Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
Читать онлайн книгу.sie wolle zum Abendessen dableiben. Alexei Alexandrowitsch verabschiedete sich und ging weg.
Der Kutscher der Frau Karenina, ein alter dicker Tatar in glanzledernem Mantel, hielt an der Ausfahrt nur mit Mühe den linken der beiden Grauen zurück, der frierend sich bäumte. Der Diener stand an dem geöffneten Wagenschlag. Der Pförtner stand gleichfalls an der Außentür, die Hand an der Klinke. Anna Arkadjewna nestelte mit ihrer kleinen, flinken Hand den Spitzenbesatz ihres Kleiderärmels von einem Haken ihres Pelzes los und hörte mit vorgebeugtem Kopf voll Entzücken auf die Worte des sie hinausbegleitenden Wronski.
»Sie haben allerdings nichts gesagt, und ich verlange auch nichts«, sagte er; »aber Sie wissen, daß ich Freundschaft nicht brauchen kann. Für mich ist nur ein Glück im Leben möglich, eben jenes Wort, das Sie so gar nicht leiden mögen, – ja, die Liebe.«
»Die Liebe«, wiederholte sie langsam, wie aus tiefster Brust, und fügte plötzlich in dem Augenblicke, da sie ihre Spitzen los bekommen hatte, hinzu: »Ich mag dieses Wort deshalb nicht leiden, weil es nach meiner Auffassung gar zuviel bedeutet, weit mehr, als Sie sich vorstellen können.« Sie blickte ihm voll ins Gesicht: »Auf Wiedersehen!«
Sie reichte ihm die Hand, ging mit schnellem, elastischem Schritte an dem Pförtner vorbei und verschwand im Wagen.
Ihren Blick und die Berührung ihrer Hand empfand er wie ein sengendes Feuer. Er küßte seine eigene Hand an der Stelle, wo Anna sie berührt hatte, und fuhr hochbeglückt nach Hause in dem Bewußtsein, daß er an dem heutigen Abende größere Fortschritte in der Richtung auf sein Ziel zu gemacht hatte als in den letzten beiden Monaten.
8
Alexei Alexandrowitsch hatte nichts Auffälliges und Unschickliches darin gefunden, daß seine Frau mit Wronski an einem besonderen Tisch gesessen und mit ihm ein lebhaftes Gespräch über irgendwelchen Gegenstand geführt hatte; aber er hatte gemerkt, daß dies den anderen Anwesenden eigentümlich und unpassend erschienen war, und darum erschien es ihm gleichfalls unpassend. Er kam zu der Überzeugung, daß er mit seiner Frau darüber sprechen müsse.
Nach Hause zurückgekehrt, ging er, wie er das regelmäßig tat, in sein Arbeitszimmer und setzte sich in seinen Lehnstuhl, schlug ein Buch über das Papsttum an der Stelle auf, wo das Papiermesser eingelegt war, und las wie gewöhnlich bis ein Uhr, aber ab und zu fuhr er sich mit der Hand über die hohe Stirn und schüttelte mit dem Kopfe, wie wenn er etwas wegscheuchen wollte. Zur gewohnten Stunde stand er auf und machte seine Nachttoilette. Anna Arkadjewna war noch nicht heimgekehrt. Mit dem Buche unter dem Arme ging er hinauf; aber während seine Gedanken und Überlegungen sich sonst um dienstliche Angelegenheiten zu drehen pflegten, beschäftigten sie sich am heutigen Abend mit seiner Frau und mit irgend etwas Unangenehmem, das sich mit ihr zugetragen hatte. Gegen seine Gewohnheit legte er sich nicht zu Bett, sondern begann, die Hände mit zusammengehakten Fingern auf dem Rücken haltend, durch die Zimmerreihe hin und her zu wandern. Er konnte sich nicht hinlegen, da er fühlte, daß er vorher unbedingt diesen neu aufgetauchten Umstand nach allen Richtungen durchdenken müsse.
Als Alexei Alexandrowitsch bei sich zu dem Entschlusse gelangt war, mit seiner Frau zu reden, war ihm dies als etwas sehr Leichtes und Einfaches erschienen; aber jetzt, da er diesen neu aufgetauchten Umstand zu durchdenken begann, erschien er ihm als etwas recht Verwickeltes und Schwieriges.
Alexei Alexandrowitsch war nicht eifersüchtig. Eifersucht war nach seiner Anschauung eine Beleidigung für die Gattin; zur Gattin mußte man Vertrauen haben. Warum er Vertrauen haben müsse, das heißt die volle Zuversicht haben müsse, daß seine junge Frau ihn immer lieben werde, das hatte er sich nie gefragt; aber er empfand nie Mißtrauen, daher hatte er eben Vertrauen und sagte sich, daß man es haben müsse. Jetzt nun war seine Überzeugung, daß Eifersucht ein unwürdiges Gefühl sei und daß man Vertrauen haben müsse, allerdings in keiner Weise erschüttert, aber er hatte doch das Gefühl, daß er etwas Unlogischem und Unvernünftigem gegenüberstehe, und wußte nicht, wie er sich zu verhalten habe. Alexei Alexandrowitsch stand jetzt dem wirklichen Leben gegenüber, stand der Möglichkeit gegenüber, daß seine Frau noch jemand anderes als ihn liebe, und dies erschien ihm ganz sinnlos und unbegreiflich, weil es eben das wirkliche Leben war. Von jungen Jahren an hatte Alexei Alexandrowitsch in der Amtsluft gelebt und gearbeitet und es dort immer nur mit einem matten Abglanze des Lebens zu tun gehabt. Und jedesmal, wenn er mit dem wirklichen Leben zusammengestoßen war, war er ihm ausgewichen. Jetzt machte er ein Gefühl durch, ähnlich dem, wie es wohl jemand haben würde, der ruhig auf einer Brücke über einem Abgrunde dahinwandert und auf einmal sieht, daß vor seinen Füßen die Brücke abgebrochen ist und daß dort ein tiefer Schlund gähnt. Dieser tiefe Schlund war das wirkliche Leben, die Brücke jenes künstliche Leben, das Alexei Alexandrowitsch bis jetzt gelebt hatte. Zum ersten Male kam ihm ein Gedanke an die Möglichkeit, daß seine Frau einen anderen lieben könne, und er erschrak tief vor dieser Möglichkeit.
Er kleidete sich nicht aus, sondern ging mit seinem gleichmäßigen Schritte hin und her, über den schallenden Parkettfußboden des Eßzimmers, das nur durch eine Lampe erleuchtet war, über den Teppich des dunklen Salons, wo ein Lichtschimmer nur von seinem eigenen großen Bilde widergespiegelt wurde, das, erst kürzlich angefertigt, über dem Sofa hing, und durch das Zimmer seiner Frau, wo zwei Kerzen brannten und ihr Licht über die Bilder ihrer Verwandten und Freundinnen und über die hübschen, ihm längst wohlbekannten Sächelchen auf ihrem Schreibtische verbreiteten. Durch ihr Zimmer ging er bis an die Tür des Schlafzimmers und kehrte dann wieder um.
Bei jeder Wiederholung dieser Wanderung, und zwar meistenteils auf dem Parkett des erleuchteten Eßzimmers, blieb er stehen und sagte zu sich selbst: ›Ja, es ist unumgänglich nötig, einen Entschluß zu fassen und der Sache ein Ende zu machen; ich muß ihr meine Ansicht darüber und meinen Entschluß mitteilen.‹ Er wandte sich um und ging zurück. ›Aber was soll ich ihr denn eigentlich sagen? Was für einen Entschluß soll ich ihr mitteilen?‹ fragte er sich im Salon und fand darauf keine Antwort. ›Aber schließlich‹, fragte er sich, ehe er in das Zimmer seiner Frau einbog, ›was ist denn eigentlich geschehen? Nichts. Sie hat lange mit ihm gesprochen. Was ist dabei? Warum soll nicht eine Dame in Gesellschaft mit jemandem reden dürfen? Und deswegen eifersüchtig zu sein, das heißt sie und sich selbst erniedrigen‹, sagte er zu sich, während er in ihr Zimmer eintrat. Aber diese Erwägung, die früher bei ihm so stark ins Gewicht gefallen war, hatte jetzt für ihn gar kein Gewicht und gar keine Bedeutung mehr. An der Tür des Schlafzimmers wandte er sich wieder um nach dem Salon zu; aber kaum kam er wieder in den dunklen Salon hinein, so war es, als ob ihm eine Stimme zuflüstere, die Sache verhalte sich doch anders, und wenn es anderen Leuten aufgefallen sei, so folge daraus, daß da doch etwas vorliege. Und dann im Eßzimmer sagte er wieder zu sich: ›Ja, es ist unumgänglich nötig, einen Entschluß zu fassen und der Sache ein Ende zu machen; ich muß ihr meine Ansicht darüber sagen.‹ Und wieder im Salon, ehe er in Annas Zimmer einbog, fragte er sich: ›Welchen Entschluß soll ich denn fassen?‹ Und dann fragte er sich: ›Was ist denn geschehen?‹ und antwortete darauf: ›Nichts‹, und erinnerte sich daran, daß die Eifersucht ein Gefühl sei, durch das man seine Frau herabwürdige; aber wenn er dann wieder im Salon war, kam er doch zu der Überzeugung, daß irgend etwas vorgefallen sei. Seine Gedanken bewegten sich, ebenso wie sein Körper, in einem geschlossenen Kreise, ohne auf etwas Neues zu stoßen. Er bemerkte das, rieb sich die Stirn und setzte sich in Annas Zimmer.
Während er dort auf ihren Tisch blickte, auf dem ein Löscher von Malachit und ein angefangener Brief lagen, nahmen seine Gedanken plötzlich eine andere Richtung. Er begann an Anna selbst zu denken und daran, was sie wohl denken und empfinden möge. Zum ersten Male stellte er sich ihr persönliches Leben, ihre Gedanken, ihre Wünsche vor Augen, und der Gedanke, daß sie ein eigenes, besonderes Leben haben könne und müsse, erschien ihm so furchtbar, daß er sich beeilte, ihn wieder zu verscheuchen. Das war eben jener Abgrund, in den hineinzublicken ihn graute. Sich in die Gedanken und Gefühle eines anderen Wesens zu versetzen, diese geistige Tätigkeit war ihm völlig fremd. Er hielt die geistige Tätigkeit für ein schädliches und gefährliches Spiel der Phantasie.
›Und das Peinlichste ist‹, dachte er, ›daß diese sinnlose Aufregung gerade jetzt auf mich einstürmt, gerade jetzt,