Synnöve Solbakken: Erzählung. Bjørnstjerne Bjørnson
Читать онлайн книгу.in den stillen Bergtälern hat die Kirche noch ihre besondre Sprache für jedes Alter, ihr besondres Aussehn für jedes Auge; vieles kann sich dazwischen aufgetürmt haben, nichts aber ragt über sie hinweg. Den Konfirmanden steht sie erhaben und vollkommen da – mit erhobnem Finger, halb drohend, halb winkend dem Jüngling, der seine Wahl getroffen hat; breitschultrig und stark über der Sorge des Mannes, geräumig und mild über dem müden Greise. Mitten während des Gottesdienstes werden die kleinen Kinder hereingetragen und getauft, und es ist bekannt, daß bei dieser Handlung die Andacht am größten ist.
Man kann deswegen norwegische Bauern – weder gute noch schlechte – nicht zeichnen, ohne irgendwo mit der Kirche in Berührung zu kommen. Das mag einförmig erscheinen, aber das ist vielleicht nicht das Schlimmste. Dies sei ein für allemal gesagt, und nicht einzig und allein wegen des Kirchenbesuchs, der nun folgt.
Thorbjörn war glücklich über den Gang zur Kirche und alles, was er sah; wunderlich viele Farben nahm sein Auge vor der Kirche in sich auf, er fühlte sich bedrückt durch die Stille drinnen, die auf allen und allem ruhte, ehe noch die Messe begonnen hatte; und obwohl er selber vergaß, den Kopf zu senken, als das Gebet verlesen wurde, war er doch wie gebeugt durch den Anblick mehrerer hundert gebeugter Köpfe. Der Gesang erschallte, und alle rings um ihn her sangen, sangen auf einmal, so daß es ihm fast ängstlich zumute wurde. So versunken saß er da, daß er wie aus einem Traum in die Höhe fuhr, als ihr Stuhl leise geöffnet wurde und jemand eintrat. Nachdem der Gesang beendet war, reichte der Vater dem Manne die Hand und fragte: »Geht alles gut auf Solbakken?«
Thorbjörn riß die Augen auf; aber soviel er auch starrte, war es ihm unmöglich, diesen Mann mit irgendeiner Art von Zauberei in Zusammenhang zu bringen. Es war ein freundlich aussehender, blonder Mann mit großen blauen Augen, hoher Stirn und stattlicher Haltung; er lächelte, wenn man ihn anredete, und sagte ja zu allem, was Sämund sagte, war aber sonst wortkarg. – »Da kannst du Synnöve sehn,« sagte der Vater, indem er sich zu Thorbjörn hinabbeugte, ihn auf sein Knie zog und nach dem ihnen gerade gegenüberliegenden Frauenstuhl zeigte. Da kniete ein kleines Mädchen oben auf der Bank und sah über die Seitenlehne des Kirchstuhls herüber; sie war noch blonder als der Mann, so blond, wie er nie etwas Ähnliches gesehn hatte. Sie hatte rote, flatternde Bänder an der Mütze, unter der das weißblonde Haar hervorguckte, und lachte zu ihm herüber, so daß er eine ganze Weile nichts andres ansehn konnte als ihre weißen Zähne. Sie hielt ein schimmerndes Gesangbuch in der einen Hand und ein zusammengefaltetes rotgelbes seidnes Taschentuch in der andern und ergötzte sich nun damit, daß sie das Tuch um das Gesangbuch wickelte. Je mehr er sie anstarrte, um so mehr lachte sie, und nun wollte auch er auf die Bank knien, so wie sie. Da nickte sie ihm zu. Er sah sie eine Weile ganz ernsthaft an, dann nickte auch er. Sie lachte und nickte noch einmal; er nickte zurück, und noch einmal und noch einmal; sie lachte, nickte aber nicht mehr – bis nach einer Weile, als er es schon vergessen hatte, da nickte sie.
»Ich will auch sehn!« hörte er eine Stimme hinter sich, und in demselben Augenblick fühlte er sich an den Beinen auf den Boden herabgezogen, so daß er beinahe gefallen wäre; es war ein vierschrötiger kleiner Bursche, der sich nun tapfer auf seinen Platz hinaufarbeitete; auch er hatte blondes, aber struppiges Haar und eine Stumpfnase. Aslak hatte Thorbjörn gelehrt, wie die bösen Jungen, mit denen er in der Kirche und in der Schule zusammentreffen würde, gehandhabt werden müßten; deswegen kniff denn Thorbjörn den Buben von hinten, so daß der schon laut aufschreien wollte, sich aber zusammennahm und statt dessen ganz geschwinde wieder von der Bank herabkroch und Thorbjörn bei beiden Ohren packte. Dieser faßte ihn beim Schopf und zwang ihn unter sich, noch schrie er nicht, biß aber Thorbjörn in den Schenkel; Thorbjörn zog sein Bein zurück und preßte das Gesicht des andern hart gegen die Erde. Da wurde er selber beim Rockkragen gepackt und wie ein Strohsack in die Höhe gehoben – es war der Vater, der ihn auf seinen Schoß setzte. »Wäre es nicht in der Kirche, so bekämst du Prügel,« flüsterte er ihm ins Ohr und drückte seine Hand so, daß es ihn bis in den Fuß schmerzte. Da fiel ihm Synnöve ein, und er sah wieder hinüber; sie stand noch da, aber so starr und entsetzt, daß ihm eine Ahnung davon aufging, daß das, was er getan hatte, etwas sehr Schlimmes sein müsse. Sobald sie merkte, daß er sie ansah, kroch sie auf die Bank hinab und war nicht mehr zu sehn.
Nun kam der Küster, und dann kam der Pfarrer: aufmerksam hörte und sah er sie an. Dann kam abermals der Küster und hinterdrein wieder der Pfarrer; aber noch immer saß er da auf dem Schoß des Vaters und dachte: »Ob sie wohl nicht bald wieder aufsehn wird?« Der Junge, der ihn von der Bank heruntergezogen hatte, saß auf einem Schemel weiter hinten im Stuhl, und jedesmal, wenn er aufstehn wollte, bekam er einen Puff in den Rücken von einem alten Manne, der auch dasaß und nickte, aber regelmäßig aufwachte, sobald der Junge Miene machte, aufzustehn. – »Ob sie wohl nicht bald herübersehn wird?« dachte Thorbjörn, und jedes rote Band, das er ringsumher flattern sah, und jedes bunte Bild in der alten Kirche war entweder ebenso groß oder ebenso klein wie sie. Ja, da hob sie den Kopf wieder hervor! Sowie sie ihn aber erblickte, zog sie ihn ernsthaft wieder zurück. – Noch einmal kamen der Küster und der Geistliche zum Vorschein, die Glocken läuteten, und man erhob sich. Der Vater sprach wieder leise mit dem blonden Manne; sie gingen zusammen hinüber nach dem Frauenstuhl, wo man sich ebenfalls erhoben hatte. Die erste, die heraustrat, war eine blonde Frau, die ebenso lächelte wie der Mann, aber doch etwas schwächer; sie war ganz klein und blaß und hielt Synnöve an der Hand. Thorbjörn eilte sofort geradeswegs auf sie zu; sie aber entzog sich ihm schnell und verkroch sich hinter dem Kleide ihrer Mutter. – »Laß mich,« sagte sie. – »Der da ist wohl noch nie in der Kirche gewesen,« sagte die blonde Frau und legte ihm die Hand auf den Kopf. – »Nein, deswegen prügelt er sich auch das erstemal, wo er drin ist,« sagte Sämund. Thorbjörn sah beschämt zu ihr auf und dann zu Synnöve, die ihm noch ernster erschien. Sie gingen alle hinaus, die Eltern im Gespräch miteinander, Thorbjörn aber hinter Synnöve her, die sich jedesmal, wenn er ihr näher kam, dichter an die Mutter herandrängte. Den andern Jungen sah er nicht mehr. Draußen auf dem Kirchenanger blieben sie stehn und begannen ein längeres Gespräch. Thorbjörn hörte mehrmals den Namen Aslak, und da er fürchtete, es könne bei dieser Gelegenheit auch ein wenig von ihm selber geredet werden, zog er sich zurück. – »Du brauchst das nicht zu hören,« sagte die Mutter zu Synnöve, »geh ein wenig beiseite, mein Herz – geh weg, sage ich dir.« Synnöve zog sich zögernd zurück. Jetzt näherte sich Thorbjörn ihr und sah sie an, und sie sah ihn an, und so standen sie eine ganze Weile da und betrachteten sich gegenseitig. Endlich sagte sie: »Pfui!« – »Weshalb sagst du pfui?« fragte er. – »Pfui!« sagte sie noch einmal. »Pfui, schäm dich,« fügte sie hinzu. – »Was habe ich denn getan?« – »Du hast dich in der Kirche geprügelt, und noch dazu während der Pfarrer vor dem Altare stand – pfui!« – »Ja, aber das ist schon lange her.« – Das leuchtete ihr ein, und nach einer Weile sagte sie: »Bist du der, der Thorbjörn Granliden heißt?« – »Ja; und bist du die, die Synnöve Solbakken heißt?« – »Ja. Ich habe immer gehört, du wärst ein so artiger Junge.« – »Nein, das ist nicht wahr, denn ich bin zu Hause der schlimmste von uns allen,« sagte Thorbjörn. – »So was habe ich doch noch nie gehört!« sagte Synnöve und schlug die kleinen Hände zusammen; »Mutter, Mutter – er sagt –« – »Schweig und geh weg,« entgegnete ihr die Mutter. Sie blieb stehn, wandte sich dann langsam um und kehrte rückwärtsgehend zurück, die großen, blauen Augen auf die Mutter gerichtet. – »Ich habe immer gehört, du wärst so artig,« sagte Thorbjörn. – »Ja, zuweilen, wenn ich recht fleißig gelernt habe,« erwiderte sie. – »Ist es wahr, daß es bei euch von Kobolden und Hexen und andern bösen Geistern wimmelt?« fragte er, stemmte den Arm in die Seite, setzte den einen Fuß vor und stützte sich auf den andern, wie er es von Aslak gesehn hatte. – »Mutter, Mutter, weißt du, was er sagt? Er sagt –« – »Laß mich in Frieden, hörst du, und komm nicht hierher, bis ich dich rufe.« – Sie mußte abermals langsam und rückwärtsgehend umkehren, sie nahm einen Zipfel ihres Taschentuchs in den Mund, biß darauf und zerrte daran. – »Ist es denn gar nicht wahr, daß da drüben in den Hügeln jede Nacht Musik gemacht wird?« – »Nein!« – »Hast du denn nie einen Kobold gesehn?« – »Nein!« – »Aber in Jesu Namen –« – »Pfui, das mußt du nicht sagen!« – »Ach was, das ist nicht schlimm,« sagte er und spuckte durch die Zähne, um ihr zu zeigen, wie weit er spucken könne. – »Ja, ja,« sagte sie, »denn sonst kommst du in