Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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Tag, Wasili«, sagte er, als er, mit schief aufgesetztem Hute den Seitengang entlanggehend, einen ihm bekannten Kellner traf. »Du hast dir ja einen Backenbart stehenlassen. Herr Ljewin wohnt in Nummer sieben, nicht wahr? Bitte, führe mich hin! Und dann erkundige dich, ob Graf Anitschkin (das war der neue Vorgesetzte) Besuch annimmt.«

      »Zu Befehl!« antwortete Wasili lächelnd. »Sie haben uns lange nicht die Ehre gegeben.«

      »Ich war gestern hier; aber ich bin durch das andere Tor gekommen. Das ist Nummer sieben?«

      Ljewin stand mit einem Bauern aus Twer mitten im Zimmer und maß mit einer Elle ein frisch abgezogenes Bärenfell aus, als Stepan Arkadjewitsch eintrat.

      »Ah, habt ihr den geschossen?« rief Stepan Arkadjewitsch. »Ein prächtiges Stück! Wohl eine Bärin? Guten Tag, Archip!«

      Er drückte dem Bauern die Hand und setzte sich, ohne Überzieher und Hut abzulegen, auf einen Stuhl.

      »Aber so lege doch ab und bleib ein Weilchen hier!« sagte Ljewin, indem er ihm den Hut vom Kopfe nahm.

      »Nein, ich habe keine Zeit; ich bin nur auf eine Sekunde hergekommen«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. Er schlug den Überzieher nur auseinander; nachher aber zog er ihn doch aus, blieb eine ganze Stunde da und unterhielt sich mit Ljewin über die Jagd und über seine eigenen geheimsten Herzensangelegenheiten. »Nun sage doch mal, was hast du denn im Auslande gemacht? Wo bist du eigentlich gewesen?« fragte er; der Bauer war inzwischen weggegangen.

      »Ich bin in Deutschland, in Preußen, in Frankreich und in England gewesen, aber nicht in den Hauptstädten, sondern in den Fabrikorten, und habe viel Neues gesehen. Ich freue mich, daß ich dagewesen bin.«

      »Ja, ich kenne deine Pläne über die Organisation der Arbeiter.«

      »Darum handelt es sich ganz und gar nicht; in Rußland kann es keine Arbeiterfrage geben. In Rußland dreht sich die Frage nur um das Verhältnis der arbeitenden Bevölkerung zum Grund und Boden. Diese Frage besteht ja auch dort; aber dort handelt es sich um eine Besserung verdorbener Verhältnisse; bei uns hingegen ...«

      Stepan Arkadjewitsch hörte ihm aufmerksam zu.

      »Ja, ja«, sagte er. »Sehr möglich, daß du recht hast. Aber ich freue mich, daß du so munter und unternehmungslustig bist: du fährst auf die Bärenjagd und arbeitest und bist mit Leib und Seele bei dem, was du vorhast. Und da hat mir der junge Schtscherbazki gesagt (der hat dich ja getroffen), du wärest in gedrückter Stimmung und redetest immer nur vom Tode ...«

      »Nun ja, ich denke auch fortwährend an den Tod«, versetzte Ljewin. »Es ist wahr, daß uns der Tod nahe ist und daß das ganze Treiben hier Torheit ist. Ich muß dir aufrichtig sagen: ich lege ja auf meine Pläne und auf meine Arbeit einen hohen Wert; aber wenn man's ernsthaft überlegt, so ist doch diese unsere ganze Menschenwelt nur so eine Art Schimmelüberzug, der sich auf einem kleinwinzigen Planeten gebildet hat. Und da bilden wir uns ein, es könne bei uns etwas Großes geben, große Pläne, große Taten! All das sind nur Sandkörnchen.«

      »Brüderchen, diese Erkenntnis ist so alt wie die Welt.«

      »Gewiß; aber weißt du, wenn man das so recht klar erfaßt hat, so erscheint einem auf einmal alles so klein und nichtig. Wenn man einsieht, daß man bald sterben muß und nichts von einem übrigbleibt, dann kommt einem alles so klein und nichtig vor! Ich halte ja meine Pläne für etwas sehr Wichtiges; aber es stellt sich dann doch heraus, daß sie, selbst wenn ich sie durchführen könnte, etwas ebenso Geringfügiges und Unbedeutendes sind wie die Einkreisung und Erlegung dieser Bärin. Und so verbringt man sein Leben, indem man sich durch Jagd und Arbeit zerstreut, um nur nicht an den Tod zu denken.«

      Stepan Arkadjewitsch lächelte in einer feinen, freundlichen Weise, während er das mit anhörte.

      »Na, selbstverständlich! Da bist du ja ganz meiner Meinung geworden; besinnst du dich noch, wie du über mich herfielst, weil ich eingestand, daß ich im Leben mir möglichst viel Genuß zu verschaffen suche? Also sei nicht so streng, du Moralprediger!«

      »Nein, es gibt doch auch wahrhaft Gutes im Leben ...« Ljewin geriet in Verwirrung. »Aber ich weiß darüber nichts. Ich weiß nur, daß wir bald sterben werden.«

      »Aber warum denn bald?«

      »Und, weißt du, das Leben hat ja zwar weniger Reiz, wenn man an den Tod denkt, aber man wird doch ruhiger.«

      »Im Gegenteil, zu guter Letzt wird es immer lustiger. Na, aber nun muß ich gehen«, sagte Stepan Arkadjewitsch und stand zum zehnten Male auf.

      »Aber nein, so bleib doch noch ein bißchen hier!« bat Ljewin und hielt ihn fest. »Wann werden wir uns denn nun wiedersehen? Ich reise morgen ab.«

      »Ich bin aber gut! Und bin besonders deshalb hergekommen! Du mußt unter allen Umständen heute zu uns zum Mittagessen kommen. Dein Bruder kommt auch, und auch mein Schwager Karenin kommt.«

      »Ist er denn hier?« erwiderte Ljewin und wollte schon nach Kitty fragen. Er hatte gehört, daß sie zu Anfang des Winters in Petersburg bei ihrer anderen Schwester, der Frau eines Diplomaten, zu Besuch gewesen war, wußte aber nicht, ob sie von dort schon zurückgekehrt sei oder nicht. Er besann sich jedoch eines andern und fragte nicht. ›Ob sie heute da ist oder nicht, mir kann es gleich sein‹, sagte er sich.

      »Also du kommst?«

      »Ja, natürlich.«

      »Also um fünf Uhr, im Oberrock.«

      Stepan Arkadjewitsch stand auf und ging ein Stockwerk tiefer zu seinem neuen Vorgesetzten. Sein Gefühl hatte ihn nicht betrogen. Der schreckliche neue Vorgesetzte erwies sich als ein sehr umgänglicher Mann; Stepan Arkadjewitsch frühstückte mit ihm und blieb dabei so lange sitzen, daß er erst zwischen drei und vier Uhr zu Alexei Alexandrowitsch kam.

      8

      Nachdem Alexei Alexandrowitsch vom Meßgottesdienste zurückgekehrt war, hatte er den ganzen Vormittag zu Hause zugebracht. An diesem Vormittage hatte er zweierlei zu tun. Erstens mußte er eine Abordnung der Fremdvölker, die sich nach Petersburg begeben wollte und sich augenblicklich in Moskau befand, empfangen und unterweisen; zweitens mußte er dem Rechtsanwalte den in Aussicht gestellten Brief schreiben. Obgleich die Abordnung auf Alexei Alexandrowitschs eigene Anregung hin nach Petersburg gerufen worden war, konnte ihre Ankunft dort doch mancherlei mißliche Folgen haben, ja sogar gefährlich werden, und Alexei Alexandrowitsch war sehr froh, daß er sie noch in Moskau angetroffen hatte. Die Mitglieder dieser Abordnung hatten nicht die geringste Vorstellung von der Rolle, die sie zu spielen, und von den Pflichten, die sie zu erfüllen hatten. Sie hatten die naive Anschauung, daß ihre ganze Aufgabe darin bestände, ihre Nöte und die wirkliche Lage der Dinge darzulegen und die Regierung um Hilfe zu bitten, und konnten ganz und gar nicht begreifen, daß einige ihrer Mitteilungen und Forderungen zur Unterstützung der feindlichen Partei dienen und somit die ganze Sache verderben würden. Alexei Alexandrowitsch mühte sich lange mit ihnen ab. Er schrieb ihnen für das, was sie sagen sollten, ein Programm auf, innerhalb dessen sie sich zu halten hatten, und schrieb, nachdem er die Leute entlassen hatte, noch einige Briefe nach Petersburg, um die Abordnung dort auf dem richtigen Wege zu halten. Eine sehr wesentliche Hilfe in dieser Angelegenheit erwartete er von der Gräfin Lydia Iwanowna. Sie galt als Sachverständige in Abordnungsangelegenheiten, und niemand verstand es so gut wie sie, eine solche Sache ordentlich in Gang zu bringen und die Abgeordneten zweckmäßig zu führen. Nach Erledigung dieses Geschäftes schrieb Alexei Alexandrowitsch auch noch den Brief an den Rechtsanwalt. Ohne auch nur im geringsten zu schwanken, gab er ihm Vollmacht, zu verfahren, wie er es für nützlich halten werde. In diesen Brief legte er drei Briefe Wronskis an Anna ein, die sich in der von ihm beschlagnahmten Briefmappe befunden hatten.

      Seit Alexei Alexandrowitsch von zu Hause mit der Absicht weggereist war, nicht wieder zu seiner Frau zurückzukehren, und seit er den Besuch bei dem Rechtsanwalt gemacht und so wenigstens einem einzigen Menschen von seiner Absicht Mitteilung gemacht hatte und namentlich seit er diese Sache des wirklichen Lebens


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