; ich grollte und wußte nicht weshalb, und atmete doch froh und erleichtert auf, weil ich nun vorüberschlüpfen konnte, ohne dem jungen Herrn begegnen zu müssen.
Ich lugte neben Ilse hervor und sah noch mehr junge Damen umherstehen, eine aber überragte sie alle, eine hohe, starkgegliederte Gestalt in weißem Kleide, über das sie ein feuerfarbenes, mit Gold gesticktes Jäckchen geworfen hatte ... Sie hatte etwas Kühnes in ihren Bewegungen, und doch auch wieder jene stolze Lässigkeit, die aus Kraftbewußtsein und großer innerer Sicherheit hervorgeht.
»Alle guten Geister!« rief sie in komischem Entsetzen und schlug die Hände zusammen, als Ilse, den Trägern voran, in ihren Gesichtskreis trat; dann brach sie rücksichtslos in ein mutwilliges Gelächter aus.
Ilse wandte sich verständnisvoll um und sah nach dem Bettenfrachtstück zurück, das ja so herausfordernd und lächerlich über dem Kopf des Trägers schaukelte.
Im Nu waren wir von den sämtlichen Damen umringt.
»O Herr Jesus, Leonore, was zerrst du mich denn immer und hängst mir am Rocke wie ein kleines Kind!« schalt Ilse unwillig; sie schüttelte mich ab und zog mich mit einem energischen Ruck an ihre Seite.
Wie schämte ich mich! In einer Hand hielt ich den Hut und in der anderen die große, weiße Halskrause, die sich, Gott weiß wie, von meinem Halse losgemacht hatte ... Hätte ich am Pranger stehen müssen, mein scheues Gefühl würde sich nicht mehr gekrümmt und gewunden haben, als jetzt unter allen diesen fremden, neugierigen Mädchenaugen!
»Ach, eine kleine Zigeunerin!« riefen zwei Stimmen auf einmal, als ich befangen den Kopf hob und die Augen aufschlug.
»Ei, warum nicht gar auch – ein Zigeunermädchen!« sagte Ilse tief beleidigt. »Es ist dem Herrn von Sassen sein leiblich Kind –«
»Wie, die Mumie hat auch Kinder?« unterbrach sie die große junge Dame überrascht, und um ihre roten Lippen zuckte es fortgesetzt in verhaltenem Unwillen. Die Anderen aber zogen sich ein wenig zurück und sahen mich auf einmal mit ganz anderen, ich möchte sagen, freundlich ehrerbietigen Blicken an.
In diesem Moment kam auch der junge Herr über den freien Platz her. Ich sah auf meine Schuhe, die ihre plumpen Spitzen keck über den hellen Kies hinstreckten, und unwillkürlich zog und zerrte ich an meinem schwarzen Rock, um ihn, wenn auch nur um einen halben Zoll, zu verlängern.
Der Herr warf den Reifen im Weiterschreiten hoch in die Luft und fing ihn stets mit einer sehr gewandten graziösen Bewegung wieder auf, so viel Mühe sich auch die junge Dame neben ihm geben mochte, das hübsche, bunte Ding mit ihren weißen Händen zu haschen ... Da fiel sein Blick auf mich – er stutzte und kniff die großen braunen Augen prüfend zusammen; dann kam er spornstreichs auf mich zu.
»Was, der Tausend – das ist ja das Heideprinzeßchen!« rief er erstaunt.
»Wer?« fragte die hochgewachsene junge Dame mit großen Augen.
»Ei, du weißt es ja, Charlotte – das Heideprinzeßchen! Ich habe dir doch von dem kleinen barfüßigen Wesen erzählt, das wie eine Eidechse durch die Heide schlüpfte – freilich eine Eidechse mit einem Prinzessinnenkrönchen!« Er lachte auf. »Wie in aller Welt kommt denn die kleine Perlenverkäuferin hierher?«
Die Rücksichtslosigkeit, mit der er in meiner Gegenwart mich kritisierte, und das unverhohlene Erstaunen des stolzen jungen Herrn über meine Anwesenheit in seinem Garten, schlugen den letzten Rest meines Selbstbewußtseins zu Boden; aber die Bezeichnung »Perlenverkäuferin« machte mir auch das Blut sieden.
»Es ist ja nicht wahr!« stieß ich heraus. »Ich habe Ihnen die Perlen nicht verkauft – Sie wissen doch, daß ich Ihre Thaler in den Sand geworfen habe!«
Charlotte lächelte und trat mit aufstrahlenden Augen rasch auf mich zu.
»Ach, wie reizend – sie ist stolz, die Kleine!« rief sie. Sie bog sich herab