Die unschuldige Königin. Hans-Peter Dr. Vogt
Читать онлайн книгу.hatte Elvira durchdringlich angesehen. „Nie, Elvira. Tu das nie. Wir dürfen das tun, wenn wir die Menschen in bestimmten Situationen empfänglich für Argumente machen müssen, so dass sie schwerwiegende Fehler unterlassen. Wir dürfen das tun, etwa um einen Krieg zu vermeiden, oder um eine Massenhysterie zu verhindern, die Todesopfer nach sich ziehen würde. Wir dürfen das aber nie tun, damit wir mehr Geld verdienen oder einen persönlichen Erfolg erringen, der unserer Eitelkeit dient. Rede dich nicht damit heraus, dass du nur deinem Freund hilfst und nicht dir selbst. Das steht auf derselben Verbotsstufe. Geh in den Tunnel. Suche nach diesem seltsamen Wesen, das mit uns sprechen kann, rede mit ihm und halte dich an seine Anweisungen. Überschreite diesen Grenzbereich nie !!!“
Der “schwarze Meister”. So nennt Elvira dieses Wesen, das sie noch nie zu Gesicht bekommen hat, das aber manchmal mit ihr in ihrer Weltsprache spricht. Er schwebt da irgendwo im Metaraum zwischen dem Leben auf der Erde und dem Nichts. Wenn man „in den Tunnel“ geht, der in diese andere Welt führt, kann man nie sicher sein, ob man diesen “schwarzen Meister” auch findet. Wenn es brenzlig wird, dann ist er immer zur Stelle, aber seine Auskünfte sind manchmal sehr schwer verständlich. Wie die Weissagungen der altgriechischen Götter und Hellseherinnen, dieser Nymphen, Sirenen oder wie die hießen. Manchmal sind die Auskünfte wie Rätsel.
Mit Tunnel ist diesmal auch nicht die Berliner U-Bahn-Tunnel gemeint, sondern der Tunnel, den Elvira rufen kann, um sich durch den Raum zu bewegen. Auch wenn sie durch den Raum springt, dann ruft sie diesen Tunnel, der es ihr möglich macht, in nur wenigen Sekunden um den halben Globus zu springen.
Laras Warnung war so eindringlich gewesen, dass Elvira wirklich erschrocken war und in sich ging.
Am Tag darauf hatte sie die Ratten in den Tunneln aufgesucht. Opa Leon hatte immer gesagt, „in vielen Dingen sind die Tiere viel klüger als wir. Versuche, von den Tieren zu lernen.“ Also war Elvira in den Tunnel zu den Ratten gestiegen. Die Ratten hatten schon an Elviras Geruch gemerkt, dass sie gerufen werden. Etwa 200 Ratten hatten sich eingefunden, dort in diesem Quergang, den Elvira manchmal benutzt, um mit den Ratten zu sprechen. Ja, sie bittet die Ratten oft um ihre Hilfe. Sie fragt sie aus nach Gefahren und nach Ereignissen im Tunnel. Die Ratten wissen alles darüber. Sie kennen das riesige verzweigte Netz unter Berlin viel besser als jeder Mensch. Elvira hat sich immer wieder dafür bedankt. Sie hat Essen gebracht und sie hat auch die Ratten mit Informationen versorgt.
Nun erzählt Elvira den Ratten, was Tante Lara ihr geraten hat. Sie ist mit dem Rücken an der Wand heruntergerutscht. Sie sitzt jetzt mit angewinkelten Beinen auf dem Boden des Querganges und sie hat ihre Hände nach vorne gestreckt. Die Anführer der Ratten sind ihr auf die Hände gesprungen und hören ihr aufmerksam zu.
„Ihr Menschen habt schon seltsame Gedanken“, meint Adonis (so nennt Elvira eine der männlichen Ratten, der eine sehr hohe Position im Clan einnimmt).
Er fährt fort: „Bei uns ist das einfacher. Wir Ratten sind alle eine Familie. Dennoch gibt es bei uns besonders kräftige und kluge Ratten, die erkämpfen sich ihre Position und führen den Clan an. Männchen und Weibchen. Alphatiere paaren sich gerne mit Alphatieren. Das erhält die Art. Wenn wir viel zu fressen haben, dann vermehren wir uns viel, und wenn es wenig zu fressen gibt, dann haben wir weniger Nachkommen. Das ist bei uns ein natürlicher Vorgang.“
Er fährt fort: „Ihr Menschen denkt anders. Ihr wollt alles ausbeuten und zerstören, in eurer Gier nach dem eigenen Profit. Ihr denkt nie daran, etwas zu erhalten, das die Art sichert. Denk an meine Worte. Das wird einmal der Untergang der Gattung Mensch sein. Ratten wird es noch geben, wenn einmal der letzte Mensch ausgestorben ist. Wir Ratten, wir denken langfristig.“
Er überlegt kurz. „Nun ja, vielleicht denken nur einige Ratten so, die Kräftigsten und Klügsten, die, die unsere Familien anführen, aber wir tragen alle dieses Gen in uns, das uns das Überleben sichert. Ihr Menschen sagt dazu „Instinkt“, aber es ist letztlich egal, wie man das nennt. Den meisten Menschen fehlt dieses Gen. Dein Großvater hat es, deine Tante Lara hat es, und die andern Großen in deiner Familie haben es auch. Sie haben die Fähigkeit, in die Zukunft zu denken. Es ist immer gut, auf die Alphatiere zu hören.“
Adonis macht eine kurze Pause, dann fragte er direkt, „was gewinnst du, wenn du jetzt diese Menschen so beeinflusst, dass sie alle in die Konzerte deines Freundes gehen und ihm zujubeln? Wird die Welt davon besser?“
Elvira muss unwillkürlich lachen, dann meint sie. „Oh weh, ich fürchte, ich muss noch viel lernen.“
„Das ist nicht weiter schlimm“, antwortet Adonis. „Du bist noch jung. Aber es ist gut zu wissen, dass man nicht alles weiß und das man lernt, auf die zu hören, die mehr wissen, als man selbst. Dein Großvater, der uns manchmal besucht und mit uns redet, der gebraucht gern dieses Wort von der Demut. Wir Ratten haben diese Demut. Wir wissen, wann wir uns dem Stärkeren unterwerfen müssen. Hör auf meine Worte und hör auf deinen Großvater und auf deine Tante Lara. Sie wissen, was Demut bedeutet.“
Plötzlich fiepst es von der Seite des Tunnels. Adonis springt von Elviras Händen, es gibt einen aufgeregten Knäul von Ratten, dann sind sie auf einmal verschwunden.
Elvira steht auf. Sie springt zurück zu Oma. Nur wenig später leuchten die starken Strahlen von zwei Taschenlampen durch den Quergang. Sie tanzen über die Wände und den Boden. Sie ertasten den Kot der Ratten, der dort liegt, und einer der Männer sagt: „Hier müssen wir mal den Kammerjäger herschicken, guck dir den Dreck an“. Elvira hat das schon nicht mehr gehört. Sie macht sich an diesem Abend noch lange Gedanken, dann spricht sie noch mal mit Lara.
Am Schluss nickt sie. „Die Ratten haben mir zu Demut geraten. Was ist denn darunter genau zu verstehen?“
1.3.
Das Gespräch ist nun schon ein paar Wochen her. Elvira hat noch viel darüber nachgedacht. Jetzt liegt sie hier mit Asha zusammen in einem Bett. Ach wie gut, dass gerade Sommerferien sind. Da kann sie all die Dinge tun, für die sie in der Schulzeit nicht genug Zeit und Kraft hat.
Wenige Wochen später erfasst sie diesen Hilferuf der quer über den Ozean zu ihrer Cousine Irina läuft. Irina, die dort in Brandenburg bei Großvater Leon lebt, zusammen mit ihrem Bruder Dimmy und ihrer gemeinsamen Mutter Vera.
Der Hilferuf ist nicht für Elvira bestimmt, aber sie hat ihn vernommen. Sie hat auch gespürt, dass Irina sofort in die USA springt und dass Opa Leon ihr am Abend folgt.
Leon.
Opa Leon kennt sie seit ihrer Geburt. Opa Leon ist wundervoll. Er ist mal in Berlin, mal in Brandenburg, mal Sachsen-Anhalt, in England, in den USA, oder in Südamerika, aber immer wenn er gebraucht wird ist er da. Elvira kann sich über Energieströme mit Opa Leon in Verbindung setzen, quer über den Ozean. Opa Leon hat viel Güte, aber er kann auch sehr streng sein.
Auf jeden Fall hat sie von ihm gelernt, sich in Alltagssituationen hervorragend zurechtzufinden. Er hat die Kraft der Familie, aber er pflegt stets zu sagen. „Nutze deine Kraft unauffällig. Sperre die Ohren und die Augen auf. Schärfe deinen Verstand. Versuche, die richtigen Worte und Argumente zu finden. Deine Kraft hilft dir dabei. Suche auch stets die Hilfe der Familie, wenn du nicht mehr weiter weißt.“
Opa Leon hatte 40 Jahre mit Oma Katharina zusammengelebt. Dann hatte er Oma Katharina verlassen. Er ist jetzt mit Vera zusammen, die viel jünger ist als Oma Katharina. Elvira war damals entrüstet gewesen. Sie hatte den Schmerz von Oma Katharina gespürt, als Leon mit Vera zum ersten Mal fremdging. Sie hatte die Qual gesehen, die Oma Katharina in diesen Tagen zerfraß. Aber Elvira hatte nicht helfen können. Dann hatte Tante Chénoa Oma Katharina abgeholt, und sie war mit ihr nach Peru gesprungen und wenige Tage später hatte Opa Leon mit seinen Energiestrahlen alle wichtigen Mitglieder der Familie zu einer Familienkonferenz nach Peru gerufen. Auch Elvira hatte dabei sein dürfen.
Opa Leon hatte sich vor der Familie rechtfertigt. Er hatte Vera liebgewonnen, und er