2034. Stefan Koenig

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2034 - Stefan Koenig


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arbeiten, Klausi-Boy, dann können Sie machen, was Sie wollen. Aber hier bei mir, in Brigitte Möllers …“

      (Aha, so heißt Cisco-Kid in Wirklichkeit!)

      „… Autopsie-Raum, bauen Sie keinen Mist, sondern fangen mit dieser Schere an.“

      Autopsie-Raum. Sofort denke ich an einen Horror-Schriftsteller. Das ist’s! Endlich. Jetzt ist es heraus. Ein Autorenkollege, ein Experte in Sachen Horror, hat mich als Sezier- und Studienobjekt für seine Geschichte benutzt und entführen lassen. Schriftstellern traue ich jeden Mist zu, nur damit sie ihre Auflage steigern können. Ich bin sein Studienobjekt. Ich bin die Ratte auf dem Seziertisch. Scheiße.

      Noch einmal von vorne: Ich liege in einem Autopsie-Raum, vielleicht nackt in einem Leichensack, nur mein Gesicht schaut aus der Hülle, und meine braun-grünen Augen sind gezwungen, in das grelle Neonröhrenlicht zu starren. Meine Schmalzohren müssen das spielerische Schnipp-schnapp der Sezierschere hören, die gleich an meinem Körper zum Einsatz kommt. Und ich kann mich bei den ignoranten Pathologen nicht verständlich machen, obwohl es für jeden normalen Menschen wahrscheinlich wahrnehmbar wäre, dass ich noch lebe.

      Mensch Meier, sind das Experten!, denke ich wütend. Doch selbst die Wut bleibt irgendwo in mir stecken. Und dann schreie ich ganz laut: HALLO! HALLO! Aber die da draußen sind taub. Der einzige, der meinen Schrei hört, bin ich.

      Mir ist nach einer Gänsehaut am ganzen Körper zumute, aber natürlich passiert nichts; meine Haut bleibt glatt. Meine Gedanken kreisen noch kurz um Ben und eine unserer letzten Corona-Diskussionen. Es ging um Biontech, als das Unternehmen 2019, kurz vor der Pandemie, an der Börse Kapital einwarb. Laut Börsengesetz war es gezwungen, seine Investoren auf »die Risiken in Bezug auf unser Geschäft« hinzuweisen.

      Ben hatte mir daraus vorgelesen: „Keine mRNA-Immuntherapie wurde bisher zugelassen. Sie wird möglicherweise auch nie zugelassen. Die Entwicklung von mRNA-Arzneimitteln ist aufgrund der neuartigen und nie dagewesenen Kategorie von Therapeutika mit erheblichen klinischen Entwicklungs- und Zulassungsrisiken verbunden. Unsere Produktkandidaten könnten nicht wie beabsichtigt funktionieren, unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen oder andere Eigenschaften aufweisen, die ihre Zulassung verzögern oder verhindern.“

      Das also war Originalton Biontech.

      Innerlich seufze ich gerade, was aber außer mir niemand bemerkt. Ich bin es schon gewohnt. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Aber ich wehre mich mental gegen jenen Zustand, den man schlichtweg »Resignation« nennt.

      Plötzlich unterbricht mich das Dozentengefasel der Pathologin. „Denken Sie daran …“, sagt Dr. Möller (Cisco-Möller; Ärztinnen und Studienrätinnen tragen vorzugsweise Doppelnamen, wahrscheinlich weil sie auf eine Verdoppelung der Pensionsansprüche hoffen), „… jeder Dummkopf kann lernen, den Schalter einer Gigli-Säge zu betätigen und drauflos sägen ... Aber Handarbeit ist immer am besten.“ Ihr Tonfall klingt jetzt dozierend. „Okay?“

      „Okay“, bestätigt ihr Anlernling.

      Sie werden es tun. Sie werden mich aufschneiden – mit dieser verdammten Geflügelschere. Ich bin sicher, dass sie es im Namen meines Horror-Kollegen tun. Vielleicht haben sie anhand seiner Storys diesen abscheulichen Beruf gelernt. Vielleicht waren Horrorgeschichten in ihrem Studium sogar eine Lern- und Prüfungseinheit mit 100 Credit Points – inklusive einer Studienexkursion in irgendein Gruselhaus der Disney-Parks. Ich denke da an Phantom Manor.

      Ich muss irgendeinen Laut, irgendeine Bewegung machen, sonst tun sie‘s wirklich. Quillt oder spritzt gar nach dem ersten Schnitt mit der Schere Blut heraus, werden sie zwar wissen, dass irgendwas nicht in Ordnung ist, aber dann ist es sehr wahrscheinlich zu spät. Zu spät für mich. Dieses erste Schnipp-KNIRSCH wird passiert sein, und meine Rippen werden an meinen Oberarmen liegen, während unter den Leuchtstoffröhren und den entsetzten Blicken dieser sogenannten Pathologen mein Herz in seinem von Blut glänzenden Beutel wie wild um sich schlägt ...

      Gerade will ich mich auf meine Brust konzentrieren, um einen Schrei zu starten, da höre ich, wie sich die Druckluft-Tür mit diesem bekannten Zischen öffnet und die Ärztin begeistert ausruft: „Hi, Mr. King. Treten Sie ruhig näher, wir haben Sie bereits erwartet.“

      Ich höre näher kommende Schritte. Ich höre wie mein Namensvetter in gebrochenem Deutsch antwortet: „Wie göht es Öhnen? Darf ich?“

      Ich höre, wie Kleider abgelegt werden. Klausi-Boy wird von Dr. Möller vorgestellt.

      „Holen Sie bitte für Mr King die vorgeschriebene Kleidung, die Haube und den Mundschutz.“

      „Okay“, sagt Klaus und man hört eine blecherne Schranktür quietschen und ein Flüstern zwischen der unbekannten Ärztin und dem berühmten Schriftsteller. Dann rascheln Kleidungsstücke, das Flüstern hat aufgehört, und mehrere Schritte nähern sich meinem Tisch. Habe ich »meinem Tisch« gesagt? Das ist natürlich Quatsch, und das wissen Sie auch, verehrte Leserin, verehrter Leser. Es ist ein extra für Stephen King aufgebauter Seziertisch, an dem (aus mir) eine Extrawurst für ihn fabriziert wird – nur, damit seine Story glaubwürdiger klingt.

      Wie ich aus seiner Biografie weiß, spricht Stephen King ein mehr oder weniger gutes Schuldeutsch, so, wie man in Maine eben Deutsch lernt, ein breites Quark-quark-quark und die Verben als Substantiv.

      „Wo setzen Sie den Schnitt an?“

      („Woa sötzen sö dön Schneiden an?“ So etwa klingt sein Deutsch, ohne dass ich das dramatisch finde – unter anderem weil ich weiß, dass Sie, liebe Leser, ebenso wie ich der Überzeugung sind, dass er ansonsten hervorragend schreibt.)

      Dramatisch ist etwas ganz anderes. Dramatisch ist zum Beispiel meine ganz persönliche derzeitige Situation. Ich liege hilflos hier und kann nur im Entferntesten daran denken, jemals wieder eine Geschichte zu schreiben. Ich weiß, dass ich am Ende bin. Ist es das Ende der Geschichte, wie es der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama in einer wirren Analyse vor dreißig Jahren einmal feststellte?

      Ich zumindest will noch nicht am Ende sein, und deshalb konzentriere ich mich ganz auf meine Brust. Ich drücke oder versuche es zumindest ... Und höre etwas.

      Einen Laut!

      Ich habe einen Laut von mir gegeben!

      Er bleibt größtenteils in meinem geschlossenen Mund, aber ich kann ihn auch in meiner Nase hören und fühlen – ein leises Summen.

      Wäre das toll, wenn ich hier vor Stephen King aus dem Wachkoma erwache! Ich bin mir inzwischen ziemlich klar darüber, dass ich im Wachkoma liege, nur weiß ich nicht sicher, ob das mit jenem Impfstich zu tun hat. Aber das ist im Moment auch wirklich nebensächlich.

      Ich freue mich auf Kings Gesichtsausdruck, wenn ich mich plötzlich aufrichte, ihm die Hand reiche und ihm für sein Gesamtwerk danke. Ich konzentriere mich erneut, gebe mir größte Mühe, wiederhole den Vorgang und bringe diesmal einen Ton hervor, der etwas lauter ist und wie Zigarettenrauch aus meinen Nasenlöchern quillt: Nnnnnnn ...

      Jetzt muss ich an einen uralten Fernsehfilm von Alfred Hitchcock denken, den ich vor ewig langer Zeit gesehen habe, in dem Joseph Cotten nach einem Verkehrsunfall gelähmt war und den Ärzten schließlich durch eine einzige Träne zeigen konnte, dass er noch lebte. Zumindest hat dieser winzige, an ein Mückensirren erinnernde Nnnnnnn-Laut mir selbst bewiesen, dass ich lebe, dass ich nicht nur ein Überbleibsel des Pfingstgeistes bin, der sich noch in der irdischen Hülle meines eigenen toten Körpers aufhält.

      Außerhalb meiner Gedankenwelt höre ich die Schnippelärztin gerade etwas erklären: „Der Unterschied zur Rechtsmedizin, Mr King, ist folgender: Wir Pathologen machen Leichenöffnungen, wenn die Todesursache unklar, aber natürlich ist. Es wirkt vielleicht unlogisch, aber Pathologen dürfen nur sezieren, wenn eine natürliche Todesursache vorliegt. Gerichtsmediziner hingegen sezieren nur dann, wenn fremde Gewalt im Spiel gewesen sein könnte.“

      Als ich meine gesamte Konzentration bündle, kann ich spüren, wie Luft durch meine Nase und meine Kehle hinunterströmt, um den Atem zu ersetzen, den ich jetzt verausgabt


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