Anna Karenina. Leo Tolstoi

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Anna Karenina - Leo Tolstoi


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dieser Gedanke hatte für ihn geradezu etwas Beleidigendes.

      Als Stepan Arkadjewitsch mit den Briefen fertig war, zog er die Akten zu sich heran, durchblätterte schnell zwei Sachen und machte darin mit einem großen Bleistift ein paar Bemerkungen. Darauf schob er die Akten wieder zur Seite und machte sich an seinen Kaffee; während des Kaffeetrinkens breitete er die noch feuchte Morgenzeitung auseinander und begann sie zu lesen.

      Stepan Arkadjewitsch hielt und las eine liberale Zeitung, nicht ein extremes Blatt, sondern von der Richtung, zu der sich die Mehrheit des gebildeten Publikums bekannte. Und obgleich weder Wissenschaft noch Kunst, noch Politik ihn sonderlich interessierten, so hielt er doch auf allen diesen Gebieten energisch an den Anschauungen fest, denen die Mehrheit und seine Zeitung anhingen, und änderte diese Anschauungen nur dann, wenn auch die Mehrheit das gleiche tat, oder, richtiger gesagt, er änderte sie nicht, sondern sie änderten sich von selbst unvermerkt in seinem Geiste.

      Stepan Arkadjewitsch wählte sich weder seine Grundsätze noch seine Ansichten aus, sondern diese Grundsätze und Ansichten kamen von selbst zu ihm, ganz ebenso, wie er die Formen seines Hutes oder seines Rockes nicht auswählte, sondern einfach die nahm, die allgemein getragen wurden. Und Ansichten zu haben, war für ihn, der in einem bestimmten gesellschaftlichen Kreise lebte und ein Verlangen nach einiger Denktätigkeit verspürte, wie es sich gewöhnlich in reiferen Lebensjahren herausbildet, – Ansichten zu haben, war für ihn ebenso eine Notwendigkeit, wie einen Hut zu haben. Wenn wirklich ein Grund vorhanden war, weshalb er die liberale Richtung der konservativen vorzog, der doch auch viele aus seinem Gesellschaftskreise anhingen, so lag dieser Grund jedenfalls nicht etwa darin, daß er die liberale Richtung für vernünftiger gehalten hätte, sondern darin, daß sie mit der Gestaltung seines eigenen Lebens mehr übereinstimmte. Die liberale Partei behauptete, in Rußland sei alles schlecht, und tatsächlich hatte Stepan Arkadjewitsch viele Schulden und konnte mit seinem Gelde absolut nicht auskommen. Die liberale Partei erklärte die Ehe für eine Einrichtung, die sich überlebt habe und unbedingt umgestaltet werden müsse, und wirklich machte das Eheleben Stepan Arkadjewitsch wenig Vergnügen und nötigte ihn dazu, zu lügen und sich zu verstellen, was doch seiner Natur sehr zuwider war. Die liberale Partei sagte oder, richtiger ausgedrückt, ließ als ihre Meinung durchblicken, daß die Religion nur ein Zügel für den ungebildeten Teil der Bevölkerung sei, und in der Tat vermochte Stepan Arkadjewitsch nicht einmal einen ganz kurzen Gottesdienst ohne Schmerzen in den Beinen auszuhalten und konnte gar nicht begreifen, was dieses ganze großartige, hochtrabende Gerede von jener Welt für einen Zweck habe, da es sich doch auch auf dieser Welt sehr vergnüglich leben lasse. Außerdem fand Stepan Arkadjewitsch, der ein munteres Späßchen liebte, seine Freude daran, ab und zu einen harmlosen Menschen durch Äußerungen wie diese zu verblüffen: wolle man den Stolz auf die Abstammung einmal gelten lassen, so sei es nicht recht, bei Rurik stehenzubleiben und den ersten Stammvater, den Affen, zu verleugnen. Auf diese Weise war die liberale Richtung für Stepan Arkadjewitsch eine Sache der Gewohnheit geworden, und er liebte seine Zeitung wie die Zigarre nach dem Mittagessen wegen der leisen Benommenheit, die sie in seinem Kopfe hervorrief. Heute las er den Leitartikel, in dem auseinandergesetzt wurde, daß in unserer Zeit völlig ohne Grund ein Jammergeschrei erhoben werde, als drohe der Radikalismus alle konservativen Elemente zu verschlingen und als sei die Regierung verpflichtet, Maßregeln zur Überwältigung der revolutionären Hydra zu ergreifen. »Ganz im Gegenteil«, hieß es, »liegt unserer Ansicht nach die Gefahr nicht in der vermeintlichen revolutionären Hydra, sondern in der Starrköpfigkeit der Reaktionäre, die jeden Fortschritt hemmen.« Auch einen zweiten Artikel, finanziellen Inhalts, las er durch, in dem Bentham und Mill zitiert wurden und einige gegen das Ministerium gerichtete boshafte Sticheleien vorkamen. Mit der ihm eigenen Schnelligkeit der Auffassung verstand er die Bedeutung einer jeden dieser Sticheleien, von wem sie ausging und gegen wen sie gerichtet war und welcher Anlaß ihr zugrunde lag, und das machte ihm, wie immer, ein gewisses Vergnügen. Indes wurde heute dieses Vergnügen durch die Erinnerung an Matrona Filimonownas Ratschläge und an die unerfreulichen Umstände im Hause stark beeinträchtigt. Er las auch, daß Graf Beust, wie verlaute, nach Wiesbaden gereist sei, und eine Anzeige: »Keine grauen Haare mehr!«, und über den Verkauf einer leichten Equipage, und daß ein junges Mädchen eine Stellung suche; aber diese Nachrichten bereiteten ihm nicht das stille, ironische Vergnügen wie früher.

      Als er mit der Zeitung, einer zweiten Tasse Kaffee und einer Buttersemmel fertig war, stand er auf, klopfte sich die Semmelkrümel von der Weste, reckte seine breite Brust und lächelte dabei heiter, nicht als ob ihm gerade besonders froh zumute gewesen wäre, vielmehr wurde das heitere Lächeln durch die gute Verdauung hervorgerufen.

      Aber dieses heitere Lächeln brachte ihm auch sofort wieder die ganze Wirklichkeit zum Bewußtsein, und er wurde ernst und nachdenklich.

      Zwei Kinderstimmen (Stepan Arkadjewitsch erkannte die Stimmen seines jüngsten Sohnes Grigori und seines ältesten Töchterchens Tanja) wurden vom Nebenzimmer her durch die Tür vernehmbar. Die Kinder fuhren mit etwas umher, und es fiel etwas auf den Fußboden.

      »Ich habe es dir doch gesagt: auf das Dach darfst du keine Fahrgäste setzen!« rief das kleine Mädchen auf englisch. »Nun kannst du sie auch aufheben!«

      ›Alles ist aus der gewohnten Ordnung gekommen‹, dachte Stepan Arkadjewitsch. ›Da laufen nun die Kinder ganz allein im Hause umher.‹ Er ging zur Tür und rief sie zu sich. Sie ließen die Schachtel, die einen Eisenbahnzug darstellte, liegen und kamen zu ihrem Vater herein.

      Das Mädchen, des Vaters Liebling, lief dreist herein, umarmte ihn und hängte sich ihm lachend an den Hals; sie freute sich wie immer über den ihr wohlbekannten Duft des Parfüms, den sein Backenbart ausströmte. Nachdem sie endlich sein von der gebückten Haltung gerötetes und von Zärtlichkeit strahlendes Gesicht geküßt hatte, löste sie die Arme von seinem Halse und wollte wieder weglaufen; aber der Vater hielt sie zurück.

      »Was macht Mama?« fragte er und strich mit der Hand über das glatte, zarte Hälschen seiner Tochter. »Guten Morgen!« sagte er lächelnd zu dem Knaben, der ihn begrüßte.

      Er war sich dessen bewußt, daß er den Knaben weniger liebte, und gab sich stets Mühe, die Kinder gleichmäßig zu behandeln; aber der Knabe empfand das und erwiderte das kalte Lächeln des Vaters seinerseits nicht mit einem Lächeln.

      »Mama? Die ist schon aufgestanden.«

      Stepan Arkadjewitsch seufzte.

      ›Da hat sie also wieder die ganze Nacht nicht geschlafen‹, dachte er.

      »Nun, und ist sie vergnügt?«

      Das kleine Mädchen wußte, daß es zwischen Vater und Mutter einen Streit gegeben hatte, und daß die Mutter nicht vergnügt sein konnte, und daß der Vater das wissen mußte, und daß er sich verstellte, wenn er so leichthin danach fragte. Und sie errötete für ihren Vater. Er verstand das sofort und errötete nun gleichfalls.

      »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Sie hat gesagt, wir sollten heute keinen Unterricht haben, sondern mit Miß Hull zu Großmama gehen«

      »Na, dann geh, meine liebe kleine Tanja! Ja so, warte noch mal«, sagte er, indem er sie doch noch zurückhielt und ihr zartes Händchen streichelte.

      Er nahm vom Kaminsims eine Schachtel Konfekt herab, die er gestern dahin gestellt hatte, und gab ihr zwei Stückchen; er wählte solche, die sie am liebsten aß: eine Schokoladenpraline und einen Fruchtbonbon.

      »Für Grigori?« fragte das Kind und zeigte auf die Praline.

      »Ja, ja!« Nochmals streichelte er ihr die Schulter und küßte sie auf die Stirn beim Haaransatz und auf den Hals; dann ließ er sie fort.

      »Der Wagen steht bereit!« meldete Matwei. »Es ist auch eine Bittstellerin da«, fügte er hinzu.

      »Ist sie schon lange hier?« fragte Stepan Arkadjewitsch.

      »Etwa ein halbes Stündchen.«

      »Wie oft habe ich dir befohlen, mir die Leute sofort zu melden!«

      »Sie müssen doch Ihren Kaffee in Ruhe trinken können«, erwiderte Matwei in einem freundlich-groben Tone, über den sein Herr nicht zornig werden konnte.


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