Kranichschwingen. G. K. Ruediger

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Kranichschwingen - G. K. Ruediger


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sie sich, ohne Einschränkung durch irgendwelche Seuchenschutzauflagen. Für sie, die Schöne, war das Aufeinandertreffen ein absoluter Glücksfall, ein Volltreffer wie das Knacken des Euro-Jackpots. Obwohl sie angesichts ihrer Lage sich das Lottospielen nicht leisten wollte, auch nicht konnte, traf sie das Glück unerwartet und genau zum richtigen Zeitpunkt. Als sie nicht mehr weiterwusste und ohne das gute Zureden ihrer Mutter längst aufgegeben hätte, alles hingeworfen. Amelia, die sie alle nur Melli riefen, sollte eine bessere Kindheit haben als sie selbst. Ihre eigene Kindheit wollte Anabelle keinesfalls, im Gegensatz zur Mutter, als rundum glücklich bezeichnen. Zwar gab es damals in der Pfälzer Kommune immer etwas zu essen, und auch Dope aus eigenem Anbau war zur Genüge vorhanden. Doch die zahlreichen Kinder, die nur mit Sicherheit sagen konnten, wer sie geboren hatte, dafür aber viele entspannte Väter um sich wussten, mussten auf vieles verzichten. Fernsehen zum Beispiel gab es nicht, Fleisch nur selten. Spielsachen waren Mangelware und heiß umkämpft.

      Melli sollte nicht in ähnlich knappen, beinahe prekären Kindheitsverhältnissen aufwachsen wie sie selbst. Anabelles eigene Kindheit besserte sich erst, als ihre Mutter endlich, nach der Auflösung der Gemeinschaft, sich gegen ein promiskuitives Leben und für den Meister der Steine entschied. Er wurde Anabelles Vater, schuf nach und nach einen bescheidenen Wohlstand.

      In ihrer jetzigen sorgenvollen Lage traf Anabelle genau im richtigen Augenblick auf ihn, ihr finales Glückslos in ein besseres, sorgenfreieres Leben ohne Angst vor dem Zustellungsbescheid des Amtsgerichts. Und eine strahlende Zukunft für Melli.

      Carl-Peter seinerseits empfand dieses Zusammentreffen, nachdem er die ersten Gefühlswirren aufgearbeitet und sich mit der für ihn ungewohnten Situation angefreundet hatte, ganz ähnlich wie sie: Belle, die von ihm, dem frankophonen Ästheten, liebevoll als seine Schöne tituliert wurde. Er konnte sich nicht sattsehen an ihr, an ihrem wunderbar gleichmäßigen, edlen, mit südländischem Teint verwöhnten Gesicht, dem üppig proportionierten Körper, der lockigen, tiefschwarzen Haarpracht und den großen, leuchtenden, dunklen, fast nachtschwarzen Augen, die wie eine einzige Verheißung auf ihn wirkten. Als eben Sechsunddreißigjährige war sie einst als Kind freier Liebe gezeugt worden, lernte erst spät den Wert eines stabilen Familiengerüstes schätzen, genoss die späte monogame Liebe zwischen ihrem Vater, einem letztlich nur regional bekannten Bildhauer, und ihrer Mutter, die als Siebzehnjährige damals in die Hippiekommune im dichtesten Pfälzer Wald auf der Flucht vor dem jederzeit schlagbereiten Stiefvater gefunden und den dreißig Jahre Älteren nach der Auflösung der auf Gemeineigentum basierenden Kommune für immer erobert hatte. Obwohl die Eltern ihre Antibürgerlichkeit auch nach der Flucht in die scheinbar kleinbürgerliche Idylle deutlich lebten und daher auch wie selbstverständlich nie geheiratet hatten, wurde nach der Auflösung der Kommune klar, dass Loris ihr Vater war, auch wenn die Mutter, Klara, in all den wilden Jahren keine Scheu kannte bei der Partnerwahl.

      Klara war es auch gelungen, Carl-Peter, den Großstadtbürger, dem in seinem bisherigen Leben alles Hippiemäßige schon immer zuwider gewesen war, ins kleine Restaurant zu lotsen, nachdem er sich auf dem Weg zum Wandern am Totenkopf auf den engen Sträßchen der Region vollkommen verfahren hatte. Sein Oldtimer-Jaguar besaß noch kein Navi, und am Smartphone wollte er nicht herumspielen während der Fahrt.

      Die großzügige Lichtung auf der Hochfläche bot ihm zum ersten Mal seit gefühlten zehn Stunden wieder volles Sonnenlicht, Hunger und Durst stellten sich automatisch ein, ein zweites Frühstück in dem rustikalen, aber gemütlichen kleinen Gastraum brachte ihn wieder in die Spur, zauberte ein erstes Lächeln auf sein Gesicht. Über sein Handy – man hatte hier sogar Netz – verständigte er seine Wandergruppe und entschloss sich kurzfristig, nach der Mahlzeit gekräftigt, eine kleine Tour allein hier oben zu machen. Eine Karte erhielt er am Tresen ausgehändigt. Vielleicht erwies sich das Alleinwandern als bessere Alternative. So musste er weder das Geschnatter der Society-Ladies in der Gruppe noch das selbstherrliche Angeben der ehemaligen Beraterkollegen mit ihren Erfolgsprojekten ertragen, konnte sich ganz auf sich selbst besinnen. Die Jagdgeilheit des Unternehmensberaters in Verbindung mit Brunftschreien moderner Jäger auf immer neue Erfolge hatte er endgültig abgestreift.

      Die urwüchsige Landschaft, Tannen und Kiefern von majestätischer Größe, die von gewaltigen Sandsteinfindlingen kreuz und quer umlagert waren, dazwischen uralte, stammrissige Buchen und Kastanien, gesäumt von üppig grünen Wiesen ohne jeden Weidezaun, weil sich hierher noch kein Rindvieh verirrt zu haben schien, klare, rieselnde Bäche, die jederzeit hinter einer Felswand oder einem mächtigen Kiefernstamm hervortreten konnten, um sanft, beinahe zärtlich auffordernd zu Tal zu plätschern, wo sie sich im Wiesengrund mit anderen zu einem breiten Bachbett zusammenfanden, vereinten, all das berührte ihn im Innersten stärker, als er es sich je vorzustellen gewagt hätte, und mit einem Mal spürte er, als er nach knapp vier Stunden Schuhe und Strümpfe auszog, um die heiß gewordenen Füße im frischen Bächlein zu kühlen, wie Tränen über sein Gesicht rannen, einzelne zunächst, dann immer mehr, und mit ihnen kam die Erinnerung an glückliche Kindertage auf dem Land, an den Kraichgauer Bauernhof der Großeltern, fernab von all dem Großstadtgetriebe, dem er sich später tagein, tagaus ausgesetzt sah.

      Er fühlte, dass sich da so vieles im Innersten aufgestaut hatte, dass es da so manche Seelenschutthalde gab, die nach außen drängte. Er wollte, er konnte es endlich zulassen, seiner Melancholie gehorchen. Was war das Leben? Eine einzige, vierspurige Erfolgsautobahn? Wohin sollte diese führen? Manager des Jahres? Was bedeutete das schon! Burnout, wie bei etlichen Kollegen? Arme Welt, die sich diesem Zeitgeist-Terror verschrieben hatte, wie die Maus in Kafkas Parabel ausweglos festsaß. Hier in dieser nahezu unberührten Natur konnte er sich zum ersten Mal nach langer Zeit, eigentlich seit Beas Weggang, wieder selbst spüren. Er hörte wieder, roch, fühlte – ein Panikorchester sinnlicher Wahrnehmung spielte ihm hier auf.

      Er hatte dieses sein Manager-Großstadtleben als Erwachsener nach dem VWL-Studium selbst gewählt, es lange Zeit angesichts seiner Verantwortung als selbstständiger Unternehmensberater für die wirklich großen Konzerne dieser Welt als optimal empfunden, schließlich war es zum Flughafen nie weit. Fliegen musste er praktisch jede Woche: London, Paris, Detroit, Bratislava, Singapur, Tokio. Man gewöhnte sich schnell an diesen Rhythmus, und Beate, seine Tanzstundenliebe, passte sich ihm dabei wunderbar an. Oft genug begleitete sie ihn in die Metropolen, wo sie dann noch zwei, drei Tage privat anhängen konnten. Zweifel kannte er nicht, empfand es lange als Befreiung, der ländlichen Abgeschiedenheit, der Kleinkrämermentalität entkommen zu sein. Zweifel kamen nie auf, jedenfalls so lange nicht, bis Beates plötzlicher Tod als Folge eines Aneurysmas im Gehirn ihm jäh den Boden dieser so gesichert scheinenden Existenz unter den Füßen wegzog, ihn mit zuvor nie gekannter Einsamkeit und Trostlosigkeit konfrontierte.

      Die Nachdenklichkeit übermannte ihn zum ersten Mal nach diesem gravierenden Einschnitt, eine nie zuvor erlebte Melancholie erfasste ihn wie eine ins Tal donnernde Lawine in den Alpen, nahm ihn unmittelbar nach Beates Beerdigung abrupt in Besitz. Urplötzlich, praktisch noch am mit brauner Erde angehäufelten Urnengrab, sah er nichts Vernünftiges mehr in seinem Tun, in seinen jahrelangen Optimierungs-, Rationalisierungs- und Kostendämpfungsprogrammen für die Global Player dieser künstlichen Welt, die in aller Regel mit Arbeitsplatzverlusten verbunden waren. Verlusten für die kleinen Leute, für die, welche am Fließband seine Ideen mit immer weniger Personal umsetzen durften.

      Alle waren überrascht, als er von heute auf morgen mit gerade sechzig Jahren ausstieg, auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Ersparnisse waren zur Genüge vorhanden: Aktienpakete, ein Nummernkonto in der Schweiz, drei Firmenbeteiligungen bei aufstrebenden Startups. Zum Leben für einen kinderlosen Privatier mehr als genug. Die nach Beas Tod überflüssigen Lofts in New York und London waren schnell lukrativ verkauft, die Villa in Thonon les Bains am Genfer See behielt er einstweilen, ebenso das Appartement in Bretten, dem letzten Stützpfeiler seiner nie zur Gänze vergessenen badisch-beschaulichen Herkunft. Er machte sich auf die Suche. Auf die strapaziöse Suche nach sich selbst, nach all dem in seinem Innersten, das er lange nicht mehr gefühlt hatte. Fühlen, das brachte ihm einst die Großmutter im Kraichgau bei, war essenziell für das seelische und körperliche Wohlbefinden. Nicht umsonst hatte sie ihn immer wieder alles Mögliche fühlen lassen, seine taktilen, olfaktorischen und geschmacklichen Sinne geschärft. Ein Hühnerküken fühlte sich zart an, forderte Behutsamkeit. Eine Fliederblüte konnte die Sinne betören. Und ein Blatt der frisch


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