Ein feines Haus. Emile Zola

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Ein feines Haus - Emile Zola


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daß er hinter ihr stand und darauf wartete, daß sie den Treppenflur frei machte, verlor sie völlig den Kopf, und ihre Hände zitterten.

      »Aber Madame, warum machen Sie sich diese ganze Mühe?« fragte er schließlich. »Es wäre doch einfacher, diesen Wagen hinten im Gang hinter meine Tür zu stellen.«

      Sie antwortete nicht in ihrer übermäßigen Schüchternheit, die sie in hockender Stellung verharren ließ, weil sie nicht die Kraft hatte, sich wieder aufzurichten; und er sah, wie unter dem Halbschleier ihres Huts glühende Röte den Nacken und die Ohren überflutete. Da ließ er nicht locker.

      »Ich schwöre Ihnen, Madame, es würde mich keineswegs stören.« Ohne abzuwarten, nahm er den Wagen, trug ihn ganz selbstverständlich davon.

      Sie mußte ihm folgen; aber sie blieb so verwirrt, so verstört über dieses in ihrem platten Alltagsleben recht beachtliche Erlebnis, daß sie bei seinem Tun zusah und nichts als Bruchstücke von gestammelten Sätzen hervorbrachte: »Mein Gott, das macht doch zuviel Mühe, mein Herr ... Ich bin beschämt, Sie werden sich den Platz verstellen ... Mein Mann wird sehr froh sein ...«

      Und sie kehrte in ihre Wohnung zurück; von einer Art Scham erfüllt, schloß sie diesmal fest hinter sich zu.

      Octave hielt sie für dämlich. Der Wagen störte ihn sehr, denn er war ihm beim öffnen seiner Tür hinderlich, und er mußte sich schräg in sein Zimmer zwängen. Aber seine Nachbarin schien gewonnen, zumal Herr Gourd dank Campardons Fürsprache gern diese Mißlichkeit hinten in diesem entlegenen Gang zuließ.

      Jeden Sonntag kamen Maries Eltern, Herr und Frau Vuillaume, um den Tag bei ihr zu verbringen. Als Octave am nächsten Sonntag fortging, erblickte er die ganze Familie beim Kaffeetrinken; und taktvoll beschleunigte er seine Schritte, da stand Herr Pichon, nachdem sich die junge Frau rasch zu seinem Ohr hinübergebeugt hatte, eilends auf und sagte:

      »Entschuldigen Sie, mein Herr, ich bin immer außer Hause, ich habe Ihnen noch nicht danken können. Aber mir liegt sehr daran, Ihnen zum Ausdruck zu bringen, wie glücklich ich war ...«

      Octave wehrte ab. Kurzum, er mußte eintreten. Obgleich er bereits Kaffee getrunken hatte, nötigte man ihn, eine Tasse anzunehmen. Um ihm eine Ehre zu erweisen, hatte man ihn zwischen Herrn und Frau Vuillaume gesetzt. Gegenüber, auf der anderen Seite des runden Tisches, überkam Marie wieder eine jener Anwandlungen von Verwirrung, die ihr alle Augenblicke ohne sichtlichen Anlaß alles Blut des Herzens ins Gesicht trieb. Er betrachtete sie, denn er hatte sie sich noch nie in aller Muße ansehen können. Aber sie war, wie Trublot zu sagen pflegte, nicht sein Ideal: er fand, sie sei dürftig, farblos, habe ein ausdrucksloses Gesicht, schütteres Haar, aber feine und hübsche Züge.

      Als sie sich ein wenig gefaßt hatte, lachte sie mehrmals leise und sprach wieder von dem Wagen, über den sie sich nicht genug auslassen konnte.

      »Jules, wenn du gesehen hättest, wie der Herr ihn auf seinen Armen davontrug ... Ach ja, das ging ruck, zuck!«

      Pichon bedankte sich abermals. Er war groß und mager, sah kränklich aus, war schon gebeugt vom maschinemäßigen Büroleben, und in seinen trüben Augen lag die stumpfsinnige Ergebenheit eines Schulpferdes.

      »O bitte! Reden wir nicht weiter davon«, sagte Octave schließlich. »Das ist wirklich nicht der Mühe wert ... Madame, Ihr Kaffee ist vorzüglich, ich habe niemals so guten Kaffee getrunken.«

      Sie errötete abermals, und zwar so heftig, daß selbst ihre Hände rosig wurden.

      »Setzen Sie ihr keine Flausen in den Kopf, mein Herr«, sagte Herr Vuillaume ernst. »Ihr Kaffee ist gut, aber es gibt besseren. Und Sie sehen ja, daß sie sich gleich etwas drauf eingebildet hat!«

      »Eingebildetsein taugt nichts«, erklärte Frau Vuillaume. »Wir haben sie stets zu Bescheidenheit ermahnt.«

      Beide waren sie klein und dürr, sehr alt und sahen grau im Gesicht aus; die Frau war in ein schwarzes Kleid gezwängt, der Mann trug einen dünnen Überrock, auf dem nur der Fleck eines breiten, roten Ordensbandes zu sehen war.

      »Herr Mouret«, fing Herr Vuillaume wieder an, »mir ist im Alter von sechzig Jahren an dem Tag das Kreuz der Ehrenlegion18 verliehen worden, als ich in Pension ging, nachdem ich neununddreißig Jahre lang Schriftführer im Unterrichtsministerium gewesen bin. Nun, mein Herr, an diesem Tag habe ich wie an allen anderen Tagen zu Abend gegessen, ohne daß mich Hochmut von meinen Gewohnheiten abgebracht hätte ... Das Kreuz stand mir zu, das wußte ich. Ich war lediglich von Dankbarkeit erfüllt.« Sein Dasein war klar, jedermann sollte es kennenlernen. Nach fünfundzwanzig Dienstjahren war sein Jahresgehalt auf viertausend Francs erhöht worden. Seine Pension betrug demnach zweitausend Francs. Da ihre kleine Marie aber erst spät zur Welt gekommen war, als Frau Vuillaume keine Kinder mehr zu bekommen hoffte, hatte er als Expedient mit fünfzehnhundert Francs wieder arbeiten gehen müssen. Jetzt, da das Kind versorgt war, lebten sie von der Pension, indem sie sich in der Rue Durantin auf dem Montmartre, wo das Leben weniger teuer war, mit einer kleinen Wohnung begnügten. »Ich bin sechsundsiebzig Jahre alt«, sagte er zum Abschluß, »und so istʼs eben, lieber Schwiegersohn, so istʼs eben!«

      Schweigsam und müde, die Augen auf seinen Orden geheftet, sah Pichon ihn an. Ja, das würde auch seine Geschichte sein, wenn das Glück ihm hold war. Er war der jüngste Sohn einer Obsthändlerin, die ihren Laden durchgebracht hatte, damit er das Abitur machen konnte, weil das ganze Stadtviertel ihm große Klugheit nachsagte; und acht Tage vor seinem Triumph an der Sorbonne19 war sie zahlungsunfähig gestorben. Nachdem er sich drei Jahre kümmerlich bei einem Onkel hatte durchschlagen müssen, hatte er das unverhoffte Glück gehabt, ins Ministerium eintreten zu können, das ihn zum Erfolg führen sollte und wo man ihm bereits zur Heirat verholfen hatte.

      »Man tut seine Pflicht, die Regierung tut die ihre«, murmelte er, während er die mechanische Rechnung aufstellte, daß er noch sechsunddreißig Jahre zu warten hatte, bis er mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde und zweitausend Francs Pension erhielt. Dann wandte er sich zu Octave: »Sehen Sie, mein Herr, eine Last sind vor allem die Kinder.«

      »Allerdings«, sagte Frau Vuillaume. »Hätten wir noch ein zweites bekommen, wären wir niemals ausgekommen ... Denken Sie deshalb auch daran, Jules, was ich verlangt habe, als ich Ihnen Marie zur Frau gab: ein Kind, nicht mehr, oder wir würden Ärger miteinander bekommen! Nur die Arbeiter hecken Junge, so wie die Hühner Eier legen, unbesorgt darum, was das mal kostet. Freilich lassen sie sie dann ja auch draußen rumlaufen; wahre Viehherden, die mich auf den Straßen anekeln.«

      Octave hatte Marie angeblickt, da er meinte, dieses heikle Thema werde ihre Wangen purpurrot färben. Aber sie blieb blaß, sie pflichtete ihrer Mutter mit der Seelenruhe eines unschuldigen Mädchens bei. Octave langweilte sich tödlich und wußte nicht, auf welche Art und Weise er sich entfernen sollte. So also pflegten diese Leute den Nachmittag in dem kleinen, kalten Eßzimmer zu verbringen, indem sie alle fünf Minuten langsam ein paar Worte kauten, in denen nur von ihren eigenen Angelegenheiten die Rede war. Selbst das Dominospiel fanden sie zu aufregend.

      Jetzt setzte Frau Vuillaume ihre Ansichten auseinander. Nach einem langen Stillschweigen, das allen vieren keinerlei Verlegenheit bereitete, als hätten sie das Bedürfnis verspürt, sich neue Gedanken zurechtzulegen, meinte sie:

      »Sie haben kein Kind, mein Herr? Das kommt noch ... Ach, es bedeutet Verantwortung, besonders für eine Mutter! Als die Kleine da geboren wurde, war ich neunundvierzig Jahre alt, mein Herr, ein Alter, in dem man sich glücklicherweise zu benehmen weiß. Ein Junge wächst ja noch von selbst auf, aber ein Mädchen! Und ich habe wenigstens den Trost, meine Pflicht getan zu haben, o ja!«

      Nun trug sie in kurzen Sätzen ihren Erziehungsplan vor. Zunächst einmal Ehrbarkeit. Keine Spielereien auf der Treppe, die Kleine stets zu Hause und sorgfältig beaufsichtigt halten, denn die Gassenmädel haben nur Schlechtigkeiten im Sinn. Die Türen geschlossen, die Fenster zu, nur kein Luftzug, der garstige Dinge von der Straße hereinbringt. Draußen keinesfalls die Hand des Kindes loslassen, es daran gewöhnen, die Augen niedergeschlagen zu halten, um jedem schlechten Anblick zu entgehen. In Sachen der Religion keine Übertreibung, gerade so viel, wie als sittlicher Kern notwendig ist. Wenn das Mädchen dann größer geworden, Hauslehrerinnen


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