Anna Karenina. Leo Tolstoi

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Anna Karenina - Leo Tolstoi


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du Wronski schon lange?« fragte sie.

      »Ja. Weißt du, wir hoffen, daß er Kitty heiraten wird.«

      »Ja?« sagte Anna leise. »Nun, aber jetzt wollen wir von dir sprechen«, fügte sie hinzu und schüttelte mit dem Kopfe, als wollte sie durch diese Körperbewegung etwas verscheuchen, was sich ihr aufdrängte und sie störte. »Wir wollen von deinen Angelegenheiten sprechen. Ich habe einen Brief erhalten, und da bin ich nun hergekommen.«

      »Ja, ich setze auf dich meine ganze Hoffnung«, versetzte Stepan Arkadjewitsch.

      »Nun, so erzähle mir alles!«

      Und Stepan Arkadjewitsch begann zu erzählen.

      Als sie vor dem Hause angelangt waren, war er seiner Schwester beim Aussteigen behilflich, seufzte schwer, drückte ihr die Hand und begab sich nach sei nem Amtsgebäude.

      19

      Als Anna eintrat, saß Dolly in einem kleinen Wohnzimmer mit einem hellblonden, dickbäckigen Knaben zusammen, der schon jetzt seinem Vater sehr ähnlich sah, und hörte ihm seine Aufgaben aus dem französischen Lesebuche ab. Der Knabe las und drehte dabei mit den Fingern einen Knopf seiner Jacke herum, der kaum noch daran festhing, und bemühte sich, ihn ganz abzureißen. Die Mutter hatte ihm schon mehrere Male die Hand davon weggenommen; aber das dicke Händchen faßte immer wieder nach dem Knopfe. Die Mutter riß den Knopf ab und steckte ihn in die Tasche.

      »Du mußt die Hände still halten, Grigori«, sagte sie und griff wieder nach ihrer Decke, einer Arbeit, die sie schon vor langer Zeit angefangen hatte und die sie immer in schweren Stunden zur Hand nahm; auch jetzt häkelte sie nervös daran, indem sie bald mit dem Finger hin und her schlug, bald die Maschen zählte. Obgleich sie tags zuvor ihrem Manne hatte sagen lassen, daß es sie nichts weiter angehe, ob seine Schwester komme oder nicht, so hatte sie doch alles für ihre Ankunft vorbereitet und erwartete ihre Schwägerin in großer Aufregung.

      Dolly war von ihrem Kummer niedergebeugt und konnte kaum an etwas anderes denken. Aber dennoch überlegte sie, daß ihre Schwägerin Anna die Frau eines der einflußreichsten Männer in Petersburg und selbst eine Petersburger grande dame sei. Und infolgedessen brachte sie das, was sie ihrem Manne angekündigt hatte, nicht zur Ausführung, das heißt, sie ignorierte die Ankunft ihrer Schwägerin nicht. ›Schließlich hat ja Anna dabei keine Schuld‹, dachte Dolly. ›Ich weiß von ihr nur Gutes und habe persönlich von ihr nur Liebes und Freundliches erfahren.‹ Allerdings hatte ihr, soweit sie sich des Eindrucks erinnern konnte, den sie in Petersburg bei Karenins empfangen hatte, dieses Haus selbst nicht gefallen; in der gesamten Einrichtung ihres Familienlebens war ein gewisser Mangel an Offenheit spürbar gewesen. ›Aber warum sollte ich sie nicht empfangen? Wenn sie sich nur nicht beikommen läßt, mich trösten zu wollen!‹ dachte Dolly. ›Alle möglichen Trostgründe und Ermahnungen, und daß es Christenpflicht ist, zu verzeihen, das alles habe ich ja schon tausendmal überdacht; aber das alles hilft mir nichts.‹

      Alle diese Tage her war Dolly mit ihren Kindern allein gewesen. Mit jemandem über ihren Kummer reden, das mochte sie nicht, und mit diesem Kummer auf dem Herzen von anderen Dingen zu sprechen, dazu war sie nicht imstande. Aber sie wußte, daß sie Anna gegenüber auf die eine oder andere Weise dazu kommen werde, sich völlig auszusprechen, und bald freute sie der Gedanke daran, wie sie das alles aussprechen werde, bald war es ihr kränkend, daß sie über ihre Demütigung mit ihr, seiner Schwester, sprechen und von ihr billige tröstende und ermahnende Redensarten werde anhören müssen.

      Wie das oft vorkommt, erwartete sie sie, fortwährend nach der Uhr blickend, jeden Augenblick und verpaßte dabei gerade den Augenblick, da der Besuch kam, so daß sie das Klingeln nicht hörte.

      Anna war bereits in der Tür, als Dolly das Rascheln eines Frauenkleides und das Geräusch leichter Schritte hörte; sie blickte sich um, und auf ihrem abgehärmten Gesichte zeigte sich ein Ausdruck nicht sowohl der Freude wie der Überraschung. Sie stand auf und umarmte ihre Schwägerin.

      »Wie? Du bist schon da?« sagte Dolly und küßte sie.

      »Wie freue ich mich, dich wiederzusehen, Dolly!«

      »Ich freue mich auch«, antwortete Dolly mit einem schwachen Lächeln und suchte aus Annas Gesichtsausdruck zu erkennen, ob sie schon alles wisse. ›Sicherlich weiß sie es‹, dachte sie, als sie auf Annas Gesicht einen Ausdruck mitleidiger Teilnahme bemerkte. »Nun komm, ich will dich in dein Zimmer führen«, fuhr sie fort, bemüht, den Augenblick der Aussprache möglichst hinauszuschieben.

      »Ist das Grigori? Mein Gott, wie ist der Junge gewachsen!« sagte Anna und küßte ihn, ohne die Augen von Dolly abzuwenden. Sie blieb stehen und sagte errötend? »Ach, laß uns doch noch ein Weilchen hierbleiben!«

      Sie nahm das Tuch und den Hut ab, und da sie mit diesem an einer Strähne ihres schwarzen, durchweg lockigen Haares hängenblieb, so schüttelte sie mit dem Kopfe und machte dadurch das Haar wieder los.

      »Du strahlst ja nur so von Glück und Gesundheit!« sagte Dolly beinahe neidisch.

      »Ich? – O ja«, versetzte Anna. »Mein Gott, da ist ja Tanja!« wandte sie sich dem kleinen Mädchen zu, das hereingelaufen kam. »Sie ist ebenso alt wie mein Sergei«, fügte sie hinzu, nahm sie bei der Hand und küßte sie. »Ein reizendes Kind, ganz reizend! Du mußt mir deine Kinderchen alle zeigen.«

      Sie zählte sie auf und kannte nicht nur ihre Namen, sondern wußte auch ihr Alter nach Jahren und Monaten, und welchen Charakter ein jedes besaß, und welche Krankheiten die einzelnen durchgemacht hatten. Gegen dieses teilnehmende Interesse konnte Dolly ihr Herz nicht verschließen.

      »Nun, dann wollen wir zu ihnen gehen«, sagte sie. »Mein Wasili schläft leider gerade.«

      Nachdem sie die Kinder angesehen hatten, setzten sie sich, nun allein, im Wohnzimmer an den Kaffeetisch. Anna fingerte am Präsentierbrett umher und schob es dann von sich weg.

      »Dolly«, hob sie an, »er hat mit mir gesprochen.«

      Dolly wandte die Augen mit kaltem Blicke zu Anna hin. Sie erwartete jetzt erheuchelte Teilnahmsbezeigungen; aber Anna sagte nichts Derartiges.

      »Dolly, liebe Dolly«, fuhr sie fort, »ich will weder ihn zu verteidigen noch dich zu trösten suchen; das ist unmöglich. Ich will dir nur einfach sagen, daß du mir so leid tust, mein Herzchen, von ganzer Seele leid!«

      Unter den dichten Wimpern ihrer glänzenden Augen drängten sich Tränen hervor. Sie rückte näher an ihre Schwägerin heran und ergriff mit ihrer eigenen festen kleinen Hand die Dollys. Dolly rückte nicht von ihr weg; aber ihr Gesicht verlor seinen starren Ausdruck nicht. Sie erwiderte:

      »Mich zu trösten, ist unmöglich. Nach dem, was vorgefallen ist, ist alles verloren, alles zerstört!«

      Aber sobald sie das gesagt hatte, wurde der Ausdruck ihres Gesichtes plötzlich weicher. Anna hob die dürre, magere Hand Dollys in die Höhe, küßte sie und sagte:

      »Aber Dolly, was ist nun zu tun, was ist nun zu tun? Wie verhält man sich am besten in dieser schrecklichen Lage? Das ist's, was nun erwogen werden muß.«

      »Es ist alles zu Ende; weiter kann ich nichts sagen«, antwortete Dolly. »Und, weißt du, das allerschlimmste ist, daß ich ihn nicht verlassen kann, der Kinder wegen; ich bin gebunden. Aber mit ihm länger zusammenleben, das kann ich auch nicht; es ist mir eine Qual, ihn zu sehen.«

      »Dolly, liebe, gute Dolly, er hat es mir ja schon gesagt; aber ich möchte es doch auch von dir hören; bitte, sage mir alles!«

      Dolly blickte sie fragend an.

      Aufrichtige Teilnahme und herzliche Liebe waren auf Annas Gesicht zu lesen.

      »Nun gut!« sagte sie plötzlich. »Aber ich muß von vorn anfangen. Du weißt, wie ich heiratete. Bei der Art, in der mich maman erzogen hatte, war ich nicht nur unschuldig geblieben, sondern geradezu dumm. Ich wußte von nichts. Ich weiß, es heißt, daß die Männer ihren Frauen ihr Vorleben erzählen; aber Stiwa«, sie verbesserte sich, »Stepan Arkadjewitsch hat mir nichts gesagt.


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