Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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den Tee ins Arbeitszimmer zu bringen, und ging, indem er das kräftige Papiermesser spielend in der Hand bewegte, zu einem Lehnsessel, neben dem auf einem Tische eine Lampe brannte und ein französisches Buch über die Eugubinischen Inschriften lag, dessen Lektüre er begonnen hatte. Über dem Sessel hing in einem ovalen Goldrahmen ein Bild Annas, von einem berühmten Künstler vorzüglich ausgeführt. Alexei Alexandrowitsch betrachtete es. Die rätselhaften Augen blickten ihn spöttisch und keck an, wie an jenem letzten Abend, als er ihr Vorhaltungen gemacht hatte. Unerträglich keck und herausfordernd wirkte auf Alexei Alexandrowitsch der Anblick der von dem Künstler vortrefflich gemalten schwarzen Spitzen auf dem Kopfe sowie der Anblick des schwarzen Haars und der weißen, schönen Hand mit dem von Ringen bedeckten Goldfinger. Nachdem Alexei Alexandrowitsch das Bild etwa eine Minute lang angesehen hatte, schauerte er so zusammen, daß seine Lippen einen Laut des Unwillens hervorbrachten. Er wendete sich ab, setzte sich eilig in den Sessel und öffnete das Buch. Er versuchte zu lesen, vermochte aber nicht das Interesse für die Eugubinischen Inschriften wiederzugewinnen, das vorher bei ihm so lebendig gewesen war. Er blickte in das Buch hinein und dachte an ganz andere Dinge. Er dachte aber nicht an seine Frau, sondern an eine hemmende Schwierigkeit, die vor kurzem in seiner staatsmännischen Tätigkeit eingetreten war und ihn jetzt in höherem Grade als alle seine anderen dienstlichen Angelegenheiten in Anspruch nahm. Er fühlte, daß er jetzt tiefer als je mit seinem Verstande in diesen schwierigen Fall eindrang und daß in seinem Kopfe ein (das konnte er ohne Selbstüberhebung sagen) ausgezeichneter Gedanke in der Bildung begriffen war, der diese ganze Angelegenheit entwirren, ihn in seiner dienstlichen Laufbahn fördern, seine Feinde zu Boden schmettern und somit auch dem Staate den größten Nutzen bringen mußte. Sobald der Diener den Tee aufgetragen und das Zimmer wieder verlassen hatte, stand Alexei Alexandrowitsch auf und trat an seinen Schreibtisch. Nachdem er die Mappe mit den laufenden Angelegenheiten in die Mitte der Platte geschoben hatte, nahm er mit einem ganz leisen, selbstzufriedenen Lächeln einen Bleistift aus dem Ständer und vertiefte sich in die Lektüre eines von ihm eingeforderten umfangreichen und schwierigen Aktenstückes, das sich auf den gegenwärtigen Fall bezog. Der aber war folgender Art: Eine vermeintliche Eigentümlichkeit Alexei Alexandrowitschs in seiner staatsmännischen Tätigkeit, ein nach seiner Überzeugung ihm besonders eigener Charakterzug, den sich aber jeder hervorragende Beamte zuschreibt, ein Charakterzug, der, im Verein mit seinem hartnäckigen Ehrgeiz, seiner klugen Zurückhaltung, seiner Ehrenhaftigkeit und seinem Selbstvertrauen, ihm zu seiner glänzenden Laufbahn verholfen hatte, bestand in der Geringschätzung des amtlichen Aktenwesens, in dem Dringen auf Einschränkung des amtlichen Hin- und Herschreibens zwischen den Behörden, in der Absicht, nach Möglichkeit unmittelbar an den Kern einer jeden Frage heranzutreten, und in seiner Sparsamkeit. Nun hatte sich in der berühmten Kommission vom 2. Juni etwas Eigenartiges zugetragen: die Angelegenheit der Berieselung der Felder im Gouvernement Saraisk, die zum Dienstbereich des Ministeriums gehörte, in dem Alexei Alexandrowitsch arbeitete, und die allerdings ein krasses Beispiel unfruchtbarer Ausgaben und papierner Behandlungsweise bot, diese Angelegenheit war von einem andern Ministerium zur Sprache gebracht worden. Alexei Alexandrowitsch wußte, daß die tadelnde Kritik begründet war. Diese Berieselung der Felder im Gouvernement Saraisk war von dem Vorgänger seines Vorgängers eingerichtet worden. Und in der Tat, eine Menge Geld war für diese Sache bereits aufgewandt worden und wurde noch fortdauernd dafür aufgewandt, und zwar völlig ertraglos; es war klar, daß die ganze Sache zu nichts führen konnte. Alexei Alexandrowitsch hatte, als er in sein jetziges Amt eintrat, dies sofort erkannt und sich vorgenommen, die Sache in Angriff zu nehmen; aber in der ersten Zeit, wo er sich in seiner Stellung noch nicht hinreichend befestigt fühlte, hatte er bedacht, daß ein Eingreifen die Interessen gar zu vieler Leute verletzen würde und daher unklug sei; und später hatte er, stark mit anderen Dingen beschäftigt, diese Sache einfach vergessen. Sie ging wie all solche Sachen nach dem Beharrungsgesetze von selbst in demselben Geleise weiter. (Viele Leute hatten davon ihren Lebensunterhalt, so namentlich auch eine sehr moralische und musikalische Familie, deren sämtliche Töchter Saiteninstrumente spielten. Alexei Alexandrowitsch kannte diese Familie und war Brautvater bei einer der älteren Töchter gewesen.) Daß ein feindliches Ministerium diese Angelegenheit aufrührte, betrachtete Alexei Alexandrowitsch als eine wenig ehrenhafte Handlungsweise, da es in jedem Ministerium noch ganz andere Sachen gebe, an denen dennoch aus einer Art von dienstlichem Anstandsgefühl niemand rühre. Da man ihm aber nun einmal den Fehdehandschuh hingeworfen hatte, so hatte er ihn kühn aufgenommen und die Einsetzung einer besonderen Kommission verlangt zum Zwecke des Studiums und der Revision der Arbeiten der Kommission für Berieselung der Felder im Gouvernement Saraisk; aber zur Vergeltung hatte er nun auch seinerseits diesen Herren nichts durchgehen lassen. Er hatte auch noch die Einsetzung einer besonderen Kommission in Sachen der Verwaltungseinrichtungen bei den kleinen Volksstämmen nichtrussischer Nationalität verlangt. Diese Angelegenheit der Verwaltungseinrichtungen der Fremdvölker war zufällig in der Kommission vom 2. Juni zur Sprache gekommen, und Alexei Alexandrowitsch hatte mit allem Nachdruck betont, daß diese Angelegenheit bei der bedauernswerten Lage der Fremdvölker schlechterdings keinen Aufschub dulde. In der Komiteesitzung hatte diese Angelegenheit die Veranlassung zu einem scharfen Wortwechsel zwischen mehreren Ministerien gegeben. Das gegen Alexei Alexandrowitsch feindlich gesinnte Ministerium hatte darauf den Beweis geführt, daß die Fremdvölker sich in einem geradezu blühenden Zustande befänden und daß die vorgeschlagene Umgestaltung der Verwaltungseinrichtungen diesen blühenden Zustand möglicherweise vernichten könne; wenn aber wirklich etwas nicht in guter Ordnung sei, so komme das lediglich daher, daß Alexei Alexandrowitschs Ministerium die durch das Gesetz vorgeschriebenen Maßregeln nicht zur Anwendung gebracht habe. Jetzt also beabsichtigte Alexei Alexandrowitsch folgendes zu fordern; erstens, es solle eine neue Kommission eingesetzt werden mit dem Auftrage, den Zustand der Fremdvölker an Ort und Stelle zu untersuchen; zweitens, wenn es sich erweise, daß die Lage der Fremdvölker tatsächlich eine solche sei, wie sie nach den in den Händen des Komitees befindlichen amtlichen Unterlagen erscheine, so solle noch eine andere, neue, wissenschaftliche Kommission gebildet werden zur Untersuchung der Ursachen dieses unerfreulichen Zustandes der Fremdvölker, und zwar von folgenden Gesichtspunkten aus: a) vom politischen, b) vom administrativen, c) vom ökonomischen, d) vom ethnographischen, e) vom materiellen und f) vom religiösen; drittens, es solle dem feindlichen Ministerium aufgegeben werden, einen Bericht vorzulegen über die Maßregeln, die dieses Ministerium während der letzten zehn Jahre zur Verhütung der ungünstigen Verhältnisse getroffen habe, in denen sich die Fremdvölker jetzt befänden; und endlich viertens, das Ministerium solle zu einer Erklärung darüber aufgefordert werden, weshalb es, wie sich aus den dem Komitee zugegangenen Berichten unter Nr. 17015 und Nr. 18308 vom 5. Dezember 1863 und vom 7. Juni 1864 ergebe, dem Sinne des organischen Grundgesetzes, Band ... Artikel 18 und Artikel 36 Anmerkung, direkt zuwidergehandelt habe. Die Röte lebhafter Erregung überzog Alexei Alexandrowitschs Gesicht, als er sich schnell eine kurze Übersicht dieser Gedanken niederschrieb. Nachdem er einen Bogen vollgeschrieben hatte, stand er auf und klingelte; dann schrieb er einen Zettel und schickte ihn an den Subdirektor, um sich die Auskünfte zu verschaffen, deren er noch bedurfte. Nun stand er wieder auf, ging im Zimmer auf und ab, blickte nochmals nach dem Bild, zog die Brauen zusammen und lächelte geringschätzig. Darauf las er noch ein Weilchen in dem Buche über die Eugubinischen Inschriften, für die er wieder Interesse gewann. Um elf Uhr ging er schlafen, und als er, im Bett liegend, sich den Vorfall mit seiner Frau ins Gedächtnis zurückrief, da erschien er ihm gar nicht mehr in so trübem Lichte.

      15

      Anna hatte zwar hartnäckig und erregt widersprochen, als Wronski ihr gesagt hatte, daß ihre Lage auf die Dauer unmöglich sei; aber in der Tiefe ihrer Seele hatte doch auch sie ihre Lage für unwahrhaft und unehrenhaft gehalten und von ganzem Herzen gewünscht, sie zu ändern. Als sie dann mit ihrem Manne vom Rennen nach Hause fuhr, hatte sie ihm in einem Augenblicke der Aufwallung alles gesagt und war trotz des Schmerzes, den sie dabei empfunden hatte, froh gewesen, es getan zu haben. Nachdem dann ihr Mann sie allein gelassen, hatte sie sich gesagt, sie sei froh, daß jetzt alles ins klare komme und wenigstens die Lüge und Verstellung aufhöre. Es war ihr als zweifellos erschienen, daß jetzt ihre Lage für immer geregelt werden würde. Sie hatte sich gesagt, diese neue Lage könne ja möglicherweise übel sein; aber sie werde doch geregelt sein und frei von Unklarheit und Lüge. Der Schmerz, den sie sich und ihrem Mann dadurch bereitet habe, daß sie so offen gesprochen habe, werde


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